8

Schiffe sind wie Menschen: Sie sterben schnell, oder sie sterben langsam. Die Cristina II starb sehr, sehr schnell. Mehr Seen wuschen über sie hinweg und füllten ihren Körper. Das Vorschiff blieb intakt und verlieh dem Wrack einen gewissen Auftrieb, doch das erwies sich eher als ungünstig, denn es verursachte eine so große Belastung, daß sie einfach nicht durchzustehen war; nachdem es ein paarmal erzitterte, brach das Boot unmittelbar vor dem toten Gewicht der Motoren auseinander. Der hintere Teil versank sofort; der vordere schwamm noch eine Weile, doch dann gab das Schott nach, und es versank ebenfalls.

Man kann sich auf eine Katastrophe vorbereiten, doch wenn sie dann eintritt, vergißt man alle Vorbereitungen und reagiert ohne jede bewußte Logik nur noch automatisch. Anfangs nahm Weston nur das Chaos wahr, in dem er ein absolut willenloses Opfer darstellte. Dann machte sich Angst bemerkbar und gab ihm die Fähigkeit zu logischem Denken zurück. Er war unter Wasser, und seine Lungen drohten zu platzen; verzweifelt stieß er mit den Beinen, um sich an die Oberfläche zu bringen. Aber die Oberfläche war ebenfalls Teil dieses Chaos und drückte ihn unter Wasser zurück; er schluckte Wasser, Schmerz durchbohrte seine Lungen, er wußte, daß er sterben würde und daß jene, die behaupteten, Ertrinken sei ein relativ friedlicher Tod, nicht die geringste Ahnung hatten.

Als seine Rechte gegen etwas stieß, packte er instinktiv zu. Das Ding hatte eben genug Auftrieb, ihn so weit an der Oberfläche zu halten, daß er, wenn eine Welle über ihn hinwegspülte, nicht mehr so viel Zeit und Kraft brauchte, um wieder nach oben zu kommen. Und wenn er dort war, vermochte er sich so weit aufzurichten, daß er Luft holen konnte, die nicht zur Hälfte aus Wasser bestand.

Die Wellen kamen steiler und heftiger, dann wurde er auf etwas hinabgeschleudert, das ihm den Atem aus den Lungen trieb, so daß er aufkeuchte, wieder Wasser schluckte und fast erstickte. Als er herumgeworfen wurde, krallte er automatisch die Finger ein, um sich festzuhalten, und merkte dann erst, daß er auf Sand lag.

Als er sich aufrappelte, stellte er fest, daß er weit dichter an die Küste herangesteuert hatte, als er beabsichtigte – so dicht, daß sie in einer weiteren halben Stunde vermutlich auf Grund gelaufen wären, und zwar auf felsigen statt auf Sand.

 

Das Haus, in dem er Hilfe fand, gehörte einem italienischen Ehepaar. Die beiden gaben ihm trockene Kleider, ein paar Brandys, riefen einen Arzt und informierten die Polizei. Mit der typisch spanischen Gleichgültigkeit gegenüber jedem Leiden, das nicht tödlich war, erklärte ihn der Arzt für gesund und unverletzt. Mit der für spanische Polizisten typischen Gleichgültigkeit gegenüber praktisch allem, besonders in den frühen Morgenstunden, wußten die beiden Männer von der Guardia Civil, ein Cabo und ein Sargento, offenbar nicht, was sie mit ihm anfangen sollten, beschlossen dann aber, nachdem ein gähnender Dolmetscher geholt worden war, seine Aussage aufzunehmen.

Im Wohnzimmer, beim Geräusch des Windes auf den Fensterläden, wünschte er sich vergeblich ein wenig mehr Zeit zum Überlegen, was er sagen sollte. Das Problem lag auf der Hand, die Lösung nicht. Sagte er die Wahrheit über den Törn nach Marokko und erklärte, warum sie nicht Schutz gesucht hatten, obwohl jeder vernünftige Mensch das getan hätte, wußte er nicht, welche Folgen das zeitigen würde. Angenommen, seine ursprüngliche Vermutung traf zu und die drei Männer waren trotz der äußeren Erscheinung der beiden älteren Terroristen, dann hätte er sich der Beihilfe zum Terrorismus schuldig gemacht. Und die Strafen dafür waren in Spanien wahrscheinlich härter als in England. Waren die drei jedoch entsprungene Verbrecher, hatte er sich der Beihilfe zur Flucht schuldig gemacht. Der Instinkt sagte ihm, daß es wohl kaum einen Ort gab, der weniger angenehm war als ein marokkanisches Gefängnis. Nannte er Erpressung als mildernden Umstand, würde man ihm entweder nicht glauben oder behaupten, Erpressung sei keine Entschuldigung für ein Verbrechen …

»Bitte, Señor«, ließ ihm der Sargento ungeduldig durch den Dolmetscher sagen. Er hatte traurige braune Augen, einen buschigen Schnauzbart und die Gewohnheit, sich am rechten Ohr zu zupfen.

