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Bei Tagesanbruch war der Seegang stark und die Dünung, die noch immer in einem Winkel hereinkam, mäßig bis schwer. Die Cristina II war seetüchtiger, als nach Farleys früherer, verächtlicher Beschreibung zu erwarten gewesen war, aber sie lief nicht glatt, sondern stampfte, rollte und schlingerte; alles, was nicht niet- und nagelfest war, lag auf dem Boden; das Vorderdeck nahm immer wieder grünes Wasser über; das Radar funktionierte nicht mehr; und die Geräusche, die Bootskörper und Deck jetzt verursachten, wirkten alles andere als beruhigend.

»Geh raus und sieh mal nach dem Wind!« Farley mußte schreien, um das Tosen des Sturms zu übertönen.

Weston wartete, bis sie auf relativ senkrechtem Kiel fuhren, um dann nach Lee hinüberzugehen und sich zum Bug vorzutasten. Breitbeinig, mit beiden Händen die Reling gepackt, stellte er sich dem Wind. Innerhalb von Sekunden hatte ihn die Gischt bis auf die Haut durchnäßt.

Er kehrte ins Ruderhaus zurück. »Ich würde sagen, er nimmt zu.«

Der Bug stieg und klatschte auf eine herankommende See herunter. Grünes Wasser ergoß sich über den Bug und explodierte zu einem Mahlstrom von Gischt, die der Wind mit einem Geräusch wie das Krachen ferner Artillerie waagerecht so heftig gegen das Vorderschott trieb, daß die Glasscheiben blind wurden.

»Wir sollten lieber in Deckung gehen«, sagte Farley. Er beugte sich vor und nahm die beiden Gashebel zurück, um die Geschwindigkeit weiter zu drosseln. »Sieh auf der Karte nach, und gib mir den Kurs zum nächsten Hafen.«

Der kleine Kartentisch stand am hinteren Schott. Weston knipste die Deckenlampe an und studierte die Karte, die von Schlingerleisten gehalten wurde. Ihre letzte Position, errechnet nach Informationen des elektrischen Navigators, lag eine halbe Stunde zurück. Mit einem Zirkel markierte er die geschätzte Strecke einer halben Stunde auf ihrem gegenwärtigen Kurs. Die Küsten im Norden und Westen waren unwirtlich, mit Klippen besetzt und dem Wetter offen; im Osten lag eine Bucht mit dem kleinen Hafen San Balieu. Mit dem Parallellineal legte er den Kurs dorthin fest.

Mit kurzen, schlurfenden Schritten – nur so konnte man sich fortbewegen – ging er nach vorn. »Es gibt nur eine Möglichkeit – San Balieu. Also wenden und Kurs null-fünf-eins anlegen.«

Farley zuckte die Achseln. »Klarhalten.«

Die hereinkommenden, stets unberechenbaren Wellen beachtend, wartete Farley unter Einsatz seiner Erfahrung und seines Instinktes den richtigen Augenblick ab und legte das Ruder nach Steuerbord um. Eine Zeitlang schien es, als werde alles glattgehen, dann wurden sie von einer kurzen, heftigen See gepackt, die näher herankam als ihre Vorgängerinnen, und schlingerten so stark, daß Bootskörper und Aufbauten in Gefahr gerieten. Nur mit noch intensiverer Umsicht vermochte er sie durch diese Krise und anschließend auf den neuen Kurs zu bringen. »Geschätzte Ankunftszeit?« schrie er.

»Drei Stunden, mehr oder weniger.«

»Dann könnte ich eine Pause und einen Kaffee gebrauchen. Übernimm du.«

Weston stand neben dem Backbordsessel. Farley wartete, bis sie auf Kurs waren, dann überließ er Weston seinen Platz.

Der jüngste der drei Spanier, der zu ihnen ins Ruderhaus kam, verlor fast den Halt, als das Boot rollte. Er klammerte sich an den zweiten Sitz und ratterte hastig etwas auf spanisch herunter. Farley antwortete, und gleich darauf waren sie mitten in einem Streit.

Auf englisch, aber sehr langsam, damit ihn der Spanier verstehen konnte, sagte Farley: »Dieser verdammte Idiot will wissen, warum wir den Kurs geändert haben. Wir müßten weiterfahren wie zuvor, meint er, egal, wie die Bedingungen sind. Verlangt sogar, daß wir wieder schneller fahren.«

»Tut, was ich sage!« schrie der Spanier auf englisch.

Farleys Ton wurde verächtlich. »Ich bin der Skipper, und auf See ist der Skipper Richter, Jury und Henker. Also ändern wir den Kurs und behalten die Geschwindigkeit bei. Dann haben wir wenigstens die Chance, einen Hafen zu erreichen – vorausgesetzt, wir können verhindern, daß das Boot quer angenommen wird.«

»Ich befehle euch zu ändern!«

Farleys Antwort kam kurz und prägnant.

Der Spanier sah aus, als wolle er weiterstreiten, hielt aber den Mund. Wütend starrte er Farley sekundenlang an, dann griff er unter sein Leinenjackett und holte eine kurznasige Automatic heraus. »Kurs ändern! Sofort!«

Anfangs war Farley so verblüfft, daß er regungslos dastand. Dann spannte er die Schultern und trat einen Schritt vor. »Gib mir das Ding, und raus aus dem Ruderhaus, oder ich polier dir die Fresse!«

»Ich schieße!«

»Die Chuzpe hast du nicht!« Farleys wütende Verachtung verhinderte das Aufkommen von Angst.

Der Spanier reagierte blitzschnell – diesmal ohne daß ihn die Bootsbewegungen beeinträchtigten. Er setzte Weston den Lauf der Waffe an die Schläfe. »Kurs ändern, oder ich schieße.«

Weston hatte das Gefühl, der Lauf bestehe aus glühendem Eis. Zum erstenmal war ihm der Tod nahe.

Farley fürchtete vielleicht um sein eigenes Leben, mit Sicherheit aber um Westons. »Hör zu, mir liegt genauso viel daran wie dir, unser Ziel pünktlich zu erreichen. Bei einem solchen Sturm jedoch müssen wir mit diesem Boot Schutz suchen. Wenn wir den Kurs von vorhin anlegen und die Geschwindigkeit wieder steigern, riskieren wir, daß wir kentern.«

Der Spanier antwortete nicht sofort. Und Farley machte einen Fehler. Statt zu schweigen und seine Worte von den heftigen Bewegungen des Bootes bestätigen zu lassen, versuchte er die spannungsgeladene Situation durch einen müden Witz zu entschärfen. »Und wenn wir einen Tag später kommen? Ist doch ein alter spanischer Brauch.«

»Sofort Kurs ändern, oder ich schieße!« brüllte der Spanier.

»Der meint es offenbar ernst, Aggie«, sagte Farley. »Also tu schon, was er sagt. Bring uns so schnell wie möglich auf den alten Kurs.«

Bei diesem Seegang war es nicht ratsam, den Kurs zu ändern; und wenn es nicht anders ging, mußte man dabei sehr behutsam und sehr langsam vorgehen. Also wußte Weston, daß Farley den Kurs schnell geändert haben wollte, weil er hoffte, die daraus resultierenden Schlingerbewegungen würden den Spanier von den Füßen reißen. Er legte das Ruder hart an Backbord.

Eine See fegte herein, und wenige Sekunden lang schwenkte der Bug sogar nach Steuerbord; dann gehorchte er dem Ruder und kam herum. Das grüne Wasser wusch über das Vorderdeck und krachte gegen das Ruderhausschott. Sie rollten, die Reling tauchte unter Wasser, rollten zurück …

Obwohl sie vorbereitet waren, wurden sowohl der Spanier als auch Farley aufs Deck geschleudert. Farley erholte sich als erster und wollte aufstehen; dabei rutschte sein rechter Fuß auf einem zu Boden gefallenen Bleistift aus, und er stürzte erneut. Bis er sich nun wieder aufrappelte, war der Spanier schon auf den Beinen und preßte Weston den Lauf seiner Waffe an den Hals. Farley machte sich auf die Folgen seines Versagens gefaßt, doch wie er merkte, hatte der Spanier keine Ahnung, daß kein Rudergänger bei einem solchen Wetter den Kurs ändern würde, wenn er nicht wollte, daß das Chaos losbrach.

Der Spanier sah auf seine Uhr. »Wie lange noch bis Restina?« Er stieß Weston den Lauf gegen den Hals.

»Kann ich nicht sagen ohne die Karte«, antwortete Weston gepreßt.

Der Spanier sagte etwas auf spanisch. Farley trat vorsichtig an den Kartentisch. Die Schlingerleisten verhinderten, daß die Karte zu Boden fiel, darüber hinaus aber gab es noch einen sandgefüllten Segeltuchbeutel, den er beiseite schob, bevor er den Zirkel nahm und die Entfernung von ihrer geschätzten Position bis nach Restina feststellte.

»Zwölf Stunden.«

»Wir kommen nicht vor Abend an?«

»Wenn wir bei diesem Tempo auf diesem Kurs bleiben, werden wir weder heute abend noch überhaupt jemals ankommen.«

»Schneller.«

»Den Teufel! Wir gehen ohnehin schon ein wahnsinniges Risiko ein.«

»Mehr Tempo, oder ich schieße.«

»Sind Sie blind? Sehen Sie doch, wie hoch die Wellen sind!« Mit dem linken Arm deutete er hinaus.

Instinktiv spähte der Spanier durchs Fenster. Farley nahm den Segeltuchbeutel und warf nach dem Mann. In diesem Moment begann das Boot zu rollen, so daß der Beutel den Kopf des Spaniers verfehlte und gegen das Schott klatschte. Er schoß. Die Kugel traf Farley in die rechte Schulter und schleuderte ihn rückwärts; er prallte gegen den Kartentisch und rutschte zu Boden.

Wieder rammte der Spanier die Revolvermündung gegen Westons Hals, und nun war sie tatsächlich heiß. »Mehr Tempo!«

Erschrocken beugte sich Weston vor und schob die beiden Gashebel ein wenig nach vorn.

»Mehr! Mehr!«

Er wiederholte das Manöver.

»Wieviel Tempo jetzt?«

»Zehn Knoten«, antwortete er und hoffte nur, der Spanier merkte nicht, daß sich ihre Geschwindigkeit durch die größere Umdrehungszahl unmöglich verdoppelt haben konnte.

Der Wind stieg an bis Stärke acht; die See ging rauher und unberechenbarer, oft genug ganz ohne Rhythmus, so daß sie immer wieder über das Vorderdeck brach. Auf Backbord war der vordere Teil der Reling wie von einer Riesenhand nach innen gedrückt worden; eines der Ruderhausfenster war zersprungen und ließ ein kleines Wasserrinnsal herein; irgend etwas in den Wohnräumen rollte umher und schickte in unregelmäßigen Abständen ein dumpfes Poltern durchs Boot.

Farley lag, die Füße gegen ein Spind gestemmt, auf dem Deck; sein Gesicht war dort, wo es nicht unter dem Bart versteckt war, schneeweiß und verzerrt, mit der Linken drückte er sich ein blutiges Taschentuch an die rechte Schulter. Der Spanier saß, die Hand mit der Waffe locker auf dem Schoß, im Steuerbordsessel, offenbar ohne sich der Gefahr bewußt zu sein. Weston, auf dem Backbordsitz, rief all seine nautischen Kenntnisse zusammen, um sie möglichst heil durch den Sturm zu bringen.

Aber die See wurde immer wütender, und die Notwendigkeit, den Kurs zu ändern und die Geschwindigkeit zu drosseln, wenn sie nicht sinken wollten, immer offensichtlicher.

»Wir müssen einen Hafen ansteuern«, warnte er eindringlich nach langem Schweigen.

»Nein«, antwortete der Spanier.

»Dann müssen wir wenigstens das Tempo drosseln.«

»Gar nichts werden Sie tun!«

Vom Boden her rief Farley erregt: »Geht es denn nicht in deinen Kopf, daß wir sinken, wenn wir so weitermachen? Was kann das denn schon ausmachen, wenn wir einen Tag später ankommen?«

»Wie müssen morgen in Bajols sein.«

»In der Hölle werdet ihr sein!« Die Hand auf seine Schulter gepreßt, sank Farley stöhnend zurück.

Der Spanier wird niemals zur Vernunft kommen, dachte Weston; was immer ihn treibt, ist stärker als sein Selbsterhaltungstrieb. So weiterzumachen würde zu einer Katastrophe führen; sollte er also versuchen, ihm die Waffe zu entreißen? Dafür müßte er das Ruder loslassen, und das Boot würde sofort querschlagen und zu Kleinholz zertrümmert werden. Es gab nur eins, was er tun konnte: den Kurs ändern, aber so vorsichtig, daß niemand es merkte. Dann hatten sie wenigstens die Chance, die Küste zu erreichen, falls das Boot sinken sollte …

 

Um Viertel nach drei Uhr nachmittags, nach fünf Stunden voller Erschöpfung, Nervenanspannung und Angst am Ruder, machte Weston schließlich den Fehler, eine hereinkommende Welle, deren Kamm schon zu brechen begann, falsch einzuschätzen. Der Bug wurde mit einer Wucht, die den ganzen Bootskörper erzittern ließ, nach Steuerbord geschleudert; die zweite Welle, die unmittelbar auf die erste folgte, drückte sie bis übers Deck unter Wasser. Und als er verzweifelt versuchte, das Ruder nach Backbord umzulegen, schlug eine dritte Welle zu.

Farley rutschte übers Deck und krachte gegen ein Schott. Der Spanier wurde zu Boden geschleudert; die Automatic entglitt seiner Hand. Mit einer Hand an den Sessel geklammert, streckte Weston die andere nach den Gashebeln aus, um die Manövrierkraft des Ruders mit den Schrauben zu unterstützen. Der Bug war in dem aufgewühlten Wasser nicht zu erkennen, aber er spürte, wie er langsam herumkam, während das Boot sich aufrichtete. Doch dann, als es schien, als könnten sie noch entkommen, schlug eine weitere Welle über sie herein und drückte einen Teil des Bootskörpers so weit ein, daß sofort Wasser eindrang.