24
Weston trat ans Fenster und spähte durch einen Spalt zwichen Vorhang und Rahmen hinaus. Der Pfarrer erwies sich als recht clever. Er würde seinen Wagen vor der Haustür abstellen – das würde nicht auffallen, weil er während der Nacht oft rausgerufen wurde –, und Weston würde, sobald weder Verkehr noch Fußgänger auf der Straße zu sehen waren, in den Fond steigen und sich ducken. Dann würden sie nach Sevilla fahren, wo Weston die erste Maschine nach England nehmen konnte. Als er zögerte, einem Geistlichen mitten in der Nacht eine so beschwerliche Reise zuzumuten, erwiderte der andere nur, daß Herrero, der befehlende Sargento der Ortspolizei, ein gewiefter, harter, ehrgeiziger Mann, mit Sicherheit hochstehende Kontakte in der Agosto Seis habe und vermutlich alles tun würde, um zu verhindern, daß die Wahrheit über Jaime Bauzers Tod ans Licht kam. Inzwischen würde er die gesamte Provinz zur Fahndung nach dem Engländer aufgefordert haben, der – wie die Anmeldung im Hotel erwiesen haben würde – mit einem falschen Paß reiste, und da so viele Angehörige der Policía Armada y de Trafico, der Ortspolizei, der Staatspolizei und der Guardia Civil Mitglieder der Agosto Seis waren, würde die Suche so gründlich durchgeführt werden, wie es nur äußerst entschlossenen Männern möglich war …
Weston hörte einen Wagen kommen; dann sah er einen Renault 19, der aber weiterfuhr. Er beobachtete, wie er verschwand, und fragte sich, ob der Pfarrer recht hatte, mit seiner Überzeugung, daß sein Kommen und Gehen nicht auffallen würde. Zu normalen Zeiten vermutlich. Aber wenn Herrero entschlossen war, sich seine Beute zu holen – würde da nicht jede Bewegung, die auch nur im geringsten ungewöhnlich war, seine Aufmerksamkeit erregen?
Der Pfarrer hatte ihm kurz zu erklären versucht, warum es so wichtig war, daß die Mitglieder der Agosto Seis die Wahrheit über Bauzers Tod vertuschten. Die Spanier hielten viel von Symbolen, häufig mehr als von der dahinterstehenden Wirklichkeit. Für die Mitglieder der Agosto Seis war General Bauzer nicht nur der Gründer ihrer Gemeinschaft, sondern auch ihr geistiger Führer; und der sechste August war der Tag gewesen, an dem Franco, der mit dem Flugzeug aus Marokko kam, das große Glück hatte, in Sevilla Alfonso Bauzer zu begegnen – ein Treffen, das den Sieg über die Linke herbeigeführt hatte. Welches zeitgenössische Symbol konnte also mächtiger sein als eines, das einen Bauzer, Marokko, Sevilla, Bajols und den sechsten August in sich vereinigte? Jaime Bauzer war nach Marokko gereist, um mit einem Boot, das von einem Engländer gesteuert wurde (Franco war heimlich mit einem Flugzeug zurückgekehrt, das von einem Engländer gesteuert wurde), heimlich nach Spanien zurückzukehren; nach der Landung wäre er nach Bajols und von da aus weiter nach Sevilla gereist, um pünktlich am sechsten August anzukommen. Dort hätte er seine Anhänger aufgefordert, sich zu erheben und gegen die Regierung loszuschlagen, die Spanien verraten hatte, indem sie ihr geliebtes Land den Übeln des Sozialismus, der Fremdherrschaft, der permissiven Gesellschaft öffnete …
Nichts vermochte eine Sache so klein und häßlich aussehen lassen, nichts ihre Absurdität deutlicher machen als Lächerlichkeit. Und was wäre lächerlicher als ein rundlicher, verweichlichter Mann mittleren Alters, der sich aufmacht, um den Caudillo und den General zu imitieren, und dann einen ruhmlosen, seekranken, hilflosen Tod durch Ertrinken erleidet, bevor er auch nur einen Fuß an die Küste Spaniens gesetzt hat?
