5.
Kapitel
Am
späten Abend bei Sonnenuntergang, noch immer in drückender
Gluthitze, war Phoebe, das blonde Haar zu einem winzigen fransigen
Pferdeschwanz hochgebunden, ein altes Hemd ihres Vaters in der
Taille verknotet, das ständig drohte, ihr von den Schultern zu
gleiten, die langen nackten Beine in abgeschnittenen Jeans, mit
Auspacken fertig und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu
bewundern. Nicht einmal zwei Wochen waren seit der
Brainstorming-Sitzung im Muffin Man
vergangen, und hier war sie nun wieder in der Winchester Road, um
zu bleiben.
Indem sie im Wohnzimmer die Möbel umgestellt und
Berge von Kissen hinzugefügt hatte, dazu einen kleinen Urwald aus
Grünpflanzen sowie Duftkerzen auf allen Stellflächen, hatte sie die
Nüchternheit der ursprünglich minimalistischen Einrichtung
aufgelockert, wenn nicht gar vollständig vertrieben.
Doch die meiste Arbeit hatte sie in ihr
Schlafzimmer – ihr neues Schlafzimmer – gesteckt.
Dank YaYas überkandidelter Deko-Ideen und Phoebes
eigener Vorliebe für alles Barbiehafte war das zweite Zimmer in ein
ausgesprochen weibliches Mädchenzimmer im Stil »Rosarot mit Spitze«
verwandelt worden. Clemmie, die ein Wandgemälde mit Regenbogen und
Feuerwerk in kräftigen Farben vorgeschlagen hatte, hatte entsetzt
die Arme über dem Kopf zusammengeschlagen, als das Cremeweiß und
die nüchterne
Einrichtung des Gästezimmers durch rosa Zuckerwattewolken und
Rüschen und Flitterkram ersetzt worden war, und gemeint, das sei ja
für eine Zehnjährige vielleicht ganz nett, aber doch nicht einer
Frau in Phoebes reifen Jahren angemessen.
Ein neues Himmelbett für zwei – weil YaYa darauf
bestanden hatte, »nur für den Fall, dass du es dir in Sachen Männer
eines Tages noch mal anders überlegst«, und weil Clemmie betont
hatte, welch herrlicher Luxus es sei, diagonal schlafen zu können
-, ein neuer Schrank, neue flauschige Läufer auf den Holzdielen und
bodenlange Spitzenvorhänge an den Terrassenfenstern
vervollständigten das Bild.
»Nuttige Lolita.« YaYa hatte anerkennend genickt.
»Genau der richtige Stil für eine Frau, die eine grundlegende
Wandlung wünscht. Hör nicht auf Clemmie, Phoebe. Es ist wirklich
ein zauberhafter Raum, mit Blick auf den Garten. Viel hübscher als
euer anderes Schlafzimmer an der Vorderseite des Hauses zur Straße
raus. Und wenn du einen Untermieter nimmst, ist dein altes
Schlafzimmer schon fix und fertig, alles hübsch neutral gehalten,
sodass es für Jungs genauso passt wie für Mädchen.«
Während die wirbelwindartige Verschönerung ganz
und gar Phoebes Idee gewesen war, hatten YaYa und Clemmie alles
organisiert, unter lautstarker und weinseliger Mithilfe weiterer
Freundinnen, insbesondere Amber und Sukie. Die Finanzierung stammte
teils von Phoebes Eltern, die sich freuten, dass sie ihr Leben
wieder in die Hand nahm. Der Rest war aus ihren eigenen
Ersparnissen bezahlt worden, die in ihrem früheren Leben als
Eigenkapital zum Immobilienkauf gedacht waren.
Die Umschreibung des Mietvertrages war noch
müheloser vor sich gegangen.
»Ach, ja, richtig.« Das Mädchen in der
Hausverwaltung, das ausgesehen hatte, als sollte sie besser zu
Hause Teletubbies gucken,
hatte beim Kaugummikauen innegehalten. »Wir wissen Bescheid.«
Fachmännisch hatte sie sich durch ihre Computerdateien geklickt.
