5. Kapitel
Am späten Abend bei Sonnenuntergang, noch immer in drückender Gluthitze, war Phoebe, das blonde Haar zu einem winzigen fransigen Pferdeschwanz hochgebunden, ein altes Hemd ihres Vaters in der Taille verknotet, das ständig drohte, ihr von den Schultern zu gleiten, die langen nackten Beine in abgeschnittenen Jeans, mit Auspacken fertig und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu bewundern. Nicht einmal zwei Wochen waren seit der Brainstorming-Sitzung im Muffin Man vergangen, und hier war sie nun wieder in der Winchester Road, um zu bleiben.
Indem sie im Wohnzimmer die Möbel umgestellt und Berge von Kissen hinzugefügt hatte, dazu einen kleinen Urwald aus Grünpflanzen sowie Duftkerzen auf allen Stellflächen, hatte sie die Nüchternheit der ursprünglich minimalistischen Einrichtung aufgelockert, wenn nicht gar vollständig vertrieben.
Doch die meiste Arbeit hatte sie in ihr Schlafzimmer – ihr neues Schlafzimmer – gesteckt.
Dank YaYas überkandidelter Deko-Ideen und Phoebes eigener Vorliebe für alles Barbiehafte war das zweite Zimmer in ein ausgesprochen weibliches Mädchenzimmer im Stil »Rosarot mit Spitze« verwandelt worden. Clemmie, die ein Wandgemälde mit Regenbogen und Feuerwerk in kräftigen Farben vorgeschlagen hatte, hatte entsetzt die Arme über dem Kopf zusammengeschlagen, als das Cremeweiß und die nüchterne Einrichtung des Gästezimmers durch rosa Zuckerwattewolken und Rüschen und Flitterkram ersetzt worden war, und gemeint, das sei ja für eine Zehnjährige vielleicht ganz nett, aber doch nicht einer Frau in Phoebes reifen Jahren angemessen.
Ein neues Himmelbett für zwei – weil YaYa darauf bestanden hatte, »nur für den Fall, dass du es dir in Sachen Männer eines Tages noch mal anders überlegst«, und weil Clemmie betont hatte, welch herrlicher Luxus es sei, diagonal schlafen zu können -, ein neuer Schrank, neue flauschige Läufer auf den Holzdielen und bodenlange Spitzenvorhänge an den Terrassenfenstern vervollständigten das Bild.
»Nuttige Lolita.« YaYa hatte anerkennend genickt. »Genau der richtige Stil für eine Frau, die eine grundlegende Wandlung wünscht. Hör nicht auf Clemmie, Phoebe. Es ist wirklich ein zauberhafter Raum, mit Blick auf den Garten. Viel hübscher als euer anderes Schlafzimmer an der Vorderseite des Hauses zur Straße raus. Und wenn du einen Untermieter nimmst, ist dein altes Schlafzimmer schon fix und fertig, alles hübsch neutral gehalten, sodass es für Jungs genauso passt wie für Mädchen.«
Während die wirbelwindartige Verschönerung ganz und gar Phoebes Idee gewesen war, hatten YaYa und Clemmie alles organisiert, unter lautstarker und weinseliger Mithilfe weiterer Freundinnen, insbesondere Amber und Sukie. Die Finanzierung stammte teils von Phoebes Eltern, die sich freuten, dass sie ihr Leben wieder in die Hand nahm. Der Rest war aus ihren eigenen Ersparnissen bezahlt worden, die in ihrem früheren Leben als Eigenkapital zum Immobilienkauf gedacht waren.
Die Umschreibung des Mietvertrages war noch müheloser vor sich gegangen.