Doch alles konnte noch gerettet werden, wenn man allgemein der Überzeugung war, Jaime Bauzer habe einen tödlichen Unfall gehabt, der nichts mit der Sache zu tun hatte. Ohne lächerliche Erinnerungen, über die man sich lustig machen würde, konnte sodann ein anderer Mann vortreten und an einem anderen sechsten August in Sevilla den Kreuzzug proklamieren. Doch wenn dieser Plan Erfolg haben sollte, durfte es keinen ausländischen Zeugen für die Wahrheit über Bauzers Tod geben …
Wieder hörte Weston einen Wagen kommen, der diesmal bremste und zum Stehen kam. Selbst bei der unzulänglichen Straßenbeleuchtung wirkte der grüne Seat Ritmo, als komme er direkt vom Schrottplatz. Wie in aller Welt sollten sie damit über die Berge nach Sevilla kommen? Mit vier platten Reifen und einem inbrünstigen Gebet?
In Heathrow nahm er die Underground und traf nach einmaligem Umsteigen auf der Randall Common Station ein. Draußen wartete ein Taxi. Er nannte seine Adresse. Der Fahrer schimpfte über die kurze Fuhre.
Als er das Haus betrat, rief er: »Mrs. Amis!«
Sie kam, Handtasche in der einen, Plastikregenmantel in der anderen, aus der Tür zum Küchendurchgang. »Sind Sie das? Ich wollte gerade nach Hause, es wird Zeit.« Damit forderte sie ihn heraus, sie darauf hinzuweisen, daß sie noch zehn Minuten Zeit habe. »Ich wußte gar nicht, daß Sie verreisen wollten.«
»Das wußte ich bis zuletzt selbst nicht. Hat sich irgend etwas ereignet?«
»Nein, alles war ruhig«, antwortete sie zögernd.
»Irgendwelche Nachrichten?«
»Ich habe alles aufgeschrieben.«
»Oder Besucher?«
»Nur die beiden Detectives.«
»Was wollten sie?«
»Sie. Ich habe gesagt, ich wüßte nicht, wo Sie sind. Da waren sie ein bißchen verärgert, aber ich habe ihnen erklärt, daß ich nichts damit zu tun habe. Na ja, dann will ich mal.« Sie machte kehrt, um in den Küchentrakt zurückzukehren, hielt aber noch einmal inne. »Da war heute noch ein Anruf, aber den habe ich nicht aufgeschrieben, weil keine Nachricht hinterlassen wurde.«
»Wer war das?«
»Keine Ahnung. Gab mächtig an, wie wichtig es sei, daß er mit Ihnen spricht, aber ich hab ihm immer wieder erklärt, ich wüßte nicht, wo Sie sind, es sei denn vielleicht unten in Kent.«
Sie betrat den Durchgang.
»Mrs. Amis«, rief er ihr nach. Und als sie nicht sofort reagierte, lief er eilig hinter ihr her. Als er jedoch den Durchgang betrat, war sie schon an der Außentür. »Einen Moment!«
Widerwillig ließ sie den Türgriff los.
»Haben Sie den Mann nach seinem Namen gefragt?«
»’türlich. Aber er hat nicht geantwortet, und außerdem hätte ich den sowieso nicht verstanden. Weil der nämlich Ausländer war.«
Angst bohrte sich ihm ins Herz. »Woher wissen Sie das?«
»Konnte nicht richtig Englisch reden. Und außerdem, er hat sich nicht mal bedankt, daß ich ihm die Telefonnummer gegeben habe.«
»Welche Telefonnummer?«
»Die von Mrs. Stevens. Dachte, Sie wären möglicherweise dort.« Sie lächelte verschmitzt.
»Wie konnten Sie nur!« schrie er.
Sie war entsetzt; nicht von seiner Ausdrucksweise, sondern weil ihr klar wurde, daß sie unwissentlich etwas ganz furchtbar Dummes getan haben mußte, wenn er in diesem Ton mit ihr sprach. Sie murmelte eine Entschuldigung, aber er machte auf dem Absatz kehrt und jagte in die Halle zurück. Sie hörte, wie er den Telefonhörer abnahm und wählte; dann verschwand sie, weil sie nicht mit den Folgen dessen, was sie angeblich falsch gemacht hatte, konfrontiert werden wollte.
Niemand meldete sich. Vermutlich war Kate ausgegangen, zum Einkaufen oder Besuche machen, vielleicht lag sie aber auch wie Stephanie auf dem Fußboden, getötet, weil sie nicht verraten konnte, wo er war. Als er gerade 999 wählen wollte, fiel ihm ein, daß es viel schneller gehen würde, wenn er die Polizei anrief. Er suchte die Nummer im Telefonbuch, wählte und fragte nach Detective-Constable Turner oder Detective-Sergeant Waters. Man stellte ihn zu Waters durch.
