10

Als Stephanie und Weston am Mittwoch nachmittag frühstückten, klingelte das Telefon in der Halle. Suchend blickte sie sich im Zimmer um. »Wo ist der Apparat?«

»Tut mir leid, ich habe vergessen, ihn mitzubringen. Soll ich ihn holen?«

»Ach, laß nur. Der Anruf ist vermutlich für mich; ich werde ihn draußen annehmen.« Sie sagte es müde-resigniert, wie üblich, wenn er etwas falsch gemacht hatte.

Er sah ihr nach, butterte sich einen Toast und aß. Als er fast fertig war, steckte Mrs. Amis den Kopf zur Tür herein. »Wir sind gleich fertig«, versicherte er ihr.

Wortlos wandte sie sich ab und verschwand, ohne die Tür zu schließen. Mrs. Amis kam fünf Tage in der Woche und erledigte die Routinearbeiten im Haus, doch immer nur so, wie sie es für richtig hielt, und nicht, wie Stephanie es wünschte. Trotzdem würde Stephanie sie niemals entlassen, denn in Baston Common galt es als vornehm, eine Ganztagshilfe zu haben, auch wenn sie ziemlich widerborstig war.

Als Stephanie wiederkam, nahm sie sich eine zweite Tasse Kaffee und rührte zwei Löffel Zucker hinein. »Das war Mutter«, erklärte sie ihm. »Sie hat eine furchtbare Nacht hinter sich und fühlt sich elend.«

»Hat sie den Arzt verständigt?«

»Er war kurz vor ihrem Anruf fortgegangen. Ihr fehle nichts, behauptet er. Der Mann ist ein Versager.«

»Das glaube ich kaum. Bertie, der auch zu ihm geht, hat mir gesagt, daß er erstklassig ist, aber eben sehr direkt. Ich persönlich würde lieber einen solchen Arzt haben als …«

»Was willst du damit sagen?«

»Nichts. Ich bin nur überzeugt, daß er deine Mutter sehr gründlich untersucht hat.«

»Du glaubst also, sie weiß nicht, ob sie krank ist oder nicht?«

»Es wäre möglich, daß sie das nicht immer weiß.«

»Wie kann man so was Gemeines sagen!«

»Alte Damen, die viel Zeit haben, halten sich manchmal irrtümlich für krank.«

»Willst du jetzt etwa behaupten, sie lügt?«

»Ganz und gar nicht. Ich meine nur, daß du keinen Grund hast, dir so große Sorgen zu machen.«

»Dann sollte eine Tochter sich deiner Ansicht nach wohl keine Sorgen um ihre Mutter machen, wie?«

»Nicht, wenn diese die Krankheit benutzt, um Mitgefühl und Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.«

»Großer Gott, wie du sie haßt!«

Er seufzte. »Das tue ich natürlich nicht. Warum willst du nicht begreifen …«

»Erst neulich hat sie mir gesagt, wie sehr es ihr nahegeht, daß du sie nicht magst, obwohl sie alles getan hat, was sie kann, um mit dir Freundschaft zu schließen.«

»Wenn ich dabei bin, ja.«

»Und was soll das nun wieder heißen?«

»Wenn ich nicht da bin, tut sie alles, was sie kann, um unsere Ehe zu vergiften, weil sie ganz einfach eifersüchtig ist.«

»Für mich hast du eine krankhafte Phantasie.« Sie stand auf. »Ich fahre jetzt rüber und sehe nach, ob ich was für sie tun kann.« Damit forderte sie ihn unausgesprochen zum Widerspruch heraus. Als es klar wurde, daß er sich nicht provozieren ließ, stürmte sie wütend aus dem Zimmer.

Er trank seinen Kaffee. Bestimmt würde sie sich den ganzen Tag lang bei ihrer Mutter darüber beklagen, wie sehr sie unter ihrem Mann zu leiden habe … Dabei fiel ihm ein, daß er ja nun Gelegenheit hatte, Farleys Schwester aufzuspüren und durch sie zu erfahren, ob ihr Bruder überlebt hatte.