 
»Ach, ja, richtig.« Das Mädchen in der Hausverwaltung, das ausgesehen hatte, als sollte sie besser zu Hause Teletubbies gucken, hatte beim Kaugummikauen innegehalten. »Wir wissen Bescheid.« Fachmännisch hatte sie sich durch ihre Computerdateien geklickt. »Vor etwa sechs Wochen haben wir einen Brief von Mr Phipps erhalten, mit der Miete für vier Monate im Voraus, Rückgabe seiner Schlüssel und der Ankündigung, dass der Mietvertrag im November auf eine alleinige Mietpartei umgeschrieben würde. Phoebe Bowler. Das sind Sie, richtig? Wir hätten Sie ohnehin zeitnah kontaktiert, aber so haben Sie uns die Mühe abgenommen. Haben Sie einen Ausweis dabei?«
Phoebe hatte genickt und selbigen hervorgeholt. »Gut.« Das Kaugummikauen war hektischer geworden. »So, der zweite Satz Schlüssel gehört jetzt Ihnen – falls Sie untervermieten wollen oder so. Das ist Ihnen laut Vertrag gestattet – lesen Sie ihn durch -, Ihr Risiko, nicht unseres. Okay?«
»Äh … ja … okay.«
»Mr Phipps’ Scheck wurde verrechnet, in Anbetracht der Umstände wohl eine Art Schuldgeld, wenn Sie mich fragen, von daher gibt es keine Probleme mit der Kaution, wir stellen eine neue Vereinbarung aus, mit Ihren Personalien und Ihrer Bankverbindung, Beginn ab November, und schicken sie Ihnen dann zu. Okay?«
Phoebe hatte wieder genickt, ihr schwirrte der Kopf, und eisige Kälte schloss sich um ihr Herz, denn diese neue Information bedeutete, dass Ben dies alles geplant hatte, was nun wiederum hieß, dass er ganz sicher nicht erst in letzter Minute kalte Füße bekommen hatte.
»Okay. Also unterschreiben Sie einfach hier und hier und hier – weitere Dokumente brauchen wir nicht von Ihnen, denn Sie haben ja schon alles vorgelegt, als Sie letztes Mal mit Mr Phipps hier waren, richtig?«
Phoebe hatte genickt wie eine Automatenpuppe.
»Kommt öfter mal vor.« Das Mädchen hatte seinen Kaugummi in die Backe geschoben. »Wir haben ständig solche Fälle. Trennungen. Kein Problem für uns, die Namen auf den Mietverträgen auszutauschen, wenn beide Parteien und der Besitzer einverstanden sind und der andere ohnehin schon mit im Vertrag steht, stimmt’s? Wir hätten Sie ja auch erst im November darum bitten müssen, stimmt’s? Nicht so einfach für denjenigen, der zurückbleibt. Mr Phipps hat ja wohl alles im Voraus geplant, was? Hat nichts dem Zufall überlassen. Wollte wohl weg.« Sie lächelte in schwesterlicher Solidarität. »Machen Sie weiter mit Ihrem Leben, und zum Teufel mit ihm, okay?«
 
Nun, dachte Phoebe an ihrem ersten Abend allein in der Wohnung, als sie die Terrassentüren öffnete, um die Abendluft hereinzulassen und den letzten Geruch frischer Farbe aus ihrem neuen Schlafzimmer zu vertreiben, genau das hatte sie vor. Tja, natürlich erst wenn sie ihr gebrochenes Herz geheilt und die Demütigung überwunden hätte.
Um ehrlich zu sein, hatte sie auch so genug im Kopf, ohne darüber nachzugrübeln, dass Ben schon seit Ewigkeiten geplant haben musste, sie zu verlassen, wenn er so umsichtig gewesen war, seinen Teil des Mietvertrages zu kündigen. Sie drängte diesen Gedanken in den Hintergrund, zusammen mit der Frage warum, und warum sie es nicht geahnt hatte, und konzentrierte sich darauf, die Anzeige wegen eines Untermieter zu formulieren, ein neues Haushaltsbudget auszuarbeiten, sich daran zu gewöhnen, zum ersten Mal seit sie fünfzehn war, Single zu sein, und die zusätzliche Arbeit zu bewältigen, die sie übernommen hatte.
Phoebe hatte erwartet, dass Pauline entsetzt auf die Idee reagieren würde, dass sie sich nebenbei etwas dazuverdiente – selbst wenn sie nur Kunden besuchte, die ohnehin nicht in der Lage waren, zu Cut’n’Curl zu kommen. Wieder hatte sie eine Überraschung erlebt.