»Wir haben uns schon gefragt, wo Sie waren, Mr. Weston …«
»Mrs. Stevens schwebt möglicherweise in großer Gefahr. Sie müssen jemanden zu ihr nach Hause schicken.«
»Was genau …«
»Vergessen Sie diese verdammten Was-Fragen!«
»Ich kann niemanden um einen Gefallen bitten, wenn ich nicht einen triftigen Grund dafür angeben kann. Und nur, weil Sie glauben, daß Mrs. Stevens in irgendeiner Gefahr schweben könnte …«
»Verdammt noch mal, irgend jemand sucht nach mir! Möglicherweise schnappt er sie sich und zwingt sie, zu sagen, wo ich bin. Das aber weiß sie genauso wenig, wie Stephanie es damals gewußt hat.«
»Haben Sie schon versucht, sie anzurufen und zu warnen?«
»Selbstverständlich habe ich das. Es antwortet niemand.«
»Wer könnte sie denn Ihrer Meinung nach bedrohen?«
»Ein Spanier, Victoriano Herrero; ein Sergeant der Ortspolizei von Bajols.«
»Sie glauben wirklich, ein spanischer Polizist könnte nach England kommen, um Sie zu suchen …«
»… und umzubringen. Großer Gott, Mann, er hat die ganze letzte Nacht versucht, genau das zu tun. Ich konnte ihm nur entkommen, weil ein Priester mir geholfen hat.«
»Sie waren in Spanien?«
»Wie hätte ich sonst in Bajols sein können?«
»Aber Sie hatten keinen Paß.«
Wenn er den Detective-Sergeant zum Eingreifen bewegen wollte, mußte er die Wahrheit gestehen – nur ein wahrhaft Verzweifelter würde ein solches Geständnis machen. »Ich habe mir für zweitausend Pfund einen gefälschten Paß besorgt. Um Gottes willen, Sergeant, schicken Sie jemanden zu ihrem Haus, um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung ist!« Damit legte er den Hörer auf.
Er ging hinaus, verschloß die Haustür, doch als er den Schlüssel herauszog, hörte er das Telefon klingeln. Der Detective-Sergeant, der ihm weitere Fragen stellen wollte? Den Sierra hatte er in Kent gelassen, doch der Mercedes stand in der Garage. Obwohl er seit Stephanies Tod nicht mehr gefahren worden war, sprang der Motor sofort an. Ohne zuvor das Garagentor zu schließen, setzte er rückwärts bis auf die Straße: Schon Sekunden konnten über Leben und Tod entscheiden.
Normalerweise fuhr er nicht sehr schnell, jetzt aber jagte er los, als seien alle Höllenhunde hinter ihm her; er ging Risiken ein, bei denen er zu einer anderen Zeit in Angstschweiß ausgebrochen wäre. Nach einer Stunde und zwanzig Minuten hielt er vor dem Melton Cottage.
Er war schon halb ausgestiegen, als er das Geräusch eiliger Schritte hörte; gleich darauf kam Kate in Sicht, packte ihn bei beiden Armen und wollte wissen, warum ein Streifenwagen gekommen war und zwei Polizeibeamte sich erkundigt hatten, ob sie in Gefahr sei. Und sei denn alles in Ordnung mit ihm, wirklich, ehrlich alles in Ordnung?
Um Viertel nach zwei bog ein Streifenwagen in die Einfahrt, und zwei uniformierte Polizeibeamte kamen zur Haustür. Kate ließ sie ein und machte sie mit Weston bekannt.
»Scheint dann ja alles unter Kontrolle zu sein, oder?« sagte der Sergeant.
