11
»Ich kann Ihnen ein paar Pillen geben, die Ihnen über die nächsten Tage hinweghelfen werden«, erbot sich der Arzt. Weston schüttelte den Kopf. Er sah zu, wie die Männer den grünen Leichensack, der in der Mitte durchhing, zur Haustür trugen und erschrak über Stephanies würdelosen Abschied von diesem Haus, auf das sie so stolz gewesen war.
»Wenn Sie Ihre Meinung ändern, können Sie mich jederzeit anrufen, auch zu Hause.«
»Vielen Dank.«
Der Arzt ging. Verunsichert, ohne über das nachzudenken, was er tat, folgte Weston seiner gewohnten Routine. Er schloß und verriegelte die Haustür, kontrollierte die Fensterverschlüsse, schloß und verriegelte die beiden Hintertüren. Als er in die Halle zurückkehrte und hinter dem Kaschanteppich die Blutflecken auf dem Parkettboden sah, machte er sich bittere Vorwürfe, daß er sich, als sie noch lebte, nicht mehr Mühe gegeben hatte, aus ihrer Ehe einen Erfolg zu machen.
Mrs. Amis hatte einen Schlüssel zu der Hintertür, die direkt in den Küchentrakt führte, und da diese normalerweise entriegelt war, wenn sie zur Arbeit kam, konnte sie sie von außen aufschließen. Am Donnerstag morgen jedoch fand sie die Tür verriegelt. Nicht ohne Genugtuung drückte sie mehrmals auf die Klingel.
Benommen schreckte Weston aus dem Schlaf. Er sah, daß der Überwurf auf dem anderen Bett lag, und wunderte sich, daß Stephanie gebadet, sich angekleidet und das Bett gemacht hatte, ohne daß er es merkte … Dann aber kam er zur Besinnung und erinnerte sich, daß das Bett nicht benutzt worden war.
Die Klingel wollte nicht verstummen. Er warf seine Decke zurück, stieg aus dem Bett und zog schnell einen Morgenrock über.
Er ging nach unten, durch Küche und Anrichte, und entriegelte die Tür. Mrs. Amis kam herein und fragte, während er die Tür hinter ihr schloß: »Na, anstrengende Nacht gehabt, Mr. W.?« Mit Stephanie hätte sie nie in diesem scherzhaften Ton gesprochen.
»Es hat einen schweren Unfall gegeben. Mrs. Weston ist gestern von oben heruntergestürzt und hat dabei den Tod gefunden.«
Die Ungeheuerlichkeit dieser Tragödie erschütterte sie tief. »Großer Gott!« Sie war eine harte Frau, die ein hartes Leben hinter sich hatte, aber das Mitgefühl mit den Leidenden war ihr dabei nicht abhanden gekommen. Sie versuchte ihm Ausdruck zu verleihen, und wenn ihre Worte auch banal waren, das Gefühl dahinter war echt.
Er bedankte sich; dann sagte er: »Es ist wohl besser, wenn Sie heute wieder nach Hause gehen.«
»Aber ich muß doch irgendwie helfen können!«
Er zögerte. »Sie könnten vielleicht die Halle aufräumen.«
»Keine Sorge.« Sie versuchte, ihr Unbehagen angesichts der ihr bevorstehenden Arbeit zu verbergen. »Entschuldigen Sie, wenn ich frage, aber haben Sie Mrs. Badger schon informiert?«
»O Gott, nein!«
»Dann sollten Sie das besser jetzt tun.«
Er ging in die Küche, durch den schmalen Gang in die Halle und von dort in den Salon. Das schnurlose Telefon stand auf einem Tischchen neben dem Sessel, den Stephanie immer benutzt hatte. Er nahm es und tippte die Nummer ein.
Als sich nicht sofort jemand meldete, sagte er sich erleichtert, sie müsse ausgegangen sein. Doch gerade als er auflegen wollte, vernahm er ihre verkniffene, überdeutlich artikulierende Stimme: »Hier Crosford eins sieben sechs eins drei fünf.«
»Monica! Hier Gary.«
»Guten Morgen, Gary. Ist das nicht ein zauberhafter Tag heute?«
Ihrer unerschütterlichen Höflichkeit war nicht anzumerken, wie sehr sie ihn verabscheute. »Ich habe leider schlechte Nachrichten.«
»Geht es um … Stephanie?«
»Ja. Sie hatte einen sehr schweren Unfall.«
»Nein!« kreischte sie in dem verzweifelten Versuch, die Wahrheit zu leugnen.
»Sie ist vom Treppenabsatz gefallen …«
»In welchem Krankenhaus liegt sie? Was sagt der Arzt?«
»Daß sie nicht gelitten haben kann, weil sie auf den Kopf gefallen ist. Der Tod ist sofort eingetreten.«
»Du meinst doch nicht etwa … Das kann doch … Sie kann nicht tot sein …« Ihre Worte überstürzten sich, ohne jeden Zusammenhang.
