19
Weston bog in die Einfahrt zum Melton Cottage ein und parkte neben der Garage. Dann ging er zur Haustür und klingelte. Keine Reaktion. Er kehrte nicht gleich zum Wagen zurück, sondern blickte über den Garten hinaus zum Wald hinüber, wo er eine Taube beobachtete, die flatternd in einer Eiche landete. Er hätte anrufen und sich vergewissern können, ob sie zu Hause war, aber das hatte er bewußt nicht getan, denn sonst hätte sie sich vielleicht geweigert, ihn zu empfangen. Es war die falsche Entscheidung gewesen.
Als er sich auf den Rückweg zur Gartenpforte machte, hörte er einen Wagen in die Einfahrt einbiegen. Er machte noch einen Schritt vorwärts und konnte so an der Hausecke vorbeischauen, er sah gerade noch das Heck eines roten Wagens hinter dem Anbau verschwinden. Er wartete in der warmen Sonne.
Ihre festen Schritte knirschten auf dem Kiesbelag der Einfahrt, die Angeln des Gartentors quietschten, und sie kam in Sicht. »Ich dachte doch, daß ich den Wagen kenne. Was wollen Sie?« Ihr Ton war bitter. Entschlossen ging sie an ihm vorbei bis zur Haustür, dann wandte sie sich um. »Würden Sie sich bitte kurz fassen und dann wieder verschwinden?«
»Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen.«
Sie konnte ihre Überraschung nicht verbergen.
»Es tut mir wirklich leid, das von letzter Woche. Meine einzige Erklärung ist, daß ich so tief erschüttert von all dem war, was geschehen ist, daß ich nicht richtig zu denken vermochte und nicht wußte, was ich sagte.«
Sie dachte, daß er möglicherweise ihr Mitgefühl herausfordern wollte, um ihren Groll zu besänftigen, hatte aber bisher schon zu viel Bedrückendes erlebt, um dieses Mitgefühl gänzlich zu ignorieren. Sie schloß die Tür auf. »Sie sollten wohl doch lieber reinkommen.«
Er folgte ihr durch die Diele ins Wohnzimmer. Dort setzte sie sich ans Fenster und legte die gefalteten Hände in den Schoß, während er unmittelbar an der Tür stehenblieb. »Letzte Woche … Sie wissen, was letzte Woche geschehen ist. Heute morgen wurde ich aufgefordert, auf unserem Polizeirevier zu erscheinen. Zwei Detectives erklärten mir, die Autopsie an meiner Frau sei beendet und habe ergeben, daß ihr Tod kein Unfall gewesen sei, sondern daß sie von jemandem attackiert wurde, sich von ihm losreißen konnte, in Panik davonlief, gegen das Geländer prallte und dann das Übergewicht bekam. Indirekter Mord, nennen sie das.«
»Großer Gott!« sagte sie leise.
»Also suchen sie jetzt diesen Mörder. Und so, wie die mich vernommen haben, scheint festzustehen, daß sie ihn gefunden zu haben glauben. Aber ich habe niemals Gewalt gegen Frauen angewendet, und gegen meine eigene Frau schon gar nicht. Das ist die reine Wahrheit, das schwöre ich.«
»Wieso … wieso glauben die, daß Sie es waren?«
»Weil sie wie Pawlows Hunde sind. Da die große Mehrzahl der Morde von einem Familienmitglied oder einem guten Freund begangen wird, verdächtigen sie von vornherein automatisch einen Angehörigen.«
»Aber sie müssen doch wohl einen Beweggrund finden!«
»Nichts leichter als das, sobald sie überzeugt sind, daß sie recht haben. Sie verdrehen die Tatsachen, bis sie in ihre Theorie passen.«
»Welche Theorie?«