»Ja, Gott sei Dank«, erwiderte Weston, »hätte aber gut sein können, daß etwas passiert war.«
»Bei unserem Job, Mr. Weston, kann ständig alles mögliche passieren, gewöhnlich aber passiert es nicht.« Er sah aus wie ein harter Mann, ohne Sinn für die Gefühle anderer, doch dieses flüchtige Lächeln zeigte, daß der Schein trügen konnte. »Werden Sie von jetzt an hierbleiben?«
»Das werde ich allerdings.«
»Dann brauchen wir uns, glaube ich, keine Sorgen mehr zu machen.«
»Sie werden das Haus nicht weiter beobachten?«
»Ach wissen Sie, wenn wir bei einem so ausgedehnten Revier irgend etwas Spezielles beobachten wollen, fehlen uns die Leute anderswo. Nachdem Sie also nun hier sind, sollte Mrs. Stevens keine Gefahr mehr drohen, und wir können weiterfahren. Sollte aber dennoch etwas passieren, rufen Sie uns sofort an, dann wird ein Streifenwagen bei Ihnen sein, noch ehe Sie den Hörer wieder auflegen können.«
Es war klar, daß Weston ihre Beteuerungen hinnehmen mußte. Er bot ihnen einen Drink an, den sie ablehnten, bedankte sich für ihre Mühe und brachte sie hinaus. Als sie um die Hausecke herum verschwanden, fragte er sich, ob er sich mit seiner Angst lächerlich gemacht hatte. Vielleicht hätte er erwähnen sollen, daß Mrs. Amis einem wandelnden Katalog unlogischer Abneigungen glich und der Anrufer möglicherweise kein Ausländer, sondern nur jemand gewesen war, der mit einem starken regionalen Akzent sprach.
Ihr Schlafzimmer, der größte der drei oberen Räume, lag an der Ostseite des Hauses und hatte eine Balkendecke sowie zwei Schiebe- und ein Giebelfenster. In die Fläche zwischen der Außenwand und dem dicken Mittelkamin, der aus dem Wohnzimmer emporstieg und das Dach stützte, war ein Schrank eingebaut worden.
Sie hatte das Zimmer freundlich, doch ohne Rüschen und anderen überflüssigen Schnickschnack eingerichtet. Nun ging sie zu ihrem Bett hinüber, setzte sich ans Fußende und blickte zu ihm empor. Dann streckte sie ihm die Hand entgegen. Er ergriff sie, sie zog ihn neben sich und kuschelte sich an ihn. »Ständig hab ich an dich denken müssen. Ich habe mir einzureden versucht, daß es dir gut geht, aber dann hab ich mir immer wieder die gräßlichsten Sachen vorgestellt. Es wurde so schlimm, daß ich eine Schlaftablette nehmen mußte, von der ich dann noch schlimmere Alpträume bekommen habe. Irgendwo hab ich mal gelesen, daß man nicht träumt, wenn man eine Schlaftablette genommen hat; die Leute haben ja keine Ahnung!
Gestern nacht habe ich ein bißchen schlafen können ohne Tablette. Und wenn ich wach war, hab ich ein Spiel gespielt wie früher, als Kind. Wenn irgend etwas Bestimmtes geschah, würde alles gutgehen; wenn ich den Kuckuck vor zehn Uhr rufen hörte, wärst du heil und gesund. Ich hatte ihn in der letzten Woche jeden Morgen gehört, doch heute morgen gab der kleine Kerl keinen einzigen Piepser von sich. Dann sah ich einen Polizeiwagen kommen, und mir wurde eiskalt, weil ich wußte, jetzt würden sie kommen, um mir zu sagen, daß du tot bist … Sie wüßten zwar nicht, warum, sagten sie, aber sie seien gekommen, um nachzusehen, ob alles mit mir in Ordnung sei. Am liebsten hätte ich sie geküßt, denn das bedeutete, daß du am Leben und gesund warst … O Gott, mein Liebling, was hab ich durchgemacht!« Sie sah, daß er etwas sagen wollte. »Na ja, du mußtest gehen, und ich mußte bleiben. Daran hat auch die Emanzipation nichts geändert.« Sie umarmte ihn fester. »Aber jetzt können wir uns beide entspannen.«
»Zwölf Stunden Schlaf mit schönen Träumen von grünen Landschaften?«
»Du hast ja keine Ahnung von Frauen! Zieh mich aus!« Sie löste sich von ihm und stand auf.
Sie trug ein Baumwollkleid mit leuchtend buntem Blumenmuster, das vorne fast bis zur Taille geknöpft war. Er öffnete die Knöpfe und griff nach dem Rocksaum, um ihr das Kleid über den Kopf zu ziehen. Das Telefon klingelte.
»Gar nicht beachten«, verlangte sie.