 
»Also, das ist ja ein Ding.« Pauline hatte bei der Teepause vergnügt an einem eingetunkten Doppelkeks herumgeschlürft. »Zwei Dumme, ein Gedanke, wie es so schön heißt. Ich hatte eigentlich vor, dir einen ganz ähnlichen kleinen Vorschlag zu unterbreiten.«
»Ach ja?« Phoebe hatte vorsichtig einen durchweichten Keks mit ihrem Löffel herausgefischt. »Tatsächlich?«
Pauline hatte genickt. »Hatte ich vor. Diese schreckliche Joy Tugwell – du weißt schon, die, um Geld zu sparen, immer mittwochs zum Waschen und Legen zu den Lehrlingen für neunzehn achtzig kommt und hinterher rumnörgelt. Also, sie leitet Twilights – das Altersheim am Rand von Hassocks, das kennst du doch -, und scheinbar haben einige ihrer Bewohner ein bisschen den Aufstand geprobt, von wegen sie wollen mehr Programm, mehr Angebote, und einer der Punkte, den die Damen dort beanstandet haben, war, dass sie nicht rauskommen, um sich die Haare machen zu lassen und so. Also fragt Joy, um sie bei Laune zu halten, offenbar bei allen Firmen im Ort wie bei uns und bei Jennifer Blessings Schönheitssalon herum, ob wir nicht dort im Heim preisgünstige Hausbesuche machen wollen.«
»Und du hast zugesagt und mich vorgeschlagen? Ach, Pauline, das ist wirklich nett von dir. Vielen, vielen Dank.«
»Ja, aber nur wenn du möchtest, das weißt du ja. Das bringt zusätzliche Einkünfte sowohl für dich als auch natürlich für Cut’n’Curl, aber die Termine müssen wahrscheinlich hauptsächlich abends stattfinden, weil du tagsüber ja hier gebraucht wirst und …«
»Passt perfekt.« Phoebe hatte ihren restlichen Keks heruntergeschluckt. »Ich brauche etwas zu tun, um meine freie Zeit auszufüllen, und der Zusatzverdienst kommt mir gerade recht, ganz zu schweigen vom steigenden Umsatz für Cut’n’Curl, wovon wir ja beide profitieren. Außerdem geht es wahrscheinlich hauptsächlich um Waschen und Legen oder Dauerwellen, nicht wahr? Das Standardprogramm. Wann soll ich anfangen?«
»Nächste Woche, wenn es dir recht ist«, hatte Pauline erfreut geantwortet. »Ich gebe Joy Tugwell gleich Bescheid, dann kann sie es den Bewohnern mitteilen, und wir organisieren alles und machen einen Plan für deine Termine.«
 
So, dachte Phoebe, sie stand in der dunkler werdenden Türöffnung und atmete die Düfte von Jasmin und Geißblatt aus dem verblühenden Garten ein, während sie dem gluckernden Rauschen des Kennet auf seiner unablässigen Reise lauschte und in der allumfassenden Stille schwelgte, dies war also ihre erste Nacht hier allein. Die erste Nacht ihres restlichen Lebens – allein …
Würde sie es schaffen? Nun, sie tat ihr Bestes, aber es war sehr seltsam ohne Ben. So still. So einsam, in dem Wissen, dass er nicht nach Hause käme. Sie spürte ein Schluchzen in ihrem Hals aufsteigen und schluckte es schnell herunter.
Mach dir einen schönen Abend, ermahnte sie sich streng. Sei erwachsen. Gieß dir ein Glas Wein ein oder zwei, setz dich eine Weile in den Garten, schau dir irgendwas Anspruchsloses im Fernsehen an, geh zu Bett, wenn dir danach ist, und genieße es, in dieser herrlich friedlichen Ruhe allein zu sein. Sieh positiv in die Zukunft. Denk nicht über die Vergangenheit nach. Lass es einfach gut sein.
Leichter gesagt, als getan.