»Vor etwa sechs Wochen haben wir einen Brief von Mr Phipps
erhalten, mit der Miete für vier Monate im Voraus, Rückgabe seiner
Schlüssel und der Ankündigung, dass der Mietvertrag im November auf
eine alleinige Mietpartei umgeschrieben würde. Phoebe Bowler. Das
sind Sie, richtig? Wir hätten Sie ohnehin zeitnah kontaktiert, aber
so haben Sie uns die Mühe abgenommen. Haben Sie einen Ausweis
dabei?«
Phoebe hatte genickt und selbigen hervorgeholt.
»Gut.« Das Kaugummikauen war hektischer geworden. »So, der zweite
Satz Schlüssel gehört jetzt Ihnen – falls Sie untervermieten wollen
oder so. Das ist Ihnen laut Vertrag gestattet – lesen Sie ihn durch
-, Ihr Risiko, nicht unseres. Okay?«
»Äh … ja … okay.«
»Mr Phipps’ Scheck wurde verrechnet, in Anbetracht
der Umstände wohl eine Art Schuldgeld, wenn Sie mich fragen, von
daher gibt es keine Probleme mit der Kaution, wir stellen eine neue
Vereinbarung aus, mit Ihren Personalien und Ihrer Bankverbindung,
Beginn ab November, und schicken sie Ihnen dann zu. Okay?«
Phoebe hatte wieder genickt, ihr schwirrte der
Kopf, und eisige Kälte schloss sich um ihr Herz, denn diese neue
Information bedeutete, dass Ben dies alles geplant hatte, was nun wiederum hieß, dass er ganz
sicher nicht erst in letzter Minute kalte Füße bekommen
hatte.
»Okay. Also unterschreiben Sie einfach hier und
hier und hier – weitere Dokumente brauchen wir nicht von Ihnen,
denn Sie haben ja schon alles vorgelegt, als Sie letztes Mal mit Mr
Phipps hier waren, richtig?«
Phoebe hatte genickt wie eine
Automatenpuppe.
»Kommt öfter mal vor.« Das Mädchen hatte seinen
Kaugummi in die Backe geschoben. »Wir haben ständig solche Fälle.
Trennungen. Kein Problem für uns, die Namen auf den Mietverträgen
auszutauschen, wenn beide Parteien und der Besitzer einverstanden
sind und der andere ohnehin schon mit im Vertrag steht, stimmt’s?
Wir hätten Sie ja auch erst im November darum bitten müssen,
stimmt’s? Nicht so einfach für denjenigen, der zurückbleibt. Mr
Phipps hat ja wohl alles im Voraus geplant, was? Hat nichts dem
Zufall überlassen. Wollte wohl weg.« Sie lächelte in
schwesterlicher Solidarität. »Machen Sie weiter mit Ihrem Leben,
und zum Teufel mit ihm, okay?«
Nun, dachte Phoebe an ihrem ersten Abend allein in
der Wohnung, als sie die Terrassentüren öffnete, um die Abendluft
hereinzulassen und den letzten Geruch frischer Farbe aus ihrem
neuen Schlafzimmer zu vertreiben, genau das hatte sie vor. Tja,
natürlich erst wenn sie ihr gebrochenes Herz geheilt und die
Demütigung überwunden hätte.
Um ehrlich zu sein, hatte sie auch so genug im
Kopf, ohne darüber nachzugrübeln, dass Ben schon seit Ewigkeiten
geplant haben musste, sie zu verlassen, wenn er so umsichtig
gewesen war, seinen Teil des Mietvertrages zu kündigen. Sie drängte
diesen Gedanken in den Hintergrund, zusammen mit der Frage warum,
und warum sie es nicht geahnt hatte, und konzentrierte sich darauf,
die Anzeige wegen eines Untermieter zu formulieren, ein neues
Haushaltsbudget auszuarbeiten, sich daran zu gewöhnen, zum ersten
Mal seit sie fünfzehn war, Single zu sein, und die zusätzliche
Arbeit zu bewältigen, die sie übernommen hatte.
Phoebe hatte erwartet, dass Pauline entsetzt auf
die Idee reagieren würde, dass sie sich nebenbei etwas
dazuverdiente –
selbst wenn sie nur Kunden besuchte, die ohnehin nicht in der Lage
waren, zu Cut’n’Curl zu kommen. Wieder hatte sie eine Überraschung
erlebt.