»Aber es könnte die Polizei sein, die uns kontrolliert.«
»Warum mußt du denn so vorsichtig sein!« Sie küßte ihn, um ihm zu zeigen, daß ihre Worte liebevoll gemeint waren. Dann ging sie ums Bett herum, setzte sich auf die Nachttischseite und nahm den Hörer. Sie lauschte, sagte etwas, bedeckte die Sprechmuschel. »Es ist Hannah, und das bedeutet, daß es ein Halbstundengespräch wird. Geschieht dir recht.«
Sie hörte weit länger zu, als sie selber sprach, sah, daß er sie beobachtete, und verdrehte die Augen. Dann grinste sie, schob ihren rechten Unterrockträger von der Schulter, wechselte den Hörer ans andere Ohr und streifte auch den linken ab. Sie griff um den Rücken herum und öffnete den Verschluß ihres BHs, hielt ihn aber mit dem rechten Unterarm an seinem Platz.
»Als Strip ist das ein ganz alter Hut«, bemerkte er, »aber der Stil ist vielversprechend.«
»Wenn du nichts Besseres zu sagen hast, wirst du niemals erfahren, ob es …« Sie nahm die Hand von der Sprechmuschel. »Ja, Hannah, ich bin noch da, und du hast recht, Bill war ziemlich unfreundlich zu dir, aber du weißt ja, daß er einen merkwürdigen Humor besitzt. Neulich erst …« Sie hielt inne, wartete, legte den Hörer auf. »Getrennt. Um so besser.« Sie bewegte den rechten Unterarm, aber der BH blieb an Ort und Stelle. »Na, wie ist das, in puncto Stil?«
Statt es ihr mit gleicher Münze heimzuzahlen, starrte er nur aufs Telefon. Dann griff er an ihr vorbei, nahm den Hörer ab und hob ihn ans Ohr.
»Bitte sehr, wenn du zuerst deinen Börsenmakler anrufen mußt …« sagte sie.
»Die Leitung ist tot.«
»Wir wurden getrennt. Ich finde das gut, aber du hast es offenbar nicht sehr eilig. Vielleicht möchtest du in einem der anderen Zimmer schlafen?«
»Es kommt kein Weckzeichen.«
»Faszinierend!«
»Begreifst du denn nicht? Das könnte bedeuten, daß jemand die Leitung durchgeschnitten hat!«
»Großer Gott!« flüsterte sie entsetzt.
Er lief ins benachbarte Schlafzimmer, schloß die Tür, damit das Licht aus dem Flur nicht zu sehen war, und trat an das einzige Fenster. Es war eine klare Nacht, aber es gab keinen Mond, und die Sicht war ziemlich schlecht. Er konnte gerade noch die Umrisse des Mercedes und des Sierra neben der Garage ausmachen, die er als Maßstab benutzen konnte: Danach zu urteilen, standen weitere Fahrzeuge draußen. Er ließ den Blick durch den Garten wandern. Nirgends eine Bewegung. Vielleicht konnte nur jemand, der bereits in Panik war, befürchten, das unterbrochene Telefongespräch könne bedeuten, die Leitungen seien durchschnitten. Und dennoch war da heute morgen dieser Anruf von, laut Mrs. Amis, einem Ausländer gewesen, der seinen Namen nicht genannt hatte …
Er glaubte zu sehen, daß sich zwei Schatten bewegten, doch als er seinen Blick zu konzentrieren versuchte, war da nichts. Die Angst weckte Phantome. Doch die Agosto Seis versuchte vermutlich verzweifelt, die Wahrheit zu kaschieren, und Herrero hatte sich als Fanatiker erwiesen, der vor nichts zurückschreckte. Lieber ein Feigling als eine Leiche. Nun gut, akzeptieren wir die Tatsache, daß da draußen zwei Männer sind, vermutlich bewaffnet, vermutlich mit Schußwaffen. Er selbst hatte nichts, womit er sich verteidigen konnte, nicht mal eine Schrotflinte. Also würden Kate und er, sobald die Männer ins Haus eingedrungen waren, wehrlos sein. Ihn würden sie mit Sicherheit umbringen. Und dann würden sie vermutlich auch Kate umbringen, weil tote Zeugen nicht mehr gefährlich werden können; aber bevor sie sie umbringen, würden sie sie womöglich …
So hilflos er in dieser Lage auch sein mochte, er mußte etwas tun. Angriff sei die beste Verteidigung, hieß es. Aber wie sollte ein unbewaffneter Mann zwei oder gar mehrere andere angreifen, die bewaffnet waren? Beim Judo lernte man, sich auf die Schwäche des Gegners zu verlassen, statt auf die eigene Stärke. Jason hatte ihn erpreßt, indem er auf die weitest verbreitete aller Schwächen setzte … Die Männer draußen würden bestimmt das Haus ausforschen, bevor sie eindrangen; wenn er also auf dieselbe Schwäche setzte wie Jason, um Zeit und Raum für einen Überraschungsangriff zu gewinnen …
Er jagte ins große Schlafzimmer zurück. »Komm mit nach unten!«
Sie hatte Angst, vermochte sie aber zu kontrollieren. »Ist jemand da draußen?«
»Es wäre möglich.«
»Dann wären wir hier oben doch bestimmt sicherer.«
»Nicht mehr, sobald sie hereingekommen sind. Wir müssen etwas tun, um ihre Aufmerksamkeit abzulenken.«
»Wozu?«
Er nahm ihre Hand und zog sie vom Bett hoch; der BH rutschte herunter. »Zieh dich wieder an.«
Sie gehorchte, ohne zu begreifen, was er beabsichtigte, jedoch in der Überzeugung, daß ihre einzige Überlebenschance darin lag, den Plan auszuführen, den er offenbar hatte.