Gerade als sie in die Küche gehen wollte, um eine Flasche Chardonnay aus dem Kühlschrank zu holen, wurde die sanfte Stille unsanft durchbrochen, indem jemand die Haustür aufstieß. Ein lauter Fluch erklang, mit lautem Getöse polterte jemand die Treppe hinauf und versuchte unter weiterem Getöse – beim ersten Versuch offenbar vergeblich – die Tür der oberen Wohnung aufzuschließen, und dann, nachdem es geglückt war, folgte noch heftigeres Poltern, als jemand seine Sachen absetzte und über den Boden stampfte, dass bei Phoebe die Decke wackelte.
Mehrere weitere laute Plumpser zeigten an, dass etwas Schweres fallen gelassen wurde. Dann donnerten die Fußtritte wieder treppab.
Der Vorgang wiederholte sich noch zwei weitere Male, danach herrschte Stille. Phoebe, inzwischen beim zweiten Glas Wein, atmete erleichtert aus. Leider währte die Erleichterung nur kurz.
AC/DC dröhnte in ohrenbetäubender Lautstärke aus dem Obergeschoss, sodass nicht nur die Decke, sondern auch die Fenster und Phoebes ausgefranste Nerven erzitterten.
»Neeiiin«, stöhnte sie. »Keine neuen Nachbarn – keine lauten neuen Nachbarn! Nein – nicht ausgerechnet heute Abend – das ist so was von unfair!«
Während sie den Namen an ihrer Türklingel in »Bowler« geändert hatte, hatte Mindy an der oberen den Namen »Lancaster« belassen. Phoebe überlegte, wer die neuen Mieter waren, und wie der neue Name wohl lauten mochte. »Bescheuerte höllische Krachmacher« würde gut passen, dachte sie ärgerlich, packte die Weinflasche und das Glas und verzog sich in den abgeschiedenen Innenhof.
Doch draußen im Garten tönte der Krach von oben noch lauter als drinnen, also kehrte sie in die Wohnung zurück, kippte ein weiteres großes Glas Wein herunter und wartete zehn quälende Minuten lang ans Spülbecken gelehnt.
Der Lärmpegel steigerte sich, als zu der gedankenbetäubenden Musik von AC/DC noch Geräusche kamen, als würden sich dreizehn Sumo-Ringer eine Schlägerei liefern.
Genug war genug.
Gestärkt durch den Wein, und weil sie wusste, dass sie mit den neuen oberen Nachbarn nie auch nur halbwegs harmonisch würde zusammenleben können, wenn sie jetzt nicht den Anfängen wehrte, stürmte Phoebe die Treppe hinauf.
An die Tür zu klopfen, ging ihr auf, wäre ziemlich sinnlos. Niemand würde sie bei diesem Radau hören. Ebenso wenig nützlich wäre nachbarliches Huhu-Rufen.
Als sie entdeckte, dass die Wohnungstür nicht abgeschlossen, ja nicht einmal richtig zugezogen war, drückte Phoebe sie zögerlich auf.
Es sah aus, als hätte zeitgleich mit einem Mini-Hurrikan ein kleines Erdbeben stattgefunden, und dank Bon Scott und seinen Mitstreitern von AC/DC hörte es sich an, als bräche begleitet von einem Massengenozid unter den Bodendielen gerade ein Vulkan aus.
Mindys einst makellose Wohnung war ein Schauplatz völliger Verwüstung. Der Großteil der Einrichtung schien noch da zu sein, wenngleich zunehmend von einer Flut von Kleidern und Büchern und Schallplatten bedeckt, doch all ihr persönlicher Krimskrams war verschwunden, vermutlich ins Penthouse des süßen Airbus-Piloten. Halb offene Umzugskartons und große Pappschachteln waren überall verteilt, und der bunt gemischte Inhalt ergoss sich über den Fußboden.
Phoebe, die Unordnung jeder Art verabscheute, betrachtete voller Entsetzen das Wohnzimmer.
Da in diesem Raum von den neuen Bewohnern keine Spur zu sehen war, bahnte sie sich einen Weg durch das Chaos und drehte die Stereoanlage leiser, sodass sich Bon Scotts krächzender Gesang zu einem Flüstern senkte.
»Verdammtes Scheißding«, knurrte eine Stimme wutentbrannt aus dem Schlafzimmer. »Was ist denn jetzt los? Geht ständig aus … zum Teufel!«
Der Eigentümer der Stimme erschien in der Schlafzimmertür und starrte Phoebe an.