Die Tür zum Küchentrakt öffnete sich, und Mrs. Amis kam herein. »Immer noch nicht fertig?« Ihre Miene war so energisch wie ihr Auftreten.

»Einen Moment noch.«

Als sie dann weitersprach, klang ihr Ton weit weniger aggressiv als ihre Worte: Irgendwie mochte sie ihn anscheinend. »Ich hab heute ’ne Menge zu tun.«

Sie erinnerte ihn an die Hausmutter von St. Brede’s.

 

Um ihm den Schmerz der Entlassung ein wenig zu versüßen, hatte ihm die Firma den Ford Sierra überlassen. Zwanzig Minuten nach Stephanie verließ er das Haus und fuhr auf der South Circular quer durch London und dann in Richtung Canterbury. Die östlichste der beiden Ortschaften namens Anstey Cross in der Grafschaft Kent lag sieben Meilen hinter der Stadt Kent. Sie erwies sich als aus den Nähten geplatztes Dorf, in dem die meisten Häuser erst in den letzten dreißig Jahren gebaut worden waren. Es gab einen Kramladen mitsamt Poststelle, geführt von einer schon etwas älteren Frau, die eine Perücke trug und so staubig wirkte, als habe sie diesen Posten seit ihrer Jugend inne. Sie war sicher, daß es dort niemanden namens Farley gab und kein Einwohner einen rotblonden Vollbart trug. Er folgerte daraus, daß Farleys Cottage nicht in dieser Gegend lag.

Da es ein sonniger Tag war, mit nur wenigen Wattewolken, entschied er sich, über Nebenstraßen nach Ashford zu fahren, eine Route, die ihn daran erinnerte, wie bezaubernd es auf dem Land sein konnte. Das zweite Anstey Cross, einige Meilen südlich von Ashford, war weit eher ein traditionelles Dorf: ein halbes Dutzend alte Cottages, ein paar Bungalows und ein Pub, alles um eine Straßenkreuzung gruppiert.

Er betrat das Pub und bestellte sich einen Gin-Tonic. Die Wirtin war verhältnismäßig jung, verhältnismäßig attraktiv und hatte eine nette, doch resolute Art, die gut fürs Geschäft war. Er fragte sie, ob sie jemanden namens Farley kenne.

Sie stützte die Ellbogen auf den Tresen und beugte sich so weit vor, daß er, wenn er nur wollte, die Farbe ihrer Unterwäsche hätte erkennen können. »Farley? Nein, nicht daß ich wüßte.«

»Ungefähr so groß wie ich, aber kräftiger gebaut, mit einem gewaltigen rotblonden Vollbart.«

»Einen Moment, ich geh mal Fred fragen.« Sie ging um die Ecke in die andere Bar.

Gleich darauf erschien der Wirt, stämmig und um einiges älter als sie. »Einen Mann namens Farley suchen Sie? So weit ich weiß, gibt’s hier keinen, der so heißt. Aber ich erinnere mich, daß vor vier, fünf Monaten ein Mann hier reinkam, der eine richtige Matratze von rotblondem Vollbart hatte. Nach allem, was er so sagte, wohnte er im Melton Cottage. Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen.«

»Haben Sie eine Ahnung, wer da wohnt?«

Der Wirt überlegte einen Moment; dann rief er den beiden Männern zu, die Darts spielten: »Wie heißt die Frau, die im Melton Cottage wohnt?«

»Mrs. Stevens«, antwortete der kleinere Spieler.

»Ja, natürlich! Bald werd ich noch meinen eigenen Namen vergessen.« Und dann ergänzte er, ein bißchen allzu beiläufig: »Nach allem, was man so hört, ist Mr. Stevens seit einiger Zeit nicht mehr hier aufgetaucht.«

Jason hatte erzählt, der Ehemann seiner Schwester sei mit einer Bibliothekarin durchgebrannt. Weston erkundigte sich nach dem Weg zum Melton Cottage.

