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Fünfunddreißig Jahre zuvor war Restina ein winziger Fischereihafen an der Costa del Sol gewesen, der noch in der Vergangenheit lebte. Relativ unzugänglich, war er nur über eine einzige Straße zu erreichen, die des öfteren, wenn es in den Bergen stark regnete und der torrente überfloß, vom Wasser weggespült wurde. Die einzigen Fremden, die den Ort aufsuchten, waren bärtige junge Männer und Frauen mit strähnigen Haaren gewesen, die mit dem Rucksack auf dem Rücken nach dem Sinn des Lebens suchten, wenig oder gar kein Geld besaßen und die Vorzüge der Armut priesen. Die Dorfbewohner, die die Armut kannten, hielten sie für verrückt und behandelten sie daher mit Nachsicht.

Dann hatte sich ein Bauunternehmer mit einem Landrover über die unwegsame Straße gewagt. Er war ausgestiegen, hatte die kleinen, primitiven Steinhäuser betrachtet – nur eines davon besaß grüne Fensterläden, und das wurde von einer gefälligen Witwe bewohnt –, die einzige Bar, den einzigen Kramladen, das knallblaue Meer und die ramponierten, auf den Strand aus unberührtem Sand gezogenen Fischerboote, und sah Hotels, Appartements, Restaurants, Cafés, Geschäfte, Eissalons, Diskotheken …

Fünfunddreißig Jahre war Restina ein überfüllter, weltbekannter Urlaubsort; der Bauunternehmer war jetzt Multimillionär und hatte all sein Schwarzgeld außer Landes in Sicherheit gebracht; und die Dorfbewohner, betrogen, verwirrt, ihrer Wertmaßstäbe beraubt, waren zu unerwünschten Flüchtlingen geworden, die nicht mehr begreifen konnten, warum die eigenen Kinder ihre Autorität nicht anerkannten und sie auslachten, weil sie nicht lesen und schreiben konnten: Selbst die gefällige Witwe (oder vielmehr ihre Nachfolgerin) mußte feststellen, daß nur wenige so dumm waren, ihr die paar Pesetas zu zahlen, die sie verlangte, während die jungen, schönen Ausländerinnen ihre Gunst herschenkten.

José Muñoz sah durch das Fenster der Bar, wie Miguel in sein Escort-Cabriolet stieg und davonbrauste. Er leerte sein Glas und stellte es auf die Theke. Der Barmann, ein griesgrämiger Galicier, griff zur Brandyflasche und wollte nachschenken. »Nein, danke«, sagte Muñoz.

»Macht einhundertdreißig.« Der Galicier war ein Mann von wenigen Worten.

»Einhundertdreißig für zwei Coñac? Nimmst du jetzt etwa Touristenpreise, du Gauner?«

Der Galicier reagierte nicht auf diese Beleidigungen. »Schreib’s an.«

Er zog eine Schublade auf und holte mehrere kleine, unordentliche Papierstapel heraus, die jeweils mit einer Büroklammer zusammengehalten waren. Er suchte den richtigen und schrieb etwas auf den obersten Zettel. »Eintausendfünfzehn. Spätestens Samstag.«

»Schon gut, schon gut. Ich bezahl dich ja schon am Samstag; sonst kriegst du noch einen Herzanfall.«

Einer der anderen Männer in der Bar sagte: »Tu’s nicht, dann haben wir wenigstens alle was zu lachen.«

Muñoz verließ die Bar und ging in Richtung Hafen an Läden vorbei, die kitschige Touristensouvenirs verkauften, an Cafés, Bars und einigen Restaurants. Er klimperte mit den Münzen in seiner rechten Tasche. Miguel war nach Ronda gefahren, um seine Tante zu besuchen, eine alte Jungfer, die angeblich im Sterben lag – eine Fahrt, die er nicht etwa aus Liebe unternahm, sondern weil die Alte mehrere Grundstücke besaß, die vielleicht Millionen Pesetas wert waren. Daher hatte er nun Zeit genug, die blonde Norwegerin zu suchen, die keine Gelegenheit ausließ, ihren üppigen Körper vorzuführen, der so kurvenreich war, daß er selbst einen Siebzigjährigen ins Leben zurückgerufen hätte.