Dann aber riß sie sich zusammen, und er begriff, daß sie ihn sofort beschuldigte, Stephanie getötet zu haben.
Der Arzt war noch altmodisch genug, um sich Sorgen um seine Patienten zu machen. Auf dem Heimweg zum Lunch sprach er in Francavilla vor. »Ich wollte sehen, ob Sie vielleicht jetzt etwas nehmen wollen, das Ihnen hilft?«
»Ich komme schon durch«, gab Weston zurück.
»Wie Sie wissen, gibt es Zeiten, da ist es ganz einfach dumm, die Ohren steifzuhalten.«
»Aber schwierig, es nicht zu tun, wenn man im St. Brede’s gewesen ist.«
»Tja, die englischen Internate haben eine Menge angerichtet, von Burgess und Maclean ganz zu schweigen … Haben Sie schon an die erforderlichen Maßnahmen gedacht?«
Weston sah ihn verständnislos an.
»Die Beerdigung«, erklärte der Arzt. »Nach meiner Erfahrung ist es am besten, das alles so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Mit der Zeit wird es nur schwieriger. Weil Ihre Frau seit vielen Monaten nicht mehr bei mir gewesen ist und ihr Tod ein Unfall war, muß natürlich eine Autopsie vorgenommen werden, das ist aber reine Formalität. Das hiesige Beerdigungsinstitut, Rainer and Desmond, ist sehr tüchtig und taktvoll. Falls Sie keinen anderen Vorschlag haben – soll ich mich vielleicht darum kümmern?«
»Ach ja, bitte.«
»Hat Ihre Frau jemals erklärt, was sie vorzieht, Beerdigung oder Einäscherung?«
»Sie hat nie über den Tod gesprochen.«
»In ihrem Testament steht auch nichts?«
»Ich habe nicht nachgesehen.«
»Dann tun Sie das doch bitte, und informieren Sie mich dann.«
Der Arzt verabschiedete sich. Weston schloß die Haustür und ging ins Wohnzimmer, wo er sich einen Drink einschenkte. Verwundert mußte er feststellen, wie wenig er von den vielen Problemen wußte, die ein Todesfall mit sich brachte.
Detective-Constable Turner stellte den CID Escort auf dem Parkplatz ab und fuhr mit dem Lift ins Divisional HQ, das Hauptquartier der Abteilung, hinauf. Durch einen kurzen Gang gelangte er ins allgemeine CID-Büro, wo er an seinem Schreibtisch Platz nahm, auf das große Anschlagbrett starrte und über Pauline nachdachte.
»Phil – ich muß Sie kurz sprechen!« rief jemand von der Tür herüber. Er sah gerade noch den Detective-Sergeant verschwinden.
Turner seufzte. Traf sich Pauline noch mit diesem geschniegelten Mistkerl aus dem Tennisclub, der mit einem Morgan rumkutschierte, oder hatte sie wirklich zu Hause zu tun und half ihrer Mutter, wie sie behauptete? Er verabscheute Tennis!
Turner stand auf und ging durch den Korridor zum Büro des Detective-Sergeants. Waters saß an seinem Schreibtisch und las in einem Bericht. Er war ein typischer Oldtimer, der mit einem Auge stets auf seine Pension schielte und eher bemüht war, Probleme zu vermeiden, als polizeiliche Untersuchungen zu unterstützen, weil er in einem Jahr pensioniert wurde.
