6
Es war eine dunkle Nacht mit geschlossener Wolkendecke. Da der Seegang zugenommen hatte, rollten sie, nachdem sie beigedreht hatten, ziemlich stark, und vom Bootskörper gingen ständig leise Geräusche aus – beruhigend für einen Seemann, der überzeugt war, ein stummes Schiff sei gefährlich. Auf dem Radarschirm sahen sie, daß sie eine halbe Meile vor der marokkanischen Küste lagen; ein Leuchtturm, der alle zehn Sekunden zweimal abblendete, lieferte ihnen eine einzelne Peilung, die ihnen diese Position weitgehend bestätigte. Die Seekarte zeigte einen Strand, flach im Osten, Klippen im Westen, und hinter einer Landzunge eine kleine Ortschaft namens Menache.
Farley, der vor dem Radarschirm stand, erkundigte sich: »Immer noch nichts?«
»Nein«, bestätigte Weston.
»Verdammt, wenn wir hier noch länger rumhängen, wird sicher jemand neugierig. Die Marokkaner beackern die Küste mit ein paar sehr schnellen Patrouillenbooten.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Schon eine Dreiviertelstunde über die Zeit. Diese Spanier kommen wohl noch in den Himmel zu spät. Wo zum Teufel bleiben die beiden?«
So hörte Weston zum erstenmal, daß sie zwei Spanier abholen sollten. Warum mußten Spanier ins Land geschmuggelt werden? Die auf der Hand liegende Antwort lautete, daß sie entweder mit Drogen handelten oder Terroristen waren. Farley hatte überzeugend gewirkt, als er behauptete, mit Drogen nichts zu tun zu haben, blieben also Terroristen. Möglich, daß er sich den Terroristen verbunden fühlte, weil sie ebenfalls der Autorität trotzten. An die verpfuschten Leben, den Schmerz, die Toten, die Zerstörung, die sie hervorriefen, würde er keinen Gedanken verschwenden … Und indem er sich erpressen ließ, konnte man von ihm, Weston, ebenfalls behaupten, er verschließe die Augen vor den eventuellen Folgen seiner Handlungsweise. Jeder Mensch hatte seinen Preis, der sich nicht immer in Geld ausdrückte. Der seine drückte sich in Selbstachtung und – wohl auch – Eigeninteresse aus.
An Land begann ein rotes Licht aufzuleuchten – zweimal lang, zweimal kurz, zweimal lang. Die Sequenz wurde wiederholt. »Da sind sie!«
Da sie das Boot verdunkelt hatten, mußte er sich nach achtern tasten. Als er am Heck die Fangleine des Schlauchbootes losmachte, das inzwischen zu Wasser gelassen worden war, kam Farley zu ihm. Er hielt die Nase in die Luft. »Irgendwo gibt’s ’ne ganze Menge Wind. Warum haben die Wetterfrösche den noch nicht entdeckt?« Eine Landratte hätte gelacht, bei der Vorstellung, man könne aufkommenden Wind riechen, ein Seemann wußte, daß man das konnte.
Weston löste die Fangleine und reichte Farley das Ende. Dann stieg er über die Reling ins Schlauchboot hinab. »Leine los!« Die Fangleine landete zu seinen Füßen. Während er die Riemen in die Dollen steckte – Farley wollte nicht, daß er den Außenborder benutzte –, wurde das Schlauchboot von einer ablandigen Strömung langsam davongetragen. Die würde ihm bei der Rückfahrt helfen, denn nach wenigen Minuten schon wurde ihm klar, daß er für jede Hilfe dankbar sein mußte. Da sich das Schlauchboot als mehr denn widerspenstig erwies, mußte er sich so sehr anstrengen, daß ihm der Schweiß über Gesicht, Hals und Rücken lief.
Die Wellenbewegungen wurden schneller, das Wasser brach sich, dann scharrte der Bug über weichen Sand. Er kletterte hinaus und zog das Boot mit Hilfe der Fangleine weit auf den sanft geneigten Strand.