»Also, das ist ja ein Ding.« Pauline hatte bei der
Teepause vergnügt an einem eingetunkten Doppelkeks herumgeschlürft.
»Zwei Dumme, ein Gedanke, wie es so schön heißt. Ich hatte
eigentlich vor, dir einen ganz ähnlichen kleinen Vorschlag zu
unterbreiten.«
»Ach ja?« Phoebe hatte vorsichtig einen
durchweichten Keks mit ihrem Löffel herausgefischt.
»Tatsächlich?«
Pauline hatte genickt. »Hatte ich vor. Diese
schreckliche Joy Tugwell – du weißt schon, die, um Geld zu sparen,
immer mittwochs zum Waschen und Legen zu den Lehrlingen für
neunzehn achtzig kommt und hinterher rumnörgelt. Also, sie leitet
Twilights – das Altersheim am Rand von Hassocks, das kennst du doch
-, und scheinbar haben einige ihrer Bewohner ein bisschen den
Aufstand geprobt, von wegen sie wollen mehr Programm, mehr
Angebote, und einer der Punkte, den die Damen dort beanstandet
haben, war, dass sie nicht rauskommen, um sich die Haare machen zu
lassen und so. Also fragt Joy, um sie bei Laune zu halten, offenbar
bei allen Firmen im Ort wie bei uns und bei Jennifer Blessings
Schönheitssalon herum, ob wir nicht dort im Heim preisgünstige
Hausbesuche machen wollen.«
»Und du hast zugesagt und mich vorgeschlagen? Ach,
Pauline, das ist wirklich nett von dir. Vielen, vielen Dank.«
»Ja, aber nur wenn du möchtest, das weißt du ja.
Das bringt zusätzliche Einkünfte sowohl für dich als auch natürlich
für Cut’n’Curl, aber die Termine müssen wahrscheinlich
hauptsächlich abends stattfinden, weil du tagsüber ja hier
gebraucht wirst und …«
»Passt perfekt.« Phoebe hatte ihren restlichen
Keks heruntergeschluckt. »Ich brauche etwas zu tun, um meine freie
Zeit auszufüllen, und der Zusatzverdienst kommt mir gerade recht,
ganz zu schweigen vom steigenden Umsatz für Cut’n’Curl, wovon wir
ja beide profitieren. Außerdem geht es wahrscheinlich hauptsächlich
um Waschen und Legen oder Dauerwellen, nicht wahr? Das
Standardprogramm. Wann soll ich anfangen?«
»Nächste Woche, wenn es dir recht ist«, hatte
Pauline erfreut geantwortet. »Ich gebe Joy Tugwell gleich Bescheid,
dann kann sie es den Bewohnern mitteilen, und wir organisieren
alles und machen einen Plan für deine Termine.«
So, dachte Phoebe, sie stand in der dunkler
werdenden Türöffnung und atmete die Düfte von Jasmin und Geißblatt
aus dem verblühenden Garten ein, während sie dem gluckernden
Rauschen des Kennet auf seiner unablässigen Reise lauschte und in
der allumfassenden Stille schwelgte, dies war also ihre erste Nacht
hier allein. Die erste Nacht ihres restlichen Lebens – allein
…
Würde sie es schaffen? Nun, sie tat ihr Bestes,
aber es war sehr seltsam ohne Ben. So still. So einsam, in dem
Wissen, dass er nicht nach Hause käme. Sie spürte ein Schluchzen in
ihrem Hals aufsteigen und schluckte es schnell herunter.
Mach dir einen schönen Abend, ermahnte sie sich
streng. Sei erwachsen. Gieß dir ein Glas Wein ein oder zwei, setz
dich eine Weile in den Garten, schau dir irgendwas Anspruchsloses
im Fernsehen an, geh zu Bett, wenn dir danach ist, und genieße es,
in dieser herrlich friedlichen Ruhe allein zu sein. Sieh positiv in
die Zukunft. Denk nicht über die Vergangenheit nach. Lass es
einfach gut sein.
Leichter gesagt, als getan.