Phoebe starrte zurück.
»Wer zum Teufel sind Sie denn? Haben Sie meine Musik leiser gestellt? Was soll denn das?«
Phoebe blinzelte. Der attraktive Eigentümer der Stimme war herrlich groß und schlank, hatte kurzes dunkles Haar und noch dunklere zornig funkelnde Augen. Außerdem hatte er nichts an, abgesehen von einem Paar ausgewaschener Jeans.
»Entschuldigung, ja – aber ich wohne im Erdgeschoss und …«
Die zornigen dunklen Augen verengten sich. »Tun Sie das? Ich dachte, Sie wären ausgezogen? Mindy hat gesagt …«
Zwei und zwei ergab auf einmal vier. Phoebe schluckte. »Sie sind Rocky Lancaster?«
»Bin ich – und Sie sind Phoebe. Die sitzen gelassene Braut. Wir haben uns nie richtig kennengelernt, stimmt’s? Mindy hat gesagt, Sie ziehen aus.«
»Mindy hat gesagt, Sie wären schon ausgezogen.«
»Tja, was hätte sie denn sonst auch sagen sollen.«
Phoebe wurde sich plötzlich brennend heiß ihrer kurzen Shorts und ihres schulterfreien Hemds bewusst und schluckte. »Ich bin wieder eingezogen. Sind Sie denn nicht ausgezogen?«
Rocky Lancaster machte ein finsteres Gesicht und schüttelte den Kopf. »Ich ziehe auch wieder ein. Sortiere gerade meine Sachen. Mache das hier wieder zu meinem Zuhause. Also, was zum Teufel fällt Ihnen ein, meine Musik leiser zu stellen?«
»Bei mir fiel schon der Putz von der Decke.« Phoebe erwiderte das finstere Gesicht. »Ich wollte im Garten ein wenig Ruhe und Frieden genießen. Ich wusste nicht, dass Sie es sind – aber hauptsächlich dachte ich, ich komme mal rauf und sage den neuen Nachbarn Hallo und bitte sie, etwas leiser zu sein.«
Rock zuckte die Achseln. »Na schön – vielleicht war es ein bisschen laut. Aber ich habe es genossen, meine eigene Musik zu hören, anstelle von Mindys ewigem Take That, Boyzone und Westlife, und das hier ist mein Zuhause. Ich kann Sie gleich warnen, ich mag nicht nur AC/DC – ich habe auch ganze CD-Ständer voll mit Deep Purple und Rainbow und dergleichen. Ich habe sogar einiges davon auf originalen Vinyl-Schallplatten, da kriegen Sie es dann laut und verzerrt zu hören. Irgendwelche Einwände?«
Phoebe, deren Musikgeschmack eher dem von Mindy ähnelte, und deren Kenntnisse in Sachen Oldie-Rock ziemlich bescheiden waren, schüttelte den Kopf.
»Gut«, sagte Rocky, ohne zu lächeln. »Zumindest wären damit die grundsätzlichen Regeln geklärt. Leben und leben lassen, okay? Obwohl ich zugeben muss, dass ich an meinem ersten Abend daheim nun wirklich nicht gleich mit einem Besuch von der Radau-Polizei gerechnet hätte.«
»Es betrifft ja aber nicht nur mich! Was ist denn mit den anderen Nachbarn in der Winchester Road? Die sitzen in einer heißen Nacht wie heute sicher auch gerne im Garten oder haben die Fenster auf und …«
»Die meisten sind doch steinalt und vermutlich stocktaub«, brummte Rocky. »Aber gut, wahrscheinlich war es wirklich ein bisschen laut. Ich dreh den Ton leiser – okay?«
»Okay. Danke.« Eingedenk der vielen lautstarken Auseinandersetzungen, die sie mit angehört hatte, und der Hinweise, die Mindy über Rockys jähzorniges Temperament hatte fallen lassen, trat Phoebe den Rückzug in Richtung Tür an. »Und wie Sie sagten, wenn wir Nachbarn sind, müssen wir eben Rücksicht nehmen und uns aufeinander einstellen.«
»Müssen wir das? Soll das etwa eine Drohung sein, dass Sie dann sonntagmorgens, wenn ich einen höllischen Kater habe, in voller Lautstärke James Blunt laufen lassen?«
Phoebe fand, er sah noch immer sehr zornig und ziemlich bedrohlich aus. Wenn Rocky, wie Mindy angedeutet hatte, leicht handgreiflich wurde, sollte sie die Situation tunlichst entschärfen. Sich mit ihm anzulegen, wäre keine gute Idee.
»Nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss, aber das ist schließlich alles eine Frage der Ausgewogenheit von Geben und Nehmen …«
Rocky lachte. Es klang weder fröhlich noch freundlich. »Geben und Nehmen? Dem Ergebnis nach zu schließen, hatten wir in unseren letzten Beziehungen wahrscheinlich beide von Ersterem zu viel und von Letzterem zu wenig, meinen Sie nicht? Bedaure, aber ich habe vor, für den Rest meines Lebens ein selbstsüchtiger, egoistischer, ichbezogener Mistkerl zu sein.«
Na toll, dachte Phoebe. Ich werde das Haus mit einem gewalttätigen Egomanen teilen. Das hast du ja prima hingekriegt, Phoebe.
Sie ging weiter langsam rückwärts und erreichte die offene Tür. »Ich kann es Ihnen nicht verdenken, dass Sie verbittert sind. Mindy hat gesagt …«
»Es kümmert mich einen Dreck, was Mindy gesagt hat.« Rocky machte ein eindeutig unfreundliches Gesicht. »Geben Sie nichts auf hohles Geschwätz. Ganz sicher hat sie Ihnen lang und breit erklärt, dass es an meiner verlängerten Abwesenheit lag, dass sie anderweitig nach, äh, Vergnügen suchen musste.«
»Nein, eigentlich nicht. Sie hat mir gar nichts erklärt. Und ja, ich weiß, dass Sie viel weg waren, aber ich bin einfach davon ausgegangen, dass Sie als Flugbegleiter, wie Mindy, oft auf verschiedenen Flügen arbeiten. Ich mach mir nichts aus Klatsch und Tratsch. Davon höre ich bei der Arbeit schon mehr als genug.«
»Ach ja. Im Friseursalon – sehen Sie, ich weiß etwas über Sie. Ich habe mich ab und zu mit Ben unterhalten, wenn wir beide im Faery Glen auf unsere Bestellung gewartet haben. Ich persönlich finde es ja schade, dass er abgehauen ist. Ganz schön feige von ihm. Er hätte es Ihnen ins Gesicht sagen sollen.«
»Ja, das hätte er.« Phoebe kämpfte gegen den Drang an, Bens Verhalten zu verteidigen, und fragte sich auf einmal, was er Rocky am Tresen des Faery Glen sonst noch über sie oder ihre Beziehung erzählt haben mochte. »Und ich kann Sie beruhigen, über Sie weiß ich nichts weiter, als …«
»Als dass ich mehr Zeit unterwegs verbringe als zu Hause, und dass Mindy und ich bei den seltenen Gelegenheiten, wenn wir beide gleichzeitig Bodenurlaub hatten, uns wie Hund und Katze gestritten haben? Kommen Sie schon, Sie müssen unsere Kräche doch mit angehört haben.«
»Ja, schon, aber …«
»Mit Mindy zusammenzuleben war die Hölle – und ich war auch nicht besser. Wir hätten nie im Leben ein Paar werden sollen. Eigentlich war hauptsächlich Geilheit dafür verantwortlich.«
Phoebe fand keine Antwort auf diese Bemerkung, die sie nicht in größte Schwierigkeiten gebracht hätte, und zuckte daher nur die Achseln. »Ich schätze, wir müssen beide vieles grundsätzlich anders machen, jetzt, wo wir wieder Singles sind.«
»Was ich für den Rest meines Lebens zu bleiben gedenke, und was außerdem bedeutet, dass Sie in Ihrer Wohnung bleiben, und ich in meiner. Weitere Grundsatzregel: Ich will weder bemitleidet noch irgendwie bemuttert werden. Auch Freundschaft will ich nicht. Verstanden? Wir wohnen im gleichen Haus, aber jeder für sich, und so soll es auch bleiben. Nur weil wir beide sitzen gelassen wurden, heißt das noch lange nicht …«