 

Miguel Bartret war nicht nach Ronda gefahren – er hatte gehört, daß seine Tante sich inzwischen wieder erholt hatte –, sondern nach Oreda, dem Nachbarort. Um 11.15 Uhr kehrte er nach Restina zurück, stellte den Wagen auf einen der Parkplätze am Hafen und wanderte über den mit Kopfsteinen gepflasterten Weg, der etwa fünfhundert Meter weit am Strand entlangführte. Auf halbem Weg bog er vom Pflaster in den Sand ab und suchte unter den Sonnenanbetern nach Märthe. Er fand sie nicht. Er sprach mit dem Mann, der die Tretboote verlieh, und der antwortete nicht ohne eine gewisse boshafte Belustigung, daß Märthe zwar am Strand gewesen, dann aber mit einem anderen Mann weggegangen sei.

»Wer war das?« erkundigte sich Bartret wütend.

»José. Wußtest du das nicht?«

Er fluchte ausgiebig. José, sein bester Freund, ein Zigeunerbastard, der Märthe angestarrt hatte wie ein Hund eine läufige Hündin …

Er fuhr nach Hause und suchte sein größtes Jagdmesser heraus. Als seine Mutter ihn mit dem Messer in der Hand sah, erklärte er ihr, er sei auf der Suche nach einem Stück mierda, und wenn er ihn finde, werde er ihm die cojones abschneiden. Sie hätte ihn gern gewarnt, das sei zu gefährlich, war aber eine viel zu stolze Mutter, um so kleinmütige Worte auszusprechen. Nimmt man einem Mann die Ehre, nimmt man ihm alles, wofür er lebt.

Bartret suchte überall, wo man Märthe und José erwarten konnte – ohne Erfolg. Dann fiel ihm ein, daß sie ihn oft gebeten hatte, mit ihr auf den Puig Leone zu fahren, zu einem Aussichtspunkt auf dem Gipfel. Er hatte ihrer Bitte niemals entsprochen, weil er das für Zeitverschwendung hielt. Aber ein condón wie José könnte bereit sein, ihren idiotischen Wunsch zu erfüllen, um dadurch ihre Zuneigung zu erringen.

Auf der Hauptküstenstraße konnte er rücksichtslos aufs Gaspedal treten. Sobald er auf die schmale, schnurgerade Straße abgebogen war, konnte er noch rücksichtsloser fahren. Und selbst auf der gewundenen Bergstraße blieb er für jeden, der sich zufällig auch auf der Straße befand, gefährlich.

Die Aussichtsplattform, etwa zweihundert Meter unterhalb des Gipfels, war planiert und verbreitert worden, bis sie etwa zwei Touristenbusse und ein Dutzend Personenwagen aufnehmen konnte. Jetzt standen keine Busse, doch ein Dutzend Personenwagen da, einer davon Josés ramponierter grüner Ibiza. Zu sehen waren jedoch nur ein Pärchen und eine Gruppe von vier Personen, nicht aber die beiden, hinter denen er her war. Dieses hinterhältige Schwein war mit ihr irgendwohin gegangen, wo er ihr, wer weiß was, rauben konnte! Und solange sie keine geübten Bergsteiger waren, blieb als einzige Möglichkeit ein Felsgrat auf der linken Seite, ein Zugang zu einer Gruppe von Pinien, die dort unerklärlicherweise in schöner Abgeschiedenheit wuchsen. Also kletterte Miguel über das Schutzgeländer auf den Felsgrat hinaus.

Er fand sie hinter den Bäumen im Schatten eines Felsvorsprungs. José war eindeutig verlegener als Märthe, denn er packte sein Hemd und hielt es vor sich, während sie, ein stilles Lächeln auf den schönen Lippen, wortlos zusah. Miguel zog sein Messer und stürzte sich, von wilden Flüchen begleitet, auf José. Dabei verfing sich sein rechter Fuß in einer Felsspalte, er schlug lang hin, sein Kopf prallte auf einen Stein, und er verlor das Bewußtsein.

 

Farley betrat die Bar Español und sprach mit dem mürrischen Galicier. »Ich suche Miguel Bartret. Bei ihm zu Hause war ich schon, aber er war nicht da, und seine Mutter auch nicht. Haben Sie eine Ahnung, wo ich ihn finde?«

Wäre ein anderer Fremder in die Bar gekommen, um sich nach Bartret zu erkundigen, hätte der Galicier ihm entweder nicht geantwortet oder geleugnet, ihn zu kennen. Doch Farley mit seiner freundlichen, munteren Art vermochte selbst einem Mann wie dem Galicier eine winzige Reaktion zu entlocken. »Sie besucht ihn im Krankenhaus.«

»Was ist passiert?«

»Den Schädel hat er sich gebrochen«, antwortete einer der anderen Männer in der Bar.