»Ins Wohnzimmer hinunter, aber nicht das Flurlicht einschalten.«
Sie schlichen die Treppe hinab und ins Wohnzimmer. Er knipste eine der Stehlampen an, ging zum Fenster und zog die Vorhänge so weit zu, daß sie noch etwa fünfzehn Zentimeter auseinanderklafften.
»Die können uns ja sehen …« begann sie.
Er wandte sich um. »Schnell, aufs Sofa.«
Er setzte sich neben sie und begann ihr das Kleid aufzuknöpfen. »Was machst du da?« fragte sie ihn mit schriller Stimme.
»Wir haben nur eine einzige Chance, mein Liebes. Sie so sehr mit dem zu faszinieren, was sie sehen, und sie durch das, was sie in einer oder zwei Minuten sehen werden, in Erregung zu versetzen, daß sie das, wozu sie gekommen sind, vorübergehend aufschieben.«
»Und dann?«
»Sobald wir sie am Haken haben, wirst du sie für eine Weile allein unterhalten müssen.«
Nun begriff sie, was er beabsichtigte. »Angenommen …« begann sie ängstlich. Und unterbrach sich. Wenn er recht hatte und da draußen Männer waren, bot ihnen nur dieser verzweifelte Schachzug eine Chance zum Überleben.
Er zog ihr das Kleid über den Kopf, schob ihren Unterrock herunter, öffnete ihren BH. Dann begann er ihre Brust zu streicheln.
»Siehst du jemanden?« fragte sie flüsternd.
»Wenn ich nur halb so leidenschaftlich bin, wie ich mich zu geben versuche, kümmert es mich einen Dreck, wer da draußen ist.« Er zog ihr den Unterrock ganz herunter und liebkoste ihren Körper mit den Lippen; plötzlich jedoch hielt er inne, als hätte ihn etwas gestört, und winkte ihr zu: »Keuch weiter!«
Durch den Flur ging er zum Badezimmer im Erdgeschoß. Dort öffnete er das Fenster, kletterte hinaus und landete auf einem kleinen, halbkreisförmigen Blumenbeet mit Pflanzen, die den Schatten liebten. Dahinter lag der Backsteinbau mit dem Heizungsboiler. Sehr behutsam, weil die Angeln zum Quietschen neigten, öffnete er die Tür. Der gegenwärtige Boiler wurde mit Öl befeuert, früher aber hatte es wohl mal einen Kohlenkessel gegeben, denn an der Rückwand lag ein Schürhaken, ein willkommener Beweis für die Nützlichkeit des Mottos: »Das könnten wir eines Tages noch mal gebrauchen«.
Er packte den Schürhaken mit festem Griff, verließ den Kesselraum und schlich sich draußen, immer auf dem Rasen entlang, leise bis zum Ende des Hauses. Im Schutz der Mauer spähte er vorsichtig um die Ecke. Und entdeckte erschrocken, daß er tatsächlich recht gehabt hatte. In dem Lichtstreifen, der aus dem Wohnzimmer fiel, sah er zwei Männer, deren Gesichter durch etwas verdeckt waren.