»Daß ein relativ armer, mit einer reichen Frau verheirateter Mann nur an ihrem Geld interessiert sein kann; daß er, wenn die Ehe nicht ein einziges Honigschlecken ist, einen Plan schmiedet, wie er sie loswerden kann, weil das die einzige Möglichkeit für ihn ist, das Geld zu behalten; daß eine Frau, mit der er mehr als einmal gesprochen hat, selbstverständlich seine Freundin ist … Sie hatten verdammt noch mal tatsächlich recht. Dieser frettchenhafte Detective, der Sie aufgesucht hat, hält uns für ein Liebespaar; genau wie die beiden Detectives heute morgen. Ich habe denen erklärt, daß ich Sie kaum kenne, und sie konnten nicht begreifen, wie ich so dumm sein könne, von ihnen zu erwarten, daß sie mir glauben. Diese Idioten sind überzeugt, daß ich Stephanie umgebracht habe, um an ihr Geld zu kommen und Sie zu heiraten.«
Kate löste ihre Hände voneinander und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
Weston kam von der Tür herüber und ließ sich in den nächsten Sessel fallen. »Ich habe immer gedacht, die Polizei in diesem Land arbeitet mit harten Tatsachen. Aber nein, sie haben beschlossen, ich sei schuldig, weil Stephanies Mutter so rachsüchtig ist, daß sie behauptet, ich hätte ihre Tochter ermordet.«
»Dann muß sie einen triftigen Grund haben.«
»Sie glauben also, daß sie recht hat?«
»Ich sage nur, wenn eine Schwiegermutter ihren Schwiegersohn des Mordes an ihrer Tochter bezichtigt, muß die Polizei ihn verdächtigen. Schließlich müssen, wenn eine Mutter zu dieser Überzeugung kommt, ziemlich außergewöhnliche Umstände vorhanden sein.«
»Es gab außergewöhnliche Umstände, verdammt außergewöhnliche, aber die betrafen Stephanies Eltern, nicht sie und mich. Das habe ich der Polizei zu erklären versucht, aber die wollten nicht hören, weil das, was ich ihnen mitteilte, nicht in ihre Theorien paßte. Also wie soll ich sie in Gottes Namen davon überzeugen, daß ich Stephanie nicht umgebracht habe; daß nicht jeder Ehemann nach dem Geld seiner Ehefrau giert; daß man sich zweimal völlig unbedacht mit einer Frau unterhalten kann? … Verzeihen Sie. Ich bin hierhergekommen, um mich zu entschuldigen, und nun werde ich fast hysterisch.«
»So würde ich das kaum bezeichnen.«
»Ehrlich gesagt, ich habe …« Er stockte.
Sie musterte sein Gesicht. »Angst?«
»Ich weiß, daß ich unschuldig bin. Und dennoch muß ich zusehen, wie ihre Überzeugung, ich sei schuldig, sich immer mehr festigt.«
»Sie haben keine Ahnung, wer der Mörder gewesen sein könnte?«
»Die Polizei behauptet, ein Gelegenheitseinbrecher, der sie überrascht hat, könne es nicht gewesen sein; aber ich wüßte niemanden, der zu so etwas fähig wäre. Und zu glauben, ich wäre …«
»Da Sie es nicht sind, wird auch nie jemand beweisen können, daß Sie es seien.«
»Vor einem Monat hätte ich Ihnen zugestimmt. Unschuld ist der perfekte Schutz. Nun aber entdecke ich, daß dieser Schutz eine verdammte Illusion ist.«
»Ich hoffe, daß Sie ganz und gar unrecht haben.«
»Ich weiß, daß ich ganz und gar recht habe.«
Eine Zeitlang schwiegen sie; dann sagte sie: »Möchten Sie etwas trinken?« Es dämmerte schon. Die leichte Brise hatte sich gelegt, und die Luft war so still, daß jedes Geräusch weithin zu hören war; als sie vor der Haustür standen, hörten sie in der Ferne einen Mähdrescher rhythmisch schlagen, eine Kuh muhen, einen Hahn krähen, der wohl die Tageszeit verwechselte, einen Hund bellen und das Geräusch eines näher kommenden Wagens.