»So ein Pech!«

»Glück für José.« Alle lachten.

Farley bestellte für jeden einen Drink und holte, als sie serviert worden waren, eine Packung Zigarren heraus. Wie das dem armen Miguel denn passiert sei, erkundigte er sich. Sie erzählten es ihm, und sogar der Galicier fügte eine anzügliche Bemerkung hinzu.

Farley verließ das Café und ging zum Hafen hinunter bis zu einem Holzgebäude, in dem während der Saison ein Fernsprechamt für Touristen eingerichtet worden war. Er suchte die Nummer des staatlichen Krankenhauses in Ronda heraus und bat die Frau hinter dem Schalter, ihn zu verbinden. Nach einer knappen Minute winkte sie ihn zu einer der Zellen.

Wenn man in Spanien um eine Auskunft gebeten wird, ist es üblich, selbst dann jegliche Kenntnis irgendwelcher Dinge zu leugnen, wenn man die Aufgabe hat, Informationen zu erteilen. Unter Einsatz all seines Charmes gelang es Farley, die Krankenhausangestellte, mit der er sprach, zu veranlassen, Auskunft über Miguel Bartrets Zustand zu geben.

Bartret habe einen Schädelbruch, berichtete sie ihm, und obwohl man keine Schädigung des Gehirns vermute, werde es ein paar Tage dauern, bis die Ärzte sicher sein konnten und ihn beruhigt entlassen würden.

Farley bezahlte das Gespräch, verließ das Amt und ging zu einem Stand, um sich ein Pistazieneis zu kaufen. Beim Essen starrte er auf die Boote, die im westlichen Teil des Hafens vertäut waren, während er Miguel in Gedanken mit spanischer Phantasie und englischer Grobheit kräftig verfluchte. Nur noch zwei Tage und er hatte keine Crew! Was zum Teufel sollte er tun? Allein fahren? Das wäre möglich, aber leichtsinnig. Und er mochte zwar wirken, als nehme er das Leben nicht schwer, doch auf dem Wasser war er niemals leichtsinnig. Also mußte er einen anderen Mitfahrer finden. Es gab noch etwa ein Dutzend Fischerboote, die vom Hafen aus arbeiteten, und jeder dieser Fischer wäre ein tüchtiges Crewmitglied gewesen, aber wie konnte Farley sicher sein, daß er dann den Mund hielt? Miguel hätte den Mund halten müssen; auf die anderen Fischer konnte er keinen Druck ausüben …

Er beobachtete eine Ketch, die mit Motorhilfe von ihrem Liegeplatz ablegte und dann Richtung auf den Hafeneingang nahm. An einer jungen, langbeinigen Frau, die den Spinnaker zum Aufziehen klarmachte, kritisierte er jede Bewegung, weil er als eingefleischter Traditionalist der festen Überzeugung war, daß Segelboote und Frauen nicht zusammenpaßten … Aus irgendeinem Grund brachte der Anblick dieser Frau ihn jedoch auf einen Gedanken. Er steckte sich einen Stumpen an, rauchte und erwog seine Idee. Anfänglich erschien sie ihm absurd. Ein gesetzestreuer Mann würde sich nie freiwillig zu einem gesetzwidrigen Unternehmen bereit erklären; und brachte man ihn mit einem Trick dazu, würde er das so bald wie möglich den Behörden melden. Doch während die Gesetzestreue dieses ehrlichen Mannes unverrückbar blieb, war das mit seiner Reaktion auf etwas Gesetzwidriges möglicherweise ganz anders, wenn er von der Vergangenheit geprägt worden und in ihm eine Loyalität verankert war, die stärker war als jene zu seiner Auffassung von Gesetzestreue …

Am St. Brede’s hatte es, wie in allen anderen Schulen auch, für jeden Anfänger eine Anzahl ungeschriebener Gesetze gegeben, die er zu lernen und zu befolgen hatte. Und das allerwichtigste davon war: Du sollst deine Kameraden nicht verraten. Selbst wenn man gnadenlos tyrannisiert wurde, durfte man das unter gar keinen Umständen einer Autoritätsperson gegenüber zugeben. Und Gary Weston gehörte zu jenen naiven Idealisten, die sich diese Loyalität auch noch bewahrten, nachdem das Leben sie gelehrt hatte, daß es weit besser ist, ausschließlich sich selbst treu zu sein.