20

Der CID Escort wurde langsamer. Waters, der den Wagen steuerte, erklärte: »Das Haus da drüben ist es.«

Rentlow sah durchs Seitenfenster hinüber. »Der Stein gewordene gutbürgerliche Protz. Erinnert mich an meine erste Razzia: Das Haus sah auch aus, als wär’s von einem älteren Bankier bewohnt, der seit fünfzig Jahren keinen schmutzigen Gedanken mehr gehabt hatte.«

»Und wer wohnte da?« Waters rangierte auf einen freien Parkplatz.

»Ein Ehepaar, das eine Abtreibungsfabrik betrieb und mehr Geld verdiente als ein wohlhabender Bankier.«

Sie stiegen aus und gingen über den Bürgersteig auf Francavilla zu. Der Gärtner, der eines der Beete im Vordergarten jätete, blickte auf, nickte aber nur stumm auf Rentlows Gruß.

Mrs. Amis öffnete die Tür. »Ja?«

Rentlow stellte sich selber vor. »Wir hätten gern Mr. Weston gesprochen.«

Sie ließ sie ein und führte sie schweigend in den Salon. Bevor sie sie allein ließ, schaute sie noch einmal so finster durch das ganze Zimmer, als wolle sie sich vergewissern, daß es nichts gab, was einen flinkfingrigen Polizisten reizen konnte.

Rentlow trat ans nächste Fenster und blickte in den Garten hinaus. »Einer der exzentrischen Dukes of Bedford hatte früher sein Personal angewiesen, zu allen Besuchern so unhöflich wie möglich zu sein, weil er hoffte, die würden sich so darüber ärgern, daß sie rasch wieder verschwanden. Versuchte Weston ihn nachzuahmen?«

»Ich würde sagen, Mrs. Amis ist einfach so. Doch vermutlich ist sie nicht ganz so stachlig, wie es scheint.«

»Eines Tages, Nick, werden Sie mit Ihrer wohlwollenden Meinung noch mal in Schwierigkeiten kommen.«

Es geschah selten, daß der Detective-Inspektor Waters beim Vornamen nannte. Er fragte sich, was ihn zu dieser Zwanglosigkeit veranlaßt haben mochte.

Weston kam. Wieder stellte sich Rentlow vor, um dann die Leitung des Gesprächs zu übernehmen, als sei er hier der Herr im Haus. »Wir werden Sie nicht länger als nötig belästigen, doch da wir eine Menge zu besprechen haben, sollten wir wohl lieber Platz nehmen.« Er machte es sich bequem. »Wie Sie wissen, haben wir Ermittlungen über den unglücklichen Tod Ihrer Frau angestellt, und diese haben ergeben, daß sie das Opfer eines indirekten Mordanschlags wurde. Wenn der Schuldige das Opfer töten will – wenn auch nicht unbedingt auf die Art, wie der Tod schließlich erfolgt –, so ist das Mord; wenn er das Opfer nicht töten wollte, sich aber hinsichtlich der Folgen seiner Handlungsweise fahrlässig verhielt, und diese Handlungsweise nach Ansicht jedes vernünftig denkenden Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tod führen würde, ist das Totschlag. Sicher werden Sie verstehen, daß das Gesetz in jener Grauzone, in der die Fakten des Falles nicht klar und eindeutig auf eine Absicht oder den Grad der Fahrlässigkeit hindeuten, unklar ist. Die praktischen Folgen dieses Unterschieds zwischen Mord und Totschlag sind für den Schuldigen beträchtlich; das eine Verbrechen zieht sowohl in der Theorie als auch in der Praxis eine weit höhere Strafe nach sich als das andere – und ich spreche hier nicht nur über rechtliche Folgen, sondern auch über moralische. Begreifen Sie, warum ich Ihnen dies alles erläutere?«

»Nein«, antwortete Weston gepreßt.

»Nein? Ich werde versuchen, es Ihnen zu erklären. Nicht selten liegt es im Interesse einer Person, die für einen Todesfall verantwortlich ist, die Tatsachen, wenn diese mehr auf Totschlag als auf Mord hindeuten, zuzugeben, statt abzustreiten, denn durch sein Geständnis zeigt er Reue und die Bereitschaft, die ihm zugeteilte Strafe auf sich zu nehmen. Bei ihrem Urteil lassen sich die Richter immer durch sichtbare Reue beeinflussen. Fährt der Mann dagegen hartnäckig fort zu leugnen, und die Wahrheit kommt dann doch ans Licht, sieht der Richter in ihm einen Menschen, der uneinsichtig ist und keine Reue erkennen läßt. Solche Menschen pflegen die Richter mit unnachsichtiger Härte zu bestrafen, denn da sie über jeder Versuchung stehen, vermögen sie vielen menschlichen Schwächen kein Verständnis entgegenzubringen.«

»Ich habe mit dem Tod meiner Frau nichts zu tun.«

»Die Tatsachen deuten auf das Gegenteil hin.«

»Was zum Teufel wissen Sie schon von den Tatsachen? Sie sind ja nur an Vermutungen interessiert!«

»Sie sind also nicht bereit, die Wahrheit zu sagen?«

»Ich habe von Anfang an die Wahrheit gesagt.«

»Und auch jetzt haben Sie nichts weiter hinzuzufügen?«

»Nein.«

»Tut mir leid. Ich hatte gehofft, es wäre anders – um Ihretwillen.«

»Sie wollen mir also vormachen, ein falsches Geständnis läge in meinem eigenen Interesse?«

»Nein, aber ein aufrichtiges Geständnis. Spanien ersucht um Ihre Auslieferung. Sollten Sie sich in England des Totschlags schuldig bekennen, würde das Ersuchen abgelehnt.«

»Spanien tut was

»Ersucht um Ihre Auslieferung mit der Begründung, daß Sie im Drogenhandel tätig waren.«

Weston starrte Rentlow fassungslos an. Im Augenblick konnte er an nichts anderes denken als an die lächerliche Frage, ob er verrückt geworden sei.

»Es wird behauptet, daß Sie an der marokkanischen Küste eine Tonne Cannabisharz geladen hätten, das Sie nach Spanien zu bringen beabsichtigten.«

»Die sind ja wohl vom wilden Affen gebissen!«

»Als Sie von Restina ausliefen, nahmen Sie Kurs Nord, um den Eindruck zu erwecken, sie unternähmen nur einen Ausflug die spanische Küste entlang; nach Einbruch der Dunkelheit änderten Sie den Kurs und liefen südwärts nach Menache; auf der Rückfahrt nahmen Sie den entgegengesetzten Kurs und wandten sich dann nach Süden, um die Fiktion, Sie seien spazierengefahren, aufrechtzuerhalten. Diesen Plan durchkreuzte das Unwetter.«

Nun meldete sich Waters zu Wort und sagte: »Eines hat mich von dem Moment an verwirrt, als Sie uns von Ihrer Fahrt erzählten: Warum sind Sie, als sich herausstellte, daß der Sturm schwer sein würde, nicht in den nächsten Hafen eingelaufen? Jetzt ist das natürlich klar. Sie haben es nicht gewagt, Land anzusteuern, bevor Sie Restina erreichten, weil Sie dort Maßnahmen zur Übernahme der Ladung veranlaßt hatten.«

»Nicht mal ein Gramm Cannabis hatten wir an Bord.«

»Die spanische Polizei sagt, daß sie Beweise dafür hat.«

»Dann lügt sie.«

»Das ist eine schwere Beschuldigung«, warf Rentlow ruhig ein. »Vielleicht sollten Sie sich eines klarmachen: Im Drogenhandel gilt das Sprichwort nicht, daß eine Krähe der anderen kein Auge aushackt. So verkauft zum Beispiel ein Dealer einem Händler eine Partie Drogen und verständigt, sobald letzterer die Segel gesetzt hat, die Behörden. Die wiederum informieren die Polizei des Bestimmungslandes, und der Händler wird verhaftet. Woraufhin der Dealer eine Belohnung für seine Information erhält – gewöhnlich einen Prozentsatz des Ladungswertes. Für den Dealer ist das soviel wie den Kuchen essen und ihn dennoch behalten.«

»Uns hätte kein Dealer melden können, weil wir keine Drogen gekauft haben.«

»Sind Sie nach Marokko gefahren?«

»Wir sind an der spanischen Küste entlanggefahren.«

Rentlow seufzte. »Ich werde wohl nie begreifen, warum durchaus intelligente Menschen darauf bestehen, weiterzulügen, nachdem es doch sonnenklar ist, daß sie lügen. Haben Sie mal ein spanisches Gefängnis von innen gesehen?«

»Natürlich nicht.«

Rentlow lächelte ironisch. »Reichtum, Mr. Weston, schützt nicht immer vor der realen Welt … Spanien hat ein äußerst ehrgeiziges Programm zur Verbesserung seiner Gefängnisse, aber leider werden die ehrgeizigen Pläne, wie überall, von bürokratischen Verzögerungen, inflationärem Druck und kleinen, braunen Kuverts gebremst. Wie ich hörte, sind bisher nur relativ wenige Gefängnisse umgebaut oder modernisiert worden, während die meisten geblieben sind, wie sie waren. Ich hatte einmal Gelegenheit, einen Mann zu verhaften, der fünf Jahre in einem spanischen Gefängnis verbracht hatte. Nach dieser Erfahrung, sagte er mir, sei die Aussicht auf zehn Jahre Dartmoor eine Erleichterung. Entwürdigende Bedingungen entwürdigen, und da die menschliche Natur nun mal so ist, findet ein entwürdigter Häftling oft Vergnügen daran, andere auf sein Niveau herabzuziehen, um so mehr, wenn dieser andere ein Ausländer ist, und vor allem, wenn dieser Ausländer aus privilegierten Kreisen stammt. Ich bezweifle sehr, daß Sie sich den Dreck, die Brutalität und die sexuellen Belästigungen vorstellen können, die in einem alten, überfüllten Gefängnis herrschen. Ich bin sicher, daß Sie nicht unbeschadet daraus hervorgehen würden, weder seelisch noch körperlich.«

»Ich bin unschuldig«, beteuerte Weston erregt.

»Dann können wir nur hoffen, daß es Ihnen gelingt, die spanischen Behörden davon zu überzeugen … Wenn Ihnen das tatsächlich gelingen sollte, kann es natürlich vorkommen, daß eine Untersuchungshaft fast soviel bedeutet wie ein Lebenslänglich, nicht zuletzt, weil das Motto ihres Rechtswesens lautet, mañana wird niemals kommen. Offen gestanden, ich wunderte mich, daß Sie sich weigern, den Schritt zu tun, der Ihnen das alles ersparen kann.«

»Welchen Schritt?«

»Uns die Wahrheit über den Tod Ihrer Frau zu sagen. Wenn hier in England eine Klage wegen Totschlags gegen Sie läuft, werden Sie nicht wegen Drogenhandels nach Spanien ausgeliefert.«

»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.«

»Gar nichts haben Sie uns gesagt.«

»Weil ich nichts weiß.«

»Ein Jammer – für Sie.«

»Warum zum Teufel wollen Sie mir nicht glauben?«

»Weil Sie lügen.«

»Ich sage die Wahrheit, verdammt noch mal! Bis auf die Bootsfahrt habe ich nur die Wahrheit gesagt.«

»Was für eine Bootsfahrt?«

Weston spürte, wie ihm der kalte Schweiß auf der Stirn stand. »Also gut, wir sind nicht an der Küste entlang-, sondern in Richtung Marokko gefahren. Aber wir haben drei Männer an Bord genommen, keine Drogen. Und als Jason sagte, wir müßten einen Hafen anlaufen wegen des Wetters, hat einer von ihnen eine Pistole gezogen und uns gezwungen, weiterzufahren.«

»Waren diese drei Männer Spanier?«

»Jedenfalls haben sie untereinander spanisch gesprochen, und Jason sagte, sie wären Spanier.«

»Dann waren sie vermutlich Drogenbarone.«

»Waren sie nicht.«

»Wieso sind Sie so sicher, wenn Sie nicht mal ihre Nationalität genau kennen?«

»Wenn sie Drogenbarone gewesen wären, hätte Jason sie nicht an Bord gelassen.«

»Etwa Gewissensbisse? Nach meiner Erfahrung kennt das Gewissen nur eine Grenze: die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung. Wenn keine Drogenbarone – etwa Terroristen?«

»Sie sahen nicht aus wie Terroristen.«

»Nicht mal jener, der Sie mit der Pistole bedroht hat? Nicht alle Terroristen sehen so aus wie Che Guevara. Wieviel haben sie Ihnen bezahlt?«

»Ich habe mich geweigert, überhaupt etwas anzunehmen.«

»Schon wieder der Mann mit den Grundsätzen?«

»Ich bin nur auf der Cristina mitgefahren, weil ich mußte.«

»Natürlich gezwungen!«

»Ja, ich wurde dazu erpreßt.«

»Interessante Alternative. Wie wurden Sie dazu erpreßt?«

»Jason hatte eine Party mit zwei Frauen arrangiert, und …«

»Und was? Zögern Sie nicht aus Rücksicht auf Ihre Gefühle. Wir sind verhältnismäßig tolerant.«

»Er hatte von mir und einer der beiden Frauen Fotos machen lassen und drohte sie zu veröffentlichen, wenn ich ihm nicht helfe.«

»O Mann! Bei Ihren Freunden, wer braucht da noch Feinde? … Also, was uns betrifft, so können wir jetzt nur noch den Vorschriften folgen. Wir werden die spanischen Behörden davon informieren, daß Sie abstreiten, mit Drogen zu tun gehabt zu haben, und behaupten, Ihre Ladung habe aus drei Männern vermutlich spanischer Nationalität bestanden. Ich muß Sie aber warnen, daß die Spanier Ihr Leugnen entweder nicht glauben oder vermuten werden, daß die drei Männer Terroristen waren, in welchem Fall sie ganz zweifellos nur um so nachdrücklicher auf Ihre Auslieferung dringen werden.«

»Sie müssen ihnen erklären, daß ich zur Teilnahme an der Fahrt gezwungen wurde.«

»Ich werde eine entsprechende Anmerkung beifügen, aber ich könnte mir vorstellen, daß die Art der Erpressung die Wirkung abschwächen wird. In flagrante delicto erwischt zu werden, löst weit eher belustigte Verachtung aus als mitfühlendes Verständnis.«

»Es interessiert mich einen Dreck, was es auslöst! Es war ganz genau so!«

»Da es ein Weilchen dauern wird, bis unser Bericht die spanischen Behörden und deren abgewandelter Auslieferungsantrag uns erreicht, werden Sie wohl noch eine Weile in Freiheit bleiben. Da es Ihnen einfallen könnte, das Land zu verlassen und anderswo Zuflucht zu suchen, von wo eine Auslieferung weder an Spanien noch an England möglich ist, werde ich Sie um Ihren Reisepaß bitten müssen. Sie können sich weigern, ihn mir zu übergeben. Dann jedoch werde ich einen Beschlagnahmebefehl erwirken, und das wird zweifellos Publicity auslösen. Möglicherweise möchten Sie das lieber vermeiden?« Am liebsten hätte Weston geschrien, in einem freien Land dürfe ein Unschuldiger nicht wie ein Verbrecher behandelt werden, war aber immerhin noch vernünftig genug, einzusehen, daß er das nicht tun durfte. Also ging er in die Bibliothek und kehrte mit seinem Paß zurück.

»Füllen Sie eine Quittung aus«, forderte Rentlow Waters auf.

Waters, der ein halbes Dutzend Blankoquittungen im hinteren Fach seines Notizbuchs hatte, füllte eine aus und unterzeichnete sie. Dann reichte er sie Weston.

»Bis wir wieder voneinander hören«, sagte Rentlow, »vergessen Sie nicht, daß Sie es sich immer noch überlegen können.«

»Was?«

»Daß Sie die äußerst unangenehme Erfahrung einer Gefängnisstrafe in Spanien vermeiden können, wenn Sie sich dazu durchringen, uns die Wahrheit über den Tod Ihrer Frau zu sagen.«

»Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt – immer und immer wieder.«

»Schade.«

Sie gingen. Waters setzte sich ans Lenkrad des Escort. Rentlow legte den Sicherheitsgurt an. »Verdammt, man hätte denken sollen, er hätte genug Verstand, um zu erkennen, wo seine Interessen liegen.«

Waters startete den Motor. »Sind die spanischen Gefängnisse wirklich so schlimm?«

»Keine Ahnung … Also, was halten Sie von dem Ganzen?«

»Ein bißchen wie der Irrgarten von Hampton Court. Je weiter man hineingerät, desto verwirrender wird es.« Er lenkte den Wagen auf die Straße hinaus.

»Sagt er die Wahrheit über die Fahrt nach Marokko?«

»Es klang so. Aber wenn sie nicht Drogen geladen hatten, wieso behauptet die spanische Polizei dann, sie hätte Beweise dafür?«

»Gute Frage. Und die logische Antwort lautet, der Mann lügt. Da die Spanier den Versuch, drei vermutliche Terroristen ins Land zu schleusen, jedoch vermutlich als ein weit schwereres Verbrechen betrachten als den Transport einer Tonne Cannabis – warum gibt er sich dann so große Mühe, diese weit schwerere Beschuldigung zu riskieren? Können Sie sich das erklären?«

»Kann ich nicht.«

»Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, nicht wahr? Daß er uns die Wahrheit gesagt hat.«

»Ich dachte, Sie seien überzeugt, daß er lügt!«

»Ich bin nur davon überzeugt, daß die Dinge, wie Sie sagten, immer verwirrender werden.«