Er hörte sie reden, laut und ohne an ihre Sicherheit zu denken. Und da es ihm wenig sinnvoll erschien, leise zu sein, rief er sie an. Ein Mann sagte etwas in schnellem Spanisch. Er ging hinüber. »Das Boot liegt hier drüben.«
Allmählich nahm er ihre Umrisse war: Es waren drei, nicht zwei. »Wer von Ihnen kommt mit mir?«
Wieder viel Spanisch, dann fragte der eine von ihnen auf englisch: »Was wollen Sie?«
»Wer sind die beiden, die wir abholen sollen?«
»Alle.«
»Wie haben nur zwei erwartet.«
»Wir gehen alle.«
Innerlich fluchte er. Das Schlauchboot trug nur jeweils zwei. »Dann muß einer von Ihnen hier bleiben, und ich werde ihn später abholen.«
Der englischsprechende Mann übersetzte und löste einen heftigen Wortwechsel aus – so klang es jedenfalls für ihn. Dann wurden sie ruhiger.
»Okay«, hieß es dann. »Die beiden gehen mit, ich warte.« Er führte die beiden Männer, die auf ihn zu kamen, zum Schlauchboot hinüber. »He, helfen Sie mir mal!« Sie rührten sich nicht. Fluchend wuchtete er das Boot wieder ins Wasser. »Nun kommt schon!«
Die Keystone Cops hätten sich nicht ungeschickter anstellen können. Sie stolperten, stießen zusammen, rutschten aus, planschten, und als sie endlich im Heck saßen, waren sie fast so naß, als hätten sie schwimmen müssen.
Er ließ eine Taschenlampe aufleuchten, damit Farley wußte, daß sie unterwegs waren, und eine sehr matte Lampe einschaltete, nach der sie sich richten konnten, dann stieg er selbst ebenfalls ein. Der eine Riemen war frei, der andere nicht; er zog, doch als er frei kam, stieß der Mann, der auf ihm gesessen hatte, einen Angstschrei aus und bewegte sich so unkontrolliert, daß das Boot heftig schaukelte. Weston fragte sich, ob es nicht besser sei, von Bord zu gehen.
Er schob die Riemen in die Dollen und begann zu pullen. Wenn das Rudern auf der Herfahrt mühsam gewesen war, so wurde es jetzt, trotz der unterstützenden Strömung, beinah unmöglich. Seine Muskeln beschwerten sich bitterlich, und seine Finger drohten zu verkrampfen.
Farleys Begrüßung beim Anlegen war charakteristisch. »Wo zum Teufel seid ihr gewesen – auf ’nem gottverdammten Picknick?« Dann sprach er Spanisch. Die Passagiere standen auf, das Schlauchboot stieg mit einer Welle, einer von ihnen verlor das Gleichgewicht und konnte sich gerade noch festhalten. Auf englisch fluchend beugte sich Farley über die Reling und hievte die beiden Männer mit Westons Hilfe nacheinander an Bord. »Los, los, beeil dich! Die Crew auf den Patrouillenbooten kann nicht die ganze Nacht verschlafen. Und wenn sich da nicht ’n Sturm zusammenbraut, bin ich der Fliegende Holländer.«
»Willst du den anderen denn nicht mitnehmen?«
»Was soll das heißen?«
»Da haben drei Mann gewartet. Und weil ich nur zwei mitbringen konnte, hab ich den dritten am Strand gelassen und ihm gesagt, daß ich ihn später hole.«
Farley fuhr herum und redete auf die Spanier ein, die naß und bedrückt im Heck standen. Als er ihre Antwort hörte, fluchte er abermals. »Warum habt ihr nicht gleich noch ein paar Dutzend mehr mitgebracht? Fahr los und hol den Idioten!«
Weston legte ab und ruderte zum Strand zurück. Der dritte Spanier stieg mühelos und ohne Probleme ein. Als er merkte, daß Weston auf der Rückfahrt ermüdete, übernahm er wortlos einen der beiden Riemen. Beim Umsteigen auf die Cristina II stellte er sich kaum weniger geschickt an als Weston selbst.