Gerade als sie in die Küche gehen wollte, um eine
Flasche Chardonnay aus dem Kühlschrank zu holen, wurde die sanfte
Stille unsanft durchbrochen, indem jemand die Haustür aufstieß. Ein
lauter Fluch erklang, mit lautem Getöse polterte jemand die Treppe
hinauf und versuchte unter weiterem Getöse – beim ersten Versuch
offenbar vergeblich – die Tür der oberen Wohnung aufzuschließen,
und dann, nachdem es geglückt war, folgte noch heftigeres Poltern,
als jemand seine Sachen absetzte und über den Boden stampfte, dass
bei Phoebe die Decke wackelte.
Mehrere weitere laute Plumpser zeigten an, dass
etwas Schweres fallen gelassen wurde. Dann donnerten die Fußtritte
wieder treppab.
Der Vorgang wiederholte sich noch zwei weitere
Male, danach herrschte Stille. Phoebe, inzwischen beim zweiten Glas
Wein, atmete erleichtert aus. Leider währte die Erleichterung nur
kurz.
AC/DC dröhnte in ohrenbetäubender Lautstärke aus
dem Obergeschoss, sodass nicht nur die Decke, sondern auch die
Fenster und Phoebes ausgefranste Nerven erzitterten.
»Neeiiin«, stöhnte sie. »Keine neuen Nachbarn –
keine lauten neuen Nachbarn! Nein – nicht ausgerechnet heute Abend
– das ist so was von unfair!«
Während sie den Namen an ihrer Türklingel in
»Bowler« geändert hatte, hatte Mindy an der oberen den Namen
»Lancaster« belassen. Phoebe überlegte, wer die neuen Mieter waren,
und wie der neue Name wohl lauten mochte. »Bescheuerte höllische
Krachmacher« würde gut passen, dachte sie ärgerlich, packte die
Weinflasche und das Glas und verzog sich in den abgeschiedenen
Innenhof.
Doch draußen im Garten tönte der Krach von oben
noch lauter als drinnen, also kehrte sie in die Wohnung zurück,
kippte ein weiteres großes Glas Wein herunter und wartete zehn
quälende Minuten lang ans Spülbecken gelehnt.
Der Lärmpegel steigerte sich, als zu der
gedankenbetäubenden Musik von AC/DC noch Geräusche kamen, als
würden sich dreizehn Sumo-Ringer eine Schlägerei liefern.
Genug war genug.
Gestärkt durch den Wein, und weil sie wusste, dass
sie mit den neuen oberen Nachbarn nie auch nur halbwegs harmonisch
würde zusammenleben können, wenn sie jetzt nicht den Anfängen
wehrte, stürmte Phoebe die Treppe hinauf.
An die Tür zu klopfen, ging ihr auf, wäre ziemlich
sinnlos. Niemand würde sie bei diesem Radau hören. Ebenso wenig
nützlich wäre nachbarliches Huhu-Rufen.
Als sie entdeckte, dass die Wohnungstür nicht
abgeschlossen, ja nicht einmal richtig zugezogen war, drückte
Phoebe sie zögerlich auf.
Es sah aus, als hätte zeitgleich mit einem
Mini-Hurrikan ein kleines Erdbeben stattgefunden, und dank Bon
Scott und seinen Mitstreitern von AC/DC hörte es sich an, als
bräche begleitet von einem Massengenozid unter den Bodendielen
gerade ein Vulkan aus.
Mindys einst makellose Wohnung war ein Schauplatz
völliger Verwüstung. Der Großteil der Einrichtung schien noch da zu
sein, wenngleich zunehmend von einer Flut von Kleidern und Büchern
und Schallplatten bedeckt, doch all ihr persönlicher Krimskrams war
verschwunden, vermutlich ins Penthouse des süßen Airbus-Piloten.
Halb offene Umzugskartons und große Pappschachteln waren überall
verteilt, und der bunt gemischte Inhalt ergoss sich über den
Fußboden.
Phoebe, die Unordnung jeder Art verabscheute,
betrachtete voller Entsetzen das Wohnzimmer.
Da in diesem Raum von den neuen Bewohnern keine
Spur
zu sehen war, bahnte sie sich einen Weg durch das Chaos und drehte
die Stereoanlage leiser, sodass sich Bon Scotts krächzender Gesang
zu einem Flüstern senkte.
»Verdammtes Scheißding«, knurrte eine Stimme
wutentbrannt aus dem Schlafzimmer. »Was ist denn jetzt los? Geht
ständig aus … zum Teufel!«
Der Eigentümer der Stimme erschien in der
Schlafzimmertür und starrte Phoebe an.
Phoebe starrte zurück.
»Wer zum Teufel sind Sie denn? Haben Sie meine
Musik leiser gestellt? Was soll denn das?«
Phoebe blinzelte. Der attraktive Eigentümer der
Stimme war herrlich groß und schlank, hatte kurzes dunkles Haar und
noch dunklere zornig funkelnde Augen. Außerdem hatte er nichts an,
abgesehen von einem Paar ausgewaschener Jeans.
»Entschuldigung, ja – aber ich wohne im
Erdgeschoss und …«
Die zornigen dunklen Augen verengten sich. »Tun
Sie das? Ich dachte, Sie wären ausgezogen? Mindy hat gesagt
…«
Zwei und zwei ergab auf einmal vier. Phoebe
schluckte. »Sie sind Rocky Lancaster?«
»Bin ich – und Sie sind Phoebe. Die sitzen
gelassene Braut. Wir haben uns nie richtig kennengelernt, stimmt’s?
Mindy hat gesagt, Sie ziehen aus.«
»Mindy hat gesagt, Sie wären schon
ausgezogen.«
»Tja, was hätte sie denn sonst auch sagen
sollen.«
Phoebe wurde sich plötzlich brennend heiß ihrer
kurzen Shorts und ihres schulterfreien Hemds bewusst und schluckte.
»Ich bin wieder eingezogen. Sind Sie denn nicht ausgezogen?«
Rocky Lancaster machte ein finsteres Gesicht und
schüttelte den Kopf. »Ich ziehe auch wieder ein. Sortiere gerade
meine
Sachen. Mache das hier wieder zu meinem Zuhause. Also, was zum
Teufel fällt Ihnen ein, meine Musik leiser zu stellen?«
»Bei mir fiel schon der Putz von der Decke.«
Phoebe erwiderte das finstere Gesicht. »Ich wollte im Garten ein
wenig Ruhe und Frieden genießen. Ich wusste nicht, dass Sie es sind
– aber hauptsächlich dachte ich, ich komme mal rauf und sage den
neuen Nachbarn Hallo und bitte sie, etwas leiser zu sein.«
Rock zuckte die Achseln. »Na schön – vielleicht
war es ein bisschen laut. Aber ich habe es genossen, meine eigene
Musik zu hören, anstelle von Mindys ewigem Take That, Boyzone und
Westlife, und das hier ist mein Zuhause. Ich kann Sie gleich
warnen, ich mag nicht nur AC/DC – ich habe auch ganze CD-Ständer
voll mit Deep Purple und Rainbow und dergleichen. Ich habe sogar
einiges davon auf originalen Vinyl-Schallplatten, da kriegen Sie es
dann laut und verzerrt zu hören.
Irgendwelche Einwände?«
Phoebe, deren Musikgeschmack eher dem von Mindy
ähnelte, und deren Kenntnisse in Sachen Oldie-Rock ziemlich
bescheiden waren, schüttelte den Kopf.
»Gut«, sagte Rocky, ohne zu lächeln. »Zumindest
wären damit die grundsätzlichen Regeln geklärt. Leben und leben
lassen, okay? Obwohl ich zugeben muss, dass ich an meinem ersten
Abend daheim nun wirklich nicht gleich mit einem Besuch von der
Radau-Polizei gerechnet hätte.«
»Es betrifft ja aber nicht nur mich! Was ist denn
mit den anderen Nachbarn in der Winchester Road? Die sitzen in
einer heißen Nacht wie heute sicher auch gerne im Garten oder haben
die Fenster auf und …«
»Die meisten sind doch steinalt und vermutlich
stocktaub«, brummte Rocky. »Aber gut, wahrscheinlich war es
wirklich ein bisschen laut. Ich dreh den Ton leiser – okay?«
»Okay. Danke.« Eingedenk der vielen lautstarken
Auseinandersetzungen,
die sie mit angehört hatte, und der Hinweise, die Mindy über
Rockys jähzorniges Temperament hatte fallen lassen, trat Phoebe den
Rückzug in Richtung Tür an. »Und wie Sie sagten, wenn wir Nachbarn
sind, müssen wir eben Rücksicht nehmen und uns aufeinander
einstellen.«
»Müssen wir das? Soll das etwa eine Drohung sein,
dass Sie dann sonntagmorgens, wenn ich einen höllischen Kater habe,
in voller Lautstärke James Blunt laufen lassen?«
Phoebe fand, er sah noch immer sehr zornig und
ziemlich bedrohlich aus. Wenn Rocky, wie Mindy angedeutet hatte,
leicht handgreiflich wurde, sollte sie die Situation tunlichst
entschärfen. Sich mit ihm anzulegen, wäre keine gute Idee.
»Nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss, aber
das ist schließlich alles eine Frage der Ausgewogenheit von Geben
und Nehmen …«
Rocky lachte. Es klang weder fröhlich noch
freundlich. »Geben und Nehmen? Dem Ergebnis nach zu schließen,
hatten wir in unseren letzten Beziehungen wahrscheinlich beide von
Ersterem zu viel und von Letzterem zu wenig, meinen Sie nicht?
Bedaure, aber ich habe vor, für den Rest meines Lebens ein
selbstsüchtiger, egoistischer, ichbezogener Mistkerl zu
sein.«
Na toll, dachte Phoebe. Ich werde das Haus mit
einem gewalttätigen Egomanen teilen. Das hast du ja prima
hingekriegt, Phoebe.
Sie ging weiter langsam rückwärts und erreichte
die offene Tür. »Ich kann es Ihnen nicht verdenken, dass Sie
verbittert sind. Mindy hat gesagt …«
»Es kümmert mich einen Dreck, was Mindy gesagt
hat.« Rocky machte ein eindeutig unfreundliches Gesicht. »Geben Sie
nichts auf hohles Geschwätz. Ganz sicher hat sie Ihnen lang und
breit erklärt, dass es an meiner verlängerten Abwesenheit lag, dass
sie anderweitig nach, äh, Vergnügen suchen musste.«
»Nein, eigentlich nicht. Sie hat mir gar nichts
erklärt. Und ja, ich weiß, dass Sie viel weg waren, aber ich bin
einfach davon ausgegangen, dass Sie als Flugbegleiter, wie Mindy,
oft auf verschiedenen Flügen arbeiten. Ich mach mir nichts aus
Klatsch und Tratsch. Davon höre ich bei der Arbeit schon mehr als
genug.«
»Ach ja. Im Friseursalon – sehen Sie, ich weiß
etwas über Sie. Ich habe mich ab und zu mit Ben unterhalten, wenn
wir beide im Faery Glen auf unsere
Bestellung gewartet haben. Ich persönlich finde es ja schade, dass
er abgehauen ist. Ganz schön feige von ihm. Er hätte es Ihnen ins
Gesicht sagen sollen.«
»Ja, das hätte er.« Phoebe kämpfte gegen den Drang
an, Bens Verhalten zu verteidigen, und fragte sich auf einmal, was
er Rocky am Tresen des Faery Glen sonst
noch über sie oder ihre Beziehung erzählt haben mochte. »Und ich
kann Sie beruhigen, über Sie weiß ich nichts weiter, als …«
»Als dass ich mehr Zeit unterwegs verbringe als zu
Hause, und dass Mindy und ich bei den seltenen Gelegenheiten, wenn
wir beide gleichzeitig Bodenurlaub hatten, uns wie Hund und Katze
gestritten haben? Kommen Sie schon, Sie müssen unsere Kräche doch
mit angehört haben.«
»Ja, schon, aber …«
»Mit Mindy zusammenzuleben war die Hölle – und ich
war auch nicht besser. Wir hätten nie im Leben ein Paar werden
sollen. Eigentlich war hauptsächlich Geilheit dafür
verantwortlich.«
Phoebe fand keine Antwort auf diese Bemerkung, die
sie nicht in größte Schwierigkeiten gebracht hätte, und zuckte
daher nur die Achseln. »Ich schätze, wir müssen beide vieles
grundsätzlich anders machen, jetzt, wo wir wieder Singles
sind.«
»Was ich für den Rest meines Lebens zu bleiben
gedenke, und was außerdem bedeutet, dass Sie in Ihrer Wohnung
bleiben, und ich in meiner. Weitere Grundsatzregel: Ich will weder
bemitleidet noch irgendwie bemuttert werden. Auch Freundschaft will
ich nicht. Verstanden? Wir wohnen im gleichen Haus, aber jeder für
sich, und so soll es auch bleiben. Nur weil wir beide sitzen
gelassen wurden, heißt das noch lange nicht …«
»Himmel noch mal! Sie sind ja vielleicht
arrogant!« Phoebe vergaß ganz, ihn mit Samthandschuhen anzufassen,
um keinen Kinnhaken zu riskieren. »Ich lasse Sie nur zu gerne in
Ruhe. Ich habe weit Besseres zu tun, als alle fünf Minuten hier
hochzurennen, um zu prüfen, ob Sie AC/DC gegen Coldplay
ausgewechselt und sich die Pulsadern aufgeschlitzt haben.«
»Wozu ich durchaus Lust kriegen könnte –
insbesondere, wenn zu der Musikmischung noch Radiohead dazukäme.
Allerdings kann ich Ihnen versichern, dass ich momentan nicht im
Geringsten selbstmordgefährdet bin. Nur reichlich angepisst
darüber, dass ich im zarten Alter von zweiunddreißig Jahren noch
mal ganz von vorne anfangen muss.«
Das konnte Phoebe durchaus nachfühlen, aber sie
hatte nicht vor, es auszusprechen. »Immerhin haben wir beide nach
wie vor ein Dach über dem Kopf und einen Job, um die Rechnungen zu
bezahlen und …«
»Abgedroschene Phrasen!«, knurrte Rocky. »Ihnen
mag es ja ganz gut gehen, mit Ihrem kleinen Friseurjob und Ihren
Freundinnen und Ihren liebenden Eltern, aber ich stehe wieder hier
und habe nichts von alledem.«
Ach je, jetzt wird er sentimental, dachte Phoebe.
Aggressiv und weinerlich. Tolle Kombination.
»Aber Sie haben doch immerhin Ihren Job, und zwar
einen wirklich großartigen Job. Reisen um die ganze Welt,
Aufenthalt
in exotischen Ländern, Sie sehen Orte, von denen Menschen wie ich
nur träumen können…«
»Mein Job?« Wieder klang Rockys Lachen wie ein
zorniges Keuchen. »Sie haben wirklich keinen Schimmer, was? Ich
arbeite schon seit Ewigkeiten nicht mehr als Steward. Ich bin
gefeuert worden. Es wundert mich wirklich, dass Mindy Ihnen nicht
all die pikanten Details genüsslich aufs Brot geschmiert
hat.«
»Tja, hat sie nicht.« Phoebe verkniff sich zu
sagen, dass Mindy das wahrscheinlich gern getan hätte, wenn sie
nicht durch einen Telefonanruf unterbrochen worden wären. »Tut mir
leid. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie Ihren Job verloren haben,
ich dachte, Sie wären noch immer …«
Rocky schüttelte den Kopf. »Der wahre Grund, warum
Sie mich hier in letzter Zeit nicht gesehen haben, ist derselbe,
den Mindy zum Vorwand genommen hat, um mich zu verlassen.«
Ein Airbus-Pilot, auch bei ihm? War Rocky ein
verkappter Schwuler? Falls ja, hätte YaYa gar nicht mal so falsch
gelegen.
Rocky fuhr fort. »Ja, wie Sie sich wohl gedacht
haben, war ich fort. Aber nicht, um Plastikmenüs an Touristen zu
verteilen oder mich an abgelegenen Stränden zu sonnen. Weit
entfernt davon – die Fluggesellschaft konnte mich gar nicht schnell
genug loswerden. Irgendwie wollten sie keinen Steward, der wegen
GKV verurteilt wurde.«
GKV? GKV?
»Ist schon komisch.« Rocky klang alles andere als
amüsiert. »Verstehe gar nicht, warum. Bestimmt haben sie
befürchtet, ich könnte mit dem Plastikbesteck auf die Passagiere
losgehen.«
»Was?« Phoebe furchte erneut die Stirn, das Herz
rutschte ihr bis zu den Sohlen ihrer Flipflops. »GKV? Sie meinen
…«
»Jawohl. Gefährliche Körperverletzung. Jemanden
grün und blau schlagen. Ich bin gerade aus dem Gefängnis entlassen
worden.«