Zunächst verhielt er sich noch ruhig, denn es konnte weitere Eindringlinge geben, die sich noch nicht von dieser seltsamen Show ablenken ließen. Die einzige Möglichkeit, das festzustellen, war abzuwarten, ob noch jemand auftauchte; aber je länger er wartete, desto sicherer würden sich die beiden sichtbaren Männer irgendwann fragen, warum sich jemand, der sich mitten in einer heißen Liebesszene befand, auch nur für einen kurzen Moment entfernte.
Als er um die Ecke trat, war er sich vor lauter Anspannung nur allzu deutlich des Raschelns seiner Kleidung, des Schlurfens seiner Schuhe über das Gras, der Geräusche des eigenen Atems bewußt. Aber die beiden Männer starrten wie gebannt auf das Fenster, sie waren in der Tat fasziniert von dem, was sie drinnen sahen.
Als er nahe genug an die beiden herangekommen war, hob er den Schürhaken in Schulterhöhe. Entweder hatte er mehr Geräusche verursacht als zuvor, oder der Instinkt alarmierte den ihm am nächsten stehenden Mann, der sich jetzt zu ihm umzudrehen begann. Unwillkürlich stieß Weston ein lautes, wütendes Gebrüll aus, und dieser unerwartete Lärm, erschreckte die beiden Männer so sehr, daß sie sekundenlang reglos verharrten. Er schwang den Haken, daß er den näherstehenden Eindringling ins Gesicht traf, dann trat er ihm wuchtig zwischen die Beine. Der Mann schrie auf und brach zusammen. Wieder mit dem Haken ausholend stürzte Weston vorwärts, blieb aber mit der rechten Schuhspitze an irgend etwas hängen, so daß er durch den eigenen Schwung krachend zu Boden schlug.
Als er sich wieder aufrappeln wollte, erkannte er im Lichtschein aus dem Wohnzimmer, daß der zweite Mann eine Schußwaffe zog. Er konnte ihn unmöglich erreichen, bevor er schoß, aber er dachte nicht daran, untätig auf das Unvermeidliche zu warten, und warf sich vorwärts. Seine Linke schlug auf etwas Spitzes, Hartes; während ihm der Schmerz durch die Finger schoß, identifizierte er einen der Steine, die das Blumenbeet einfaßten, und sagte sich, daß er dadurch auch zu Fall gekommen sei. Verdammt noch mal, die falsche Magie, dachte er verbittert, als ihm Kates Beschreibung der Steine einfiel. Dann fiel ihm auf, daß die Steine zwar keine magischen Eigenschaften besitzen mochten, dieser aber von handlicher Größe war. Er nahm den Schürhaken in die schmerzende Linke, packte den Stein bei einer seiner stachligen, dreieckigen Spitzen und sprang auf.
Der Mann drückte ab. Der Schuß ging fehl. Er zielte abermals, diesmal mit beiden Händen und fest überzeugt, daß sein Gegner wehrlos sei. Weston hoffte, daß ihn die in der Schulzeit erworbene Wurfstärke als Kricketspieler nicht im Stich ließ, und schleuderte den Stein. Der Stein traf den Mann ins Gesicht – einen Sekundenbruchteil bevor er feuerte. Wieder ging der Schuß daneben. Den Schürhaken in die rechte Hand wechselnd, stürzte Weston vor und rammte ihn mitten in das bereits zerschlagene Gesicht. Der Mann gab blubbernde Laute von sich und schlug, die Automatic fallen lassend, beide Hände vors Gesicht. Weston hob die Waffe auf, obwohl er nicht nur keine Ahnung hatte, wie man mit dieser speziellen Pistole umging, sondern bisher überhaupt noch nie mit irgend etwas geschossen hatte.
Er fuhr herum. Der erste Mann war auf die Knie hochgekommen und versuchte eindeutig etwas aus seiner Jackentasche zu ziehen. Weston hastete hinüber und machte mit boshafter Zielgenauigkeit von seiner Schuhspitze Gebrauch. Als der Mann zusammenbrach, riß er durch eine spontane Bewegung die Waffe aus der Tasche. Weston trat sie ihm aus der Hand und hob sie auf. Wie im Wilden Westen, dachte er benommen. Dann setzte bei ihm die Reaktion ein, und er begann zu zittern.
Kate, im Wohnzimmer, starrte mit vor Entsetzen verzerrtem Gesicht zum Fenster heraus. Jetzt sei alles gut, rief er ihr zu, weil ihre magischen Steine ihm wunderbarerweise das Leben gerettet hätten.