Nach sieben Minuten Fahrt erreichte er ein für Kent typisches, etwas abseits der Straße gelegenes Farmhaus. Er parkte neben der Garage – einem ehemaligen Schuppen –, öffnete ein reparaturbedürftiges Holztor in einer Hecke und ging hindurch. Im Garten bewunderte er ein schmales Beet mit Levkojen, das sich an der Längsseite des Hauses entlangzog und mit kleinen, seltsam geformten Steinen eingefaßt war; dann bog er um die Ecke zur Südseite des Hauses, wo das lange, steile Dach aus Holzschindeln bis auf zwei Meter über dem Boden herabreichte. Mitten auf dem Rasen stand ein wohlgeformter Apfelbaum, den er, obwohl er kein Fachmann war, als Bramley identifizierte. Farley hatte von einem Bramley gesprochen.

Die Haustür wurde ihm von einer Frau geöffnet, die fast genauso groß war wie er. Rote Haare, von einem wärmeren und ruhigeren Ton als Farleys, umrahmten ein ovales Gesicht, dessen Charakterstärke zum Teil von einem sehr festen Kinn bestimmt wurde; tiefblaue Augen, leichte Stupsnase und ein voller, humorvoller Mund milderten jeden Eindruck von Aggressivität, den das Kinn etwa hervorrufen mochte.

»Mrs. Stevens?« erkundigte er sich. »Tut mir leid, wenn ich Sie störe, aber ich suche eine Frau, deren Ehenamen ich leider nicht kenne. Ich bin Gary Weston – sagt Ihnen das irgend etwas?«

Sie musterte ihn aufmerksam. »Sollte es das?«

»Jason und ich waren zusammen im St. Brede’s, möglicherweise hat er mich erwähnt. Sind Sie Jasons Schwester Kate?«

»Ja.«

»Dann habe ich Sie Gott sei Dank endlich gefunden!«

»Warum wollten Sie das?«

»Weil … Am besten beginne ich wohl ganz von vorn. Ich war auf einem kurzen Urlaub in Restina, einem kleinen Ort in Spanien, und habe Jason dort zufällig getroffen. Dort ist dann etwas geschehen, weswegen ich Sie sprechen muß.«

Sie krauste die Stirn. »Kommen Sie rein.«

Sie führte ihn durch die wegen der Dachschrägung dreieckige Diele in ein Wohnzimmer mit Balkendecke und großem Kamin, dessen fröhliche Einrichtung alle möglichen Stilarten aufwies. Die Gardinen waren in leuchtenden Farben gemustert, die hellen, losen Sesselüberwürfe mit einem Rosendessin, das Sofa wiederum ganz anders, während der Teppich wie dunkle und helle Masern wirkte. Die beiden Beistelltischchen waren modern, der Brottrog antik; die kleine Vitrine keins von beiden. Rechts vom Kamin standen in einem Regal bunt durcheinander Hard-cover- und Taschenbücher und obenauf eine vergoldete Kutschenuhr. Auf dem Sofa lag eine aufgeschlagene Zeitung, auf einem Stuhl ein Wollknäuel und ein Strickzeug mit zwei blauen Nadeln. Der Fernseher lief. Es war das Zimmer eines Menschen, dem Gemütlichkeit wichtiger ist als Stil, und der sich nicht um die Meinung anderer kümmert.

Sie stellte den Fernseher ab, setzte sich und strich sorgfältig ihr buntbedrucktes Baumwollkleid glatt. »Was ist in Spanien geschehen?«

Weston antwortete nicht sofort. »Haben Sie in den letzten Tagen von Jason gehört?«

»Nein.«

»Sind Sie ganz sicher?«

»Was für eine Frage! Selbstverständlich bin ich sicher.«

Sie faltete die Hände und legte sie in den Schoß. »Gibt es schlechte Nachrichten über Jason?«

»Ja.«

Sie schien das eckige Kinn zu recken. »Welche?«

Sie ist eine Kämpfernatur, dachte er. »Am letzten Samstag sind wir zu einem kurzen Törn mit einem Motorboot ausgelaufen. Auf See gerieten wir in einen starken Sturm, in dem wir schließlich sanken.«

»Und Jason?«

»Ich konnte mich an Land retten, von ihm aber habe ich nichts mehr gesehen.« Er sagte es unumwunden, weil er der Meinung war, um schlechte Nachrichten solle man nicht herumreden.