Waters korrigierte etwas mit seinem Bleistift, dann blickte er auf. »Wir haben einen Bericht aus Crosford erhalten; eine Mrs. Badger behauptet, ihr Schwiegersohn habe ihre Tochter ermordet.«
»Und warum befragt Crosford ihn nicht?«
Ein leicht verärgerter Ausdruck huschte über Waters’ kantiges, schweres Gesicht. »Weil der Schwiegersohn in unserem Revier wohnt, darum. Weston heißt er, und die Adresse ist Francavilla, Trefoil Road, Baston Common.«
»Komischer Name für ein Haus.«
»Wäre Ihnen Seaview vielleicht lieber? Die Tochter heißt Stephanie und ist gestern nachmittag – wenn man einer zerschlagenen Armbanduhr trauen darf – um sechzehn Minuten nach vier vom Treppenabsatz gefallen und mit dem Kopf aufgeschlagen. Sie war sofort tot. Als der Ehemann nach Hause kam, hat er sie gefunden.«
»Und wo war die Mutter?«
»In ihrem Haus in Crosford.«
»Wieso kann sie es dann so genau wissen?«
»Das werden Sie eben feststellen.«
»Hören Sie, Sarge, wenn wir jeder Beschwerde einer Schwiegermutter nachgehen würden, müßten wir fünfundzwanzig Stunden pro Tag arbeiten, und nichts würde dabei rauskommen.«
»Jemand hat einen Mord gemeldet, also müssen wir reagieren. Fangen Sie an!«
Turner kehrte ins allgemeine Büro zurück, sprach kurz mit einem Kollegen, ging zu seinem Schreibtisch und nahm Platz. Dann rief er das Büro des Coroners an. »Hallo, Mac. Wie geht’s?«
»Ich heiße Tom, und es geht mir mies.«
»Man kann nicht immer recht haben. Was können Sie mir über Mrs. Stephanie Weston erzählen? Sie ist gestern bei einem sogenannten Unfall ums Leben gekommen, also muß sie bei Ihnen sein.«
»Moment.«
Er lehnte sich im Sessel zurück und legte die Füße auf den Schreibtisch. Wenn Pauline ihn gegen diesen Tennisbubi ausspielen wollte, würde er sich eben die Brünette beim Bäcker ein bißchen näher ansehen, die ihm so schöne Augen machte …
»Sind Sie noch da?«
»Mrs. Weston kam gestern abend. Auf dem Einlieferungsschein steht nur was von Unfallsturz mit tödlichen Kopfverletzungen. Bisher noch keine vorläufige Untersuchung erfolgt. Wieso sind Sie interessiert?«
»Ihre Mutter behauptet, der Ehemann hätte sie umgebracht. Könnte es Mord gewesen sein statt Unfall?«
»Fragen Sie die Pathologie, nicht mich.«
»Würden Sie denen sagen, daß sie bei der Autopsie wirklich gründlich vorgehen sollen?«
»Und damit andeuten, daß sie das nicht immer tun? Kommt nicht in Frage!«
Der Coroner rief am Samstag vormittag an. »Im Fall Mrs. Weston.«
Turner, der bemüht war, ein Formular korrekt auszufüllen, mußte nachdenken, bis er sich erinnerte.
»Ich hatte heute Zeit für eine erste äußere Untersuchung. Die Verletzungen am Kopf scheinen mit dem Aufschlag auf eine harte Fläche übereinzustimmen. Sonst weiter keine Anzeichen von Verletzungen, bis auf eine Prellung in Magenhöhe, die unmittelbar vor dem Tod erfolgt sein muß. Und zwar in Gestalt einer horizontalen Linie in einer Höhe von einem knappen Meter.«
»Irgendwelche Hinweise darauf, was das verursacht haben kann?«
»Ein Schlag mit einem festen, vermutlich abgerundeten Gegenstand, etwa einer dickeren Stange.«
»Und wenn sie sich über ein Geländer gebeugt und das Übergewicht bekommen hat?«
»Das würde nicht ausreichen.«
»Na schön. Sie lief, stieß dagegen und bekam dann das Übergewicht.«
»Möglich.«
»Können Sie’s nicht genauer sagen?«
»Nicht vor der eigentlichen Autopsie, und selbst dann gibt es möglicherweise keine definitive Antwort.«
»Sie machen mir das Leben nicht leicht.«
Nach dem Gespräch ging Turner zum Büro des Detective-Sergeant, entdeckte, daß Detective-Inspector Rentlow ebenfalls dort war, und wandte sich ab.
»Ja?« rief Rentlow hinter ihm her.
Seufzend kehrte er zur offenen Tür zurück. »Nicht so wichtig, Sir.«
»Typisch für die Einschätzung wichtiger Informationen durch einen DC.«
Sarkastisches Schwein, dachte Turner.
»Also, was ist denn nun so unwichtig?«
»Der Coroner hat angerufen, Sir. Er hat Mrs. Weston einer äußeren Untersuchung unterzogen, die Autopsie aber noch nicht durchgeführt. Die Kopfverletzungen passen zu dem Sturz. Außerdem hat er eine horizontale Prellung quer über dem Magen entdeckt, die entweder durch einen Schlag mit einer dicken Stange entstanden ist oder dadurch, daß sie unmittelbar vor ihrem Tod sehr heftig gegen etwas wie das Geländer gestoßen ist.«
»Nicht ausreichend, um zu entscheiden, ob es Mord war, wie ihre Mutter behauptet?«
»Nein, Sir. Wir müssen auf die Autopsie warten.«
»Und was tun Sie bis dahin?«
»Ich dachte, ich könnte die Höhe des Geländers im Haus ausmessen.«
»Ein Mann mit gedanklicher Initiative!«
Turner ging. Es wurde allgemein vermutet, daß Rentlow bald befördert wurde; und da das bedeutete, daß er das Divisional HQ verließ, wartete so manch einer ungeduldig auf diesen Tag. Nicht, daß er mehr von ihnen verlangt hätte als jeder andere DI oder ihnen nicht beistand, wenn es Probleme gab; aber er gab niemandem eine Chance, festzustellen, was für ein Mann er wirklich war, und solange man die Schwächen eines Menschen nicht kannte, befand man sich ihm gegenüber immer im Nachteil.