Nachdem das Schlauchboot fest vertäut war, nahm die Motorjacht volle Fahrt auf. Bei Kurs Nord-West, kam die See über ihren Backbordbug herein, und die Dünung querab, so daß das Boot eine ungleichmäßige Schlingerbewegung entwickelte, bei der der Bug, aus dem Rhythmus geraten, mit einem vibrierenden Aufprall und unter aufstiebender Gischt wiederholt auf einen Wellenkamm schlug.
Als er den Salon betrat, entdeckte Weston, daß zwei der Passagiere erschöpft in ihren Sesseln lagen und eindeutig an Seekrankheit litten. Beide waren Ende des mittleren Alters und hatten die aufgedunsenen Züge und schlaffen Körper von Männern, die zu viel saßen und zu wenig Bewegung hatten. Wie Terroristen sahen sie wirklich nicht aus.
Der dritte Passagier stand im Ruderhaus neben dem Backbordsessel. Beträchtlich jünger als seine Begleiter, wirkte er körperlich so durchtrainiert, wie sie verweichlicht. Er sprach in schnellem Spanisch auf Farley ein. Farley antwortete kurz, dann sagte er zu Weston: »Er will wissen, wer du bist, weil ich eine spanische Crew haben sollte. Ich habe ihm erklärt, daß ich nur zwei Passagiere erwartet hätte. Damit sind wir quitt.«
Als der Spanier abermals etwas sagte, gab es eine hitzige Auseinandersetzung, bei der Farley unterlag. Verärgert und ohne Rücksicht darauf, daß der Spanier möglicherweise etwas verstand, sagte er zu Weston: »Der Kerl ist so verdammt mißtrauisch, daß er seinen Vater auffordern würde, ihm zu beweisen, daß er einen Sohn gezeugt hat. Ich mußte ihm erklären, du seist ein uralter Kumpel von mir, der in Restina war, als Miguel ins Krankenhaus kam, daß du ein Mann bist, dem ich mein Leben anvertrauen würde, meine Frau und …« Er unterbrach sich, weil der Bug von einer See gepackt und nach Steuerbord herumgeworfen wurde. Hastig legte er das Ruder nach Backbord um. »Geh hin, hör dir den Wetterbericht an, ja? Das Funkgerät ist auf Alacho eingestellt, die jede Stunde Seewettermeldungen durchgeben – zuerst auf spanisch und dann auf dem, was die hier als englisch bezeichnen.«
Das Funkgerät stand auf einer Halterung am Bugschott des Salons. Weston schaltete es ein. Nach ein paar Minuten Musik kam eine Pause, eine Reihe von Zeittönen, und dann begann ein spanischer Sprecher loszurattern. Während er wartete, beobachtete er die beiden Passagiere. Wem würde als erstem übel werden? Der Ansager ging zu Englisch über und war, trotz Farleys Warnung, gut zu verstehen.
Weston kehrte ins Ruderhaus zurück. »Jetzt haben sie endlich doch erkannt, daß sich ein Sturm zusammenbraut. Der Wind dürfte wohl Stärke sieben erreichen, die See mäßig bis rauh werden.«
»Das ist nicht wichtig?« fragte der Spanier,
»Ein Unwetter ist immer wichtig«, entgegnete Farley kurz.
»Wir kommen in der richtigen Zeit an?«
»Mit einem Boot kommt man dann an, wenn die See einen ankommen läßt.«
»Aber wir müssen zur richtigen Zeit ankommen.«
»Dann wende dich an den lieben Gott.«
»Sie verstehen nicht …«
»Ich verstehe nur soviel: Wenn der Wind und die See so loslegen, wie dieser Wetterbericht es voraussagt, halten wir auf den nächsten Hafen zu.«
»Das werdet ihr nicht tun!«
Verwundert drehte sich Farley zu dem Spanier um. In diesem Moment klatschte eine Welle so heftig gegen den Bug, daß sie aus dem Kurs geworfen wurden. Fluchend drehte Farley am Rad. Das Boot stampfte schwer. Weston hielt sich am Rand der Arbeitsplatte fest, aber der Spanier wurde gegen das Schott geschleudert.
Geduckt starrte Farley durchs Fenster, als versuche er die Dunkelheit zu durchdringen, über den Horizont hinauszusehen und die Wucht des Unwetters einzuschätzen.