Sie wandte den Kopf und sah aus dem Fenster. »Heißt das, daß er ertrunken ist?«

»Es tut mir leid, aber das muß man wohl annehmen.«

»Als Sie mich nach ihm fragten, waren Sie nicht sicher.«

»Bis Freitag war noch nichts von seinem … Leichnam gesehen worden. Die einzige Möglichkeit wäre, daß er überlebt hat, den Behörden war jedoch nichts davon bekannt.«

Unvermittelt löste sie ihre Hände voneinander, stand auf und lief an ihm vorbei zur Tür. Gleich darauf hörte er sie im Zimmer über ihm auf und ab gehen. Während er in den schönen, einfachen Garten hinausblickte, fragte er sich verbittert, warum das Leben so viel Traurigkeit bringen mußte.

Nach einer Viertelstunde kehrte sie mit geröteten Augen zurück. »Verzeihen Sie bitte«, sagte sie und nahm wieder Platz.

»Ich wünschte, ich …«

»Wünsche können nichts daran ändern, nicht wahr?«

Er wunderte sich über die Härte, mit der sie sprach.

»Wohin wollten Sie, mit dem Boot?«

»Wir hatten kein spezielles Ziel.«

»Wissen Sie, was für ein Boot das war?«

»Ein Alder and Farson. Ich glaube, Jason sagte etwas von sechzig Fuß.«

»Dann war es erstklassig ausgestattet?«

»Das war es.« Er fragte sich, warum sie ihm diese Fragen stellte. Um sich von der traurigen Wahrheit abzulenken?

»Er haßt Motoren, also war es wohl nicht sein eigenes?«

»Er sagte, er hätte es sich geliehen.«

»Von wem?«

»Keine Ahnung.«

»Da Sie die Küste erreicht haben, muß das Boot sehr dicht an Land gesunken sein. Wo ungefähr war das?«

»Der nächste Ort war Campet.«

»Und welchen Kurs steuerten Sie kurz vor der Havarie?«

Erstaunt sah er sie an; sie erwiderte seinen Blick mit eindeutiger Feindseligkeit. »Der Kurs war, so weit ich mich erinnere, zwei-sechs-fünf.«

Sie stand auf, ging hinaus und kam mit einer offensichtlich vielbenutzten Seekarte zurück. Sie nahm die Zeitung vom Sofa, legte die Karte auf den Sitz, studierte sie und richtete sich dann wieder auf. »Warum belügen Sie mich?«

»Ich versichere Ihnen …«

»Bevor Sie mir den Mond und die Sterne vom Himmel versprechen, möchte ich Ihnen etwas erklären. Jason mag Motorboote so wenig, daß er nie eins betreten würde, es sei denn, er hätte einen sehr triftigen Grund dafür – und eine Fahrt ins Blaue dürfte das ja wohl nicht sein. Er hat sein Leben lang gesegelt und würde nie auslaufen, ohne zuvor und auch unterwegs ständig die Wettervorhersagen abzuhören. Und selbst wenn die Vorhersagen einen Sturm anfangs nicht gemeldet hätten – Jason besitzt einen unheimlichen Instinkt für den Wind. Also wäre er entweder nicht ausgelaufen oder hätte in dem Moment, da er überzeugt war, daß Sturm aufkommt, Kurs auf den nächsten Hafen genommen, denn leichtsinnig verhält er sich niemals. Nach dem Kurs aber, den Sie mir gegeben haben, hätte er selbst mitten in diesem Unwetter keinen Hafen angesteuert. Und ihn davon abzuhalten, müßte schon etwas ganz Außergewöhnliches geschehen sein. Genauso außergewöhnlich wie die Umstände