»Himmel noch mal! Sie sind ja vielleicht arrogant!« Phoebe vergaß ganz, ihn mit Samthandschuhen anzufassen, um keinen Kinnhaken zu riskieren. »Ich lasse Sie nur zu gerne in Ruhe. Ich habe weit Besseres zu tun, als alle fünf Minuten hier hochzurennen, um zu prüfen, ob Sie AC/DC gegen Coldplay ausgewechselt und sich die Pulsadern aufgeschlitzt haben.«
»Wozu ich durchaus Lust kriegen könnte – insbesondere, wenn zu der Musikmischung noch Radiohead dazukäme. Allerdings kann ich Ihnen versichern, dass ich momentan nicht im Geringsten selbstmordgefährdet bin. Nur reichlich angepisst darüber, dass ich im zarten Alter von zweiunddreißig Jahren noch mal ganz von vorne anfangen muss.«
Das konnte Phoebe durchaus nachfühlen, aber sie hatte nicht vor, es auszusprechen. »Immerhin haben wir beide nach wie vor ein Dach über dem Kopf und einen Job, um die Rechnungen zu bezahlen und …«
»Abgedroschene Phrasen!«, knurrte Rocky. »Ihnen mag es ja ganz gut gehen, mit Ihrem kleinen Friseurjob und Ihren Freundinnen und Ihren liebenden Eltern, aber ich stehe wieder hier und habe nichts von alledem.«
Ach je, jetzt wird er sentimental, dachte Phoebe. Aggressiv und weinerlich. Tolle Kombination.
»Aber Sie haben doch immerhin Ihren Job, und zwar einen wirklich großartigen Job. Reisen um die ganze Welt, Aufenthalt in exotischen Ländern, Sie sehen Orte, von denen Menschen wie ich nur träumen können…«
»Mein Job?« Wieder klang Rockys Lachen wie ein zorniges Keuchen. »Sie haben wirklich keinen Schimmer, was? Ich arbeite schon seit Ewigkeiten nicht mehr als Steward. Ich bin gefeuert worden. Es wundert mich wirklich, dass Mindy Ihnen nicht all die pikanten Details genüsslich aufs Brot geschmiert hat.«
»Tja, hat sie nicht.« Phoebe verkniff sich zu sagen, dass Mindy das wahrscheinlich gern getan hätte, wenn sie nicht durch einen Telefonanruf unterbrochen worden wären. »Tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie Ihren Job verloren haben, ich dachte, Sie wären noch immer …«
Rocky schüttelte den Kopf. »Der wahre Grund, warum Sie mich hier in letzter Zeit nicht gesehen haben, ist derselbe, den Mindy zum Vorwand genommen hat, um mich zu verlassen.«
Ein Airbus-Pilot, auch bei ihm? War Rocky ein verkappter Schwuler? Falls ja, hätte YaYa gar nicht mal so falsch gelegen.
Rocky fuhr fort. »Ja, wie Sie sich wohl gedacht haben, war ich fort. Aber nicht, um Plastikmenüs an Touristen zu verteilen oder mich an abgelegenen Stränden zu sonnen. Weit entfernt davon – die Fluggesellschaft konnte mich gar nicht schnell genug loswerden. Irgendwie wollten sie keinen Steward, der wegen GKV verurteilt wurde.«
GKV? GKV?
»Ist schon komisch.« Rocky klang alles andere als amüsiert. »Verstehe gar nicht, warum. Bestimmt haben sie befürchtet, ich könnte mit dem Plastikbesteck auf die Passagiere losgehen.«
»Was?« Phoebe furchte erneut die Stirn, das Herz rutschte ihr bis zu den Sohlen ihrer Flipflops. »GKV? Sie meinen …«
»Jawohl. Gefährliche Körperverletzung. Jemanden grün und blau schlagen. Ich bin gerade aus dem Gefängnis entlassen worden.«