Besonders schwer war es für Weston zu akzeptieren, daß das Leben weiterging, und wenn die Trauer auch noch so schmerzhaft war. Er hockte zusammengesunken in einem Sessel im Wohnzimmer und starrte auf den Fernsehschirm, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Er wurde eher von Schuldgefühlen gequält als von Kummer. Völlig aufrichtig gegen sich selbst, akzeptierte er die Tatsache, daß seine Ehe nicht glücklich gewesen und ihr Tod nicht der überwältigende Verlust für ihn war, der er hätte sein müssen; doch als er in Gedanken Szenen aus der Vergangenheit rekapitulierte, stieß er immer öfter auf Gelegenheiten, da er ihr hätte näherkommen können, wäre er nur bereit gewesen, der Mann zu sein, den sie sich wünschte …
Die Haustürklingel ertönte. Er beschloß, sie zu ignorieren. Als die Freunde zum Kondolieren kamen, war es schwer zu entscheiden gewesen, wer dabei verlegener war, er oder sie. Da der Tod ein modernes Tabu war, wußte niemand damit umzugehen.
Wieder die Klingel; und noch einmal. Er stand auf, ging durch die Halle und öffnete die Haustür.
»Mr. Weston? Ich bin Detective-Constable Turner. Tut mir leid, daß ich Sie in einer solchen Zeit belästigen muß, aber ich muß mit Ihnen sprechen.«
Der Mann hatte sich nur knapp entschuldigt, aber Weston war es lieber so. Er beobachtete Turner, als dieser das Haus betrat. Etwas jünger als er selbst, kräftiger gebaut und mit Sicherheit in besserer körperlicher Verfassung, mit einem kantigen Gesicht, das nicht mal eine Freundin hübsch genannt hätte, das aber durchaus Charakter verriet. Er schloß die Tür.
»Ich bin gekommen, weil wir nach jedem tödlichen Unfall im Haus die Umstände recherchieren müssen. Damit die Ursachen analysiert und später Ratschläge entwickelt werden können, die eine Wiederholung vermeiden helfen. Ich werde mich so kurz wie möglich fassen.« Er wandte sich um und blickte quer durch die Halle zur Treppe und den freien Absatz darüber. »Ist Ihre Frau von da oben heruntergefallen?«
»Ja.«
»Und Sie waren zu diesem Zeitpunkt nicht anwesend?«
»Nein.«
»Vermutlich waren Sie im Büro?«
»Nein … Wieso ist es wichtig, wo ich war?«
»Entschuldigen Sie, Mr. Weston, doch wie gesagt, ich muß Ihnen diese Fragen stellen. Litt Ihre Frau in letzter Zeit unter Ohnmachts- oder Schwindelanfällen?«
»Nein. Aber wenn Sie etwas über ihre Krankengeschichte erfahren wollen, sollten Sie sich an ihren Arzt wenden.«
»Es ist nur leider so, daß viele Menschen nicht zum Arzt gehen, weil sie fürchten, erfahren zu müssen, daß ihnen wirklich etwas fehlt … Hätten Sie was dagegen, wenn ich hinaufgehe und die Höhe des Geländers ausmesse?«
»Warum?«
»Das könnte wichtig sein, falls es vielleicht ein bißchen zu niedrig ist. Eine Vorschrift hinsichtlich der Mindesthöhe könnte in Zukunft Menschenleben retten.«
Turner wartete; als Weston schwieg, durchquerte er die Halle und stieg die Treppe hinauf. Mit einem Metallmaßband maß er die Höhe der kräftigen, ovalen Oberstange des Geländers. Von der Oberfläche des dicken Teppichs bis zum höchsten Punkt maß er einen Meter. Er richtete sich auf, ließ das Maßband wieder zurückschnurren und musterte den Teil der Halle hinter dem Geländer. Er fand nichts – kein Bild, das zurechtgerückt werden mußte, keine Lampe, die eine neue Birne gebraucht hätte –, wonach die Tote möglicherweise gegriffen hatte.
Er kehrte nach unten zurück. »Vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich finde allein hinaus.«
Flüchtig dachte Weston, daß diese Information vermutlich nichts weiter tun würde als Staub ansammeln, und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Das Fernsehprogramm hatte gewechselt und brachte einen Naturfilm. Er betrachtete ihn, hätte später aber kaum sagen können, wovon er handelte.