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Ein lautstarker Ausruf ließ Gary Weston aus seinen Gedanken aufschrecken, die gar nicht zu dem strahlenden Wetter paßten. »Na, wenn das nicht der alte Aggie ist!«

Gary Weston drehte sich um und sah einen Mann vor sich, dessen auffallendster Zug ein üppig wuchernder rotblonder Vollbart war. Da der Spitzname »Aggie« aus seiner Schulzeit stammte, versuchte er den Mann mit einem der Jungen zu verbinden, die er damals gekannt hatte. Lockiges Haar, um einen Ton tiefer rot als der Bart, niedrige Stirn, leuchtendblaue Augen, Römernase und inmitten des Bartes sehr sinnliche Lippen; kräftig gebaut, mit ersten, aber deutlichen Anzeichen eines Bauches; Geringschätzung für gepflegtes Aussehen – sowohl T-Shirt als auch Shorts waren zerknittert und hätten sauberer sein können. Er erinnerte sich an nur drei Rotschöpfe, von denen einer jemals Verachtung für Normen an den Tag gelegt hatte. »Jason?« Dann fiel ihm der Spitzname ein. »Windy?«

»Da hat wohl einer bei dir auf der Leitung gestanden.« Farley zog sich einen freien Stuhl heraus und setzte sich, ohne darauf zu achten, daß er nicht im Schatten des Sonnenschirms saß. »Oder hattest du gehofft, wenn du so tust, als könntest du dich nicht erinnern, würde ich wieder verschwinden?« ergänzte er spöttisch.

»Hat eben ein bißchen Zeit gekostet, mir dein Gestrüpp im Gesicht wegzudenken.«

»Immer noch der alte Diplomat.« Suchend sah sich Farley nach dem Kellner um, entdeckte einen, der gerade die Straße überquert hatte, um zu den Tischen am Strand zu gehen, und rief ihm etwas auf spanisch zu. Obwohl der Kellner gerade einen der anderen Tische bedienen wollte, kam er eilfertig herüber.

»Was trinkst du?« erkundigte sich Farley.

»Gin-Tonic. Aber nein, danke, ich möchte nichts mehr.«

»Feigling.« Er sprach mit dem Kellner, der sich entfernte. »Weißt du was? Ich sehe noch heute deine berechnendangewiderte Miene vor mir, als ich dir sagte, daß ich aus der Schule geflogen bin. Und du angestrengt überlegt hast, wie du dich möglichst schnell von mir distanzieren könntest.«

»Falsch, wie immer«, widersprach Weston leicht belustigt. »So weit ich mich erinnere, hab ich mir überlegt, ob ich dir irgendwie helfen kann.«

»Hatte ich etwa gesagt, daß ich Hilfe brauche?«

»Nein, aber nur, weil du das für ein Zeichen von Schwäche hieltest.«

»Du begreifst noch immer nicht! Du hast wirklich keine Ahnung, warum ich mit Madge ins Arbeitszimmer ihres Vaters gegangen bin statt in die Turnhalle, nicht wahr?«

»Ganz recht, denn das war vollkommen verrückt und eine reine Provokation.«

»Das hab ich getan, weil er uns zwei Tage zuvor mit seinen Warnungen vor den Sünden der Lust zu Tode gelangweilt hat. Was wußte dieser scheinheilige, ausgetrocknete Heuchler denn schon von den Freuden der Lust?« Farley lachte schallend. »Und wenn seine Tochter es nicht so sehr genossen hätte, daß sie den Mund nicht halten konnte, hätte er uns nie entdeckt. Später hab ich mich oft gefragt, ob sie ihm wohl geschildert hat, was er da verpaßt haben muß.«

»Da sie seine Tochter war, kann es nicht ganz so großartig gewesen sein, wie du meinst.«

»Die wurde höchstwahrscheinlich aus purem Pflichtbewußtsein gezeugt.«

Der Kellner kam und stellte zwei Gläser auf den Tisch. Farley sagte etwas, das ein flüchtiges Lächeln auf das müde, schweißnasse Gesicht des Kellners zauberte, während der einen Zettel auf den Tischständer spießte. Als er davoneilte, zog Farley den Ständer heran und prüfte die Rechnung. »Blutsauger! Für das, was die hier für zwei Drinks verlangen, kann man einen ganzen Liter anständigen Gin kriegen. Kein Wunder, daß die Barbesitzer im Porsche rumkurven.«

Am Strand erhob sich eine junge, wohlgestaltete Frau, die nur die untere Hälfte ihres Bikinis trug; ohne Eile zog sie sich das Oberteil an. Sie rollte die Matte zusammen, auf der sie gelegen hatte, nahm Handtuch und Handtasche und kehrte quer über die Straße zu einem der Hotels zurück. Farley, der sie beobachtet hatte, wandte sich zum Tisch zurück und trank. »Also, wie wär’s mit einem kurzen Curriculum vitae? Verheiratet, zwei Kinder, Häuschen im Grünen mit Hypothek, und als einzige Ambition lange genug leben, um eine Pension kassieren zu können?«

»Deine Vorstellung vom Mittelpunkt der Hölle?«

»Kombiniert mit einer Schwiegermutter, die Alzheimer hat – allerdings.«

»Ich habe zwar eine Schwiegermutter, doch die ist weit davon entfernt, senil zu sein.« Dafür ist sie bösartig, hätte er fast hinzugefügt.