Weston betrachtete den Bramley auf dem Rasen. »Habe ich Ihnen von Jason und diesem Apfelbaum erzählt?«
»Nein.«
»Er hatte ein bißchen Heimweh danach, und das hat mich verwundert, denn ich hätte gedacht, er wäre mit Sicherheit der letzte, der sich mit Heimweh herumschlägt. Er war wohl so etwas wie ein Symbol für ihn.«
»Ein Symbol – wofür?«
»Vielleicht für die Sicherheit, daß er, wann immer er wollte, hierher und zu einem Leben mit echten Werten zurückkehren könne.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und richtete den Blick auf den Baum, da das schwindende Licht einige Linien in ihrem Gesicht verbarg, wirkte sie jung und viel verletzlicher. »Ich frage mich, ob er jemals wirklich zur Ruhe gekommen wäre. Dafür schien ständig zuviel zu geschehen in seiner Welt. Als Kind hielt ich ihn für wundervoll, weil er so lebendig war; als Erwachsener begann ich zu erkennen, daß es ein destruktives Element der Herausforderung war, das ihn vorwärtstrieb und ihn zuletzt wohl zerstört hätte … Vielleicht sollte ich dankbar dafür sein, daß er gestorben ist, bevor er erkannte, daß er letzten Endes ein Verlierer sein mußte. Dies ist keine angenehme Welt für Verlierer.«
Sind wir nicht alle drei Verlierer? dachte er bitter. Laut sagte er: »Ich muß jetzt fahren.«
Sie schlenderten zum Sierra hinüber. Sie wandte sich ihm zu. »Ich möchte Ihnen sagen, wie froh ich bin, daß Sie heute gekommen sind.«
»Ich bin hoffentlich keine allzu deprimierende Kassandra gewesen.«
»Hat die nicht eher zukünftige Schicksalsschläge vorausgesagt, die man ihr nicht geglaubt hat, statt vergangene, die geglaubt wurden? … Ausführlich über alles zu sprechen, hat mir sehr geholfen. Ihnen auch?«
»Ja«, antwortete er und versuchte dabei, aufrichtig zu wirken. Ihr Mitgefühl war Balsam für seine Seele, doch an den Tatsachen vermochte es nichts zu ändern. Er öffnete den Wagenschlag, stieg aber nicht sofort ein. »Wenn ich wieder einmal hier herauskäme, würden Sie dann mit mir essen gehen?«
Sie war genauso direkt wie immer. »Ja, gern.«
»Ich schwöre Ihnen, daß ich Ihnen nichts mehr vorjammern werde.«
»Überflüssig.«
Er setzte sich ans Lenkrad und kurbelte das Fenster herunter. »Dann also auf Wiedersehen.«
Sie beugte sich herunter. »Wissen Sie was? Dies ist das erstemal, daß wir uns nicht im Zorn trennen.«
Die ersten beiden Wochen im August brachten noch heißeres Wetter; die Temperaturen stiegen, bis sie Rekordhöhen erreichten. Die Zeitungen waren voll von Artikeln über Hautkrebs, Dürre, Maßnahmen zum Wassersparen und dem Treibhauseffekt. Engländer lieben es, ihre Freuden cum granum salis zu nehmen.
Rentlow hatte schließlich vor den Temperaturen kapituliert und sein Jackett über die Stuhllehne gehängt; seine Hosenträger waren knallrot. Waters, erstaunt über die Zurschaustellung dieser Dessous, versuchte, ein Muster auf ihnen zu erkennen.
»Na?«
Er lenkte seine Gedanken wieder auf wichtigere Dinge. »Wir haben einen Brief aus Spanien in Sachen Weston.«
»Haben die endlich was Brauchbares ausgegraben?«
Waters legte ein Blatt Papier auf den Schreibtisch. »Ich weiß zwar nicht, wer das übersetzt hat, aber der Sinn wird ausreichend klar.«
Rentlow las den Bericht; dann blickte er auf. »Keine Veränderung. Das Hotel bleibt dabei, daß er ein Einzelzimmer gehabt hat, kann aber nicht sagen, ob er ständig allein darin war. Die Polizei spürt einem Zeugen nach, der behauptet hat, Weston in einem Nightclub mit zwei Frauen gesehen zu haben, aber nicht genau weiß, ob eine von ihnen rote Haare hatte … Ein Fall mit lauter verpaßten Gelegenheiten.«
»Auf der Rückseite gibt’s was Besseres.«
Rentlow drehte das Blatt um. »Großer Gott!« sagte er nach einem Moment.
»Das könnte natürlich vieles erklären.«
»Es könnte alles erklären, könnte aber auch noch größere Verwirrung stiften als jetzt … Die Polizei behauptet, er habe mit Farley zusammen Drogen geschmuggelt. Hat seine Frau also entdeckt, was er plante, und er hat sie ermordet, um sie zum Schweigen zu bringen? Hat er angedeutet, daß seine Frau drauf und dran sei, alles auszuplaudern, und die Männer an der Spitze des Kartells haben dann beschlossen, einzugreifen? Oder hat diese neue Information gar nichts mit unserem Fall zu tun?«
Waters zuckte die Achseln.
»Eigentlich habe ich das Gefühl, daß letzteres zutrifft.«
»Die spanische Polizei will einen Auslieferungsantrag stellen.«
»Ich kann lesen«, gab Rentlow ironisch zurück.
»Und wie werden Sie reagieren?«
»Begeistert.«
»Sie wollen zulassen, daß die ihn uns wegnehmen?« Waters war überrascht. Obwohl das bedeutete, daß ein wenig verheißungsvoller Fall aus ihren Statistiken entfernt wurde – Rentlow haßte Mißerfolge.
»Ich werde sie glauben lassen, daß ich ihrem Antrag entsprechen werde. Das ist etwas ganz anderes.«