Weston faßte einen Entschluß. »Wir sind von Restina ausgelaufen …« Er und Farley hätten an der Küste entlangfahren wollen. Sie hätten zwar den Wetterbericht gehört, bei dem zum erstenmal von Böen in Sturmstärke gesprochen wurde, sich aber nicht klargemacht, wie schnell ein solches Sommerunwetter im Mittelmeer heraufziehen und wie schlimm es werden konnte. Sie hätten die Warnung ignoriert und sich unversehens mitten in einem furchtbaren Sturm befunden. Dann hätten sie den unverzeihlichen Fehler begangen, bei reduzierter Geschwindigkeit in Richtung Restina weiterzufahren, statt auf den nächsten Hafen zuzuhalten, weil sie zu einer Party eingeladen gewesen seien …

Der Sargento sah den Cabo an und zuckte die Achseln; dann musterte er Weston mit einer Verachtung, die nur gemildert wurde durch das Bewußtsein, daß die Welt voller Idioten war. »Haben Sie eine Ahnung, was aus dem anderen Señor geworden ist?«

»Leider nein. Wir sind so schnell gesunken, und die See war so rauh …«

»Wo wohnt Señor Farley?«

»In oder bei Restina, ganz genau weiß ich es nicht.«

»Sie wissen nicht, wo?«

Hastig versuchte Weston jedweden Verdacht, den seine Antwort ausgelöst haben mochte, zu zerstreuen. »Ich mache hier Urlaub und bin ihm rein zufällig begegnet; und dann haben wir uns jedesmal in meinem Hotel oder in einem Café getroffen. Zu sich hat er mich nie eingeladen.«

»Arbeitet er?«

»Ich glaube nicht.«

Die Miene des Sargento verriet, daß er eine ganz bestimmte Meinung über reiche Faulenzer von Ausländern hatte. »Beschreiben Sie ihn bitte.«

Die normalerweise recht schwierige Aufgabe, einen anderen Menschen zu beschreiben, wurde durch Farleys rotblonden Bart erleichtert; es konnte wohl kaum sehr viele Männer mit wildwuchernden rotblonden Vollbärten geben.

»Wo wohnen Sie in England?«

Er gab ihnen seine Adresse.

»Sobald Sie in Ihr Hotel zurückkehren, melden Sie sich bitte beim örtlichen Guardia-Posten, und zeigen Sie Ihren Reisepaß vor.« Er stand auf. »Sie können von Glück sagen, Señor. Wären Sie nicht so dicht an der Küste gewesen …« Er zuckte die Achseln.

»Wird man mich benachrichtigen, wenn … wenn mein Freund gefunden wird?«

»Selbstverständlich. Sie werden ihn identifizieren müssen.« Mit formeller Höflichkeit reichte ihm der Sargento die Hand; der Cabo und der Dolmetscher folgten seinem Beispiel. Dann verließen die drei Männer das Haus.

»Ich glaube, Sie brauchen noch einen Drink, bevor ich Sie nach Restina fahre«, sagte der Italiener.

Er brauchte ihn in der Tat – dringend sogar.

 

Am Freitag morgen ging er am Hafen entlang zum Posten der Guardia Civil, der traditionell an einem Paradeplatz lag.

Er betrat das Auskunftsbüro. Der Cabo hinter dem Schreibtisch blickte auf und schüttelte den Kopf: Farleys Leichnam war bisher nicht gefunden worden. Als Weston erklärte, er werde am folgenden Tag nach England zurückkehren, nickte der Cabo zwar, doch Weston war sicher, daß ihn der Mann nicht richtig verstanden hatte. Er ging.

Als er aus dem Schatten des Gebäudes in die brennende Sonne hinaustrat, fragte er sich, ob jemals eine der vier anderen Leichen an Land getrieben werde. Falls Farley gefunden wurde, würde man die Schußwunde entdecken. Und falls einer der drei Spanier gefunden wurde – würde man sie durch irgend etwas mit der Cristina II in Verbindung bringen können? Die Zeit, dachte er grimmig, wird auf meiner Seite sein.