»Börsenmakler, Lloyd’s, Manager bei NatWest?«

»Public Relations.«

»Hätte nicht gedacht, daß du so gut lügen kannst.«

»Da könntest du recht haben. Man hat mich gerade auf die Straße gesetzt.«

»Du bist arbeitslos?«

»Ich finde den Ausdruck ›freigestellt‹ weit tröstlicher fürs Ego.«

»Und was macht die Dame des Hauses? Pflegt sie in eurem Hotel der Ruhe?«

»Sie ist zu Hause.«

»Man hat dir eine außereheliche Ration von Sonne, Strand und Sex zugestanden?«

»Sie konnte im letzten Moment nicht mitkommen.«

»Du hast schon immer Schwein gehabt.«

»Das Glück lacht nur dem Tüchtigen und dem, der es verdient hat.«

Farley lachte. »Die Kinder hast du hoffentlich im St. Brede’s angemeldet und bringst ihnen die Schulsongs bei – zensierte Version!«

»Wir haben keine Kinder.«

»Dann liest sie wohl lieber Bücher.«

»Weil einer von uns vermutlich unfruchtbar ist«, entgegnete Weston, der seine Aversion gegen so persönliche Fragen zu verbergen trachtete.

Unvermittelt wechselte Farley das Thema. »Erinnerst du dich noch an Tipples, den kleinen Schleimer?«

Jeder von ihnen hatte einen Spitznamen gehabt, einige so grausam, daß sie dem Träger das Leben vergällten. Weston überlegte, bis ihm schließlich ein kleiner, nervöser, ewig heimwehkranker Junge einfiel, der vor Farleys extrovertierter Possenreißerei mehr Angst hatte als vor dem gelegentlich sadistischen Interesse des Klassenschlägers. »Undeutlich.«

»Vor ein paar Jahren war ich in England, da hab ich ihn zufällig in der Mincing Lane getroffen. Der kleine Mistkerl hat so getan, als wüßte er nicht, wer ich bin.« Farley leerte sein Glas, wandte sich um und entdeckte den Kellner, der ihn zuvor schon bedient hatte. Er winkte, und sofort wand sich der Kellner, ohne den Ruf eines anderen Gastes zu beachten, zwischen den Tischen zu ihnen durch.

»Für mich nichts mehr«, erklärte Weston.

Farley sprach sehr schnell mit dem Kellner und sagte, als dieser gegangen war: »Wann warst du zum letzten Mal so richtig schön besoffen?«

»Das ist lange her und war alles andere als schön.«

»Noch immer der alte Miesmacher, wie?« Farley sagte es, als bereite es ihm Genugtuung. »Und wie verbringst du deine Zeit hier in Restina?«

»Mit allem, was man hier so tut. Schwimmen, sonnenbaden, zu viel essen, in vernünftigen Grenzen trinken und den Schlaf des Gerechten schlafen.«

»Keine Weiber?«

»Ich kann sehr gut ohne leben.«

»Man kann auch von Ziegenmilch und Bananen leben, aber wer zum Teufel will das schon? Warst du schon mal im El Diablo

»Ich glaube nicht. Was und wo ist das?«

»Ein Nightclub mit einer Show, die du in Surbiton bestimmt nicht zu sehen kriegst. Ich lade dich ein. Oder erschauert deine konventionelle Seele etwa bei dem Gedanken an etwas Unkonventionelles?«

»Ich bin die personifizierte Toleranz.« Es ärgerte ihn, daß er, genau wie damals als Schuljunge, unwillkürlich bemüht war, nicht das Objekt von Farleys Geringschätzung zu werden.

Der Kellner kam wieder, stellte zwei Gläser auf den Tisch, nahm Farleys leeres mit und spießte die zweite Rechnung auf.

Farley trank. »Segelst du noch?«

»In letzter Zeit nicht; ich hatte einfach keine Zeit.« In der Schule waren sie beide begeisterte Segler und ein hervorragendes Team gewesen. Farley war aggressiv, er selbst vorsichtig – eine nützliche Kombination für Segelregatten auf einem See, von Hügeln umgeben, durch die der Wind unberechenbar wurde. Zweimal hintereinander hatten sie die Schulregatta gewonnen. »Und was ist mit dir?«

»Hier und da schon noch ein bißchen«, erwiderte Farley absichtlich unbestimmt. Er leerte sein Glas. »Wo bist du abgestiegen?«

»Im Bahia Azul

»Dein Spanisch klingt wie bei einem Engländer, der Schwedisch zu sprechen versucht. Ich melde mich, dann gehen wir ins El Diablo. Damit du deiner Frau was erzählen kannst.« Er stand auf. »Ich werde beim Kellner bezahlen, laß dich also nicht von ihm reinlegen.« Er zog einen Zettel vom Nagelständer. »Das sind hier allesamt gottverdammte andalusische Zigeuner, die begaunern einen Blinden, wenn er nicht hinsieht.«

»Eine Runde geht auf mich.«

»He, vergiß nicht – du bist arbeitslos!«

Eine freundliche, wenn auch ungeschickte Geste oder eine rüde, verächtliche? Weston konnte es nicht beurteilen. Ebensowenig wie er zu beurteilen vermochte, ob ihm diese unerwartete Begegnung willkommen war oder nicht.

 

Weston durchquerte sein Hotelzimmer, setzte sich auf das linke Bett, griff zum Telefonhörer und bat die Vermittlung, ihn mit seiner Privatnummer zu verbinden. Es dauerte nicht lange. »Hallo, Liebling, wie geht’s denn so?«

Ohne erkennen zu lassen, ob sie sich über seinen Anruf freute, antwortete Stephanie, es gebe Probleme. Ihre Mutter habe sich nicht wohl gefühlt; sie habe in der Praxis angerufen und dem Doktor ausrichten lassen, er solle sie aufsuchen. Die Sprechstundenhilfe habe sich geweigert, ihre Bitte auszurichten, ohne zu wissen, was der Patientin fehle, damit sie beurteilen könne, ob es wirklich so eilig sei. Ihre Mutter habe diese anmaßende Person zurechtgewiesen. Der Doktor habe ihr erklärt, er habe keine Zeit für einen Hausbesuch, solange sie nicht ernsthaft krank sei, und sie höre sich nicht so an …

Sein ganzes Mitgefühl galt diesem Arzt, aber er versuchte, Öl auf die Wogen zu gießen. »Ich glaube, die Ärzte müssen ziemlich zurückhaltend sein, mit Hausbesuchen …«

Sie unterbrach ihn, um ihm ausführlich ihre Meinung über Ärzte darzulegen, die ihre Patienten wie Luft behandelten und den Weizen nicht von der Spreu zu trennen vermochten. Sie fragte weder, wie es ihm gehe und ob er seinen Urlaub genieße, noch reagierte sie, als er ihr – möglicherweise um eine Spur zu pflichtbewußt – mitteilte, daß sie ihm fehle. Er verabschiedete sich.

Da die Drinks in der Hotelbar teuer waren, kaufte er sich im nahen Supermarkt eine Flasche Gin und drei Fläschchen Tonic und an der Tankstelle eine Tüte Eiswürfel. Er mixte sich einen großzügigen Drink, ging auf den Balkon hinaus und setzte sich dort in einen Korbsessel.

Er trank und mußte sich eingestehen, daß ihn die Begegnung mit Farley durcheinandergebracht hatte. Aber vielleicht wäre es richtiger, zu sagen, daß ihn die Gedanken, die die Begegnung auslöste, durcheinanderbrachten. War sein Leben wirklich so schal geworden, wie Farley angedeutet hatte? Mußte man das Leben wirklich herausfordern, um es voll auszuleben? Mußte Gleichförmigkeit immer ein Zeichen von Bedeutungslosigkeit sein?

Er blickte aufs Meer hinaus, dunkel und konturlos bis auf die Stellen, an denen mattes Mondlicht über die Wellen glitt. Langsam bewegte sich das rote Backbordlicht einer spät heimkehrenden Jacht, die ihrem Liegeplatz zustrebte. Er hatte immer gehofft, auch nach der Schulzeit weiterhin regelmäßig zu segeln, und als er sich noch Tagträumereien leistete, hatte er in Gedanken das siegreiche Zwölfmeterboot des America’s Cup gesegelt … Tagträumereien waren nicht nur das Vorrecht der Jugend. Bei der Junggesellenparty vor seiner Hochzeit, in diesem angenehmen Zustand zwischen nüchtern und betrunken, hatte er sich eingeredet, daß Stephanie vom folgenden Tag an ihr gefühlsmäßig so enges Verhältnis zur Mutter weder brauchen noch wünschen werde … Zyniker behaupteten, die Ehe sei ein Lotteriespiel, aus dem die Gewinnummern entfernt worden seien. Seine eigene Ehe war erst schlechter geworden, als er Stephanie klarzumachen versuchte, daß das Verhältnis zu ihrer Mutter nicht den Vorrang vor ihrem Verhältnis zu ihm haben dürfe …

Er leerte sein Glas und kehrte ins Schlafzimmer zurück, um sich einen neuen Drink zu holen. Wenigstens das hätte Jason Farley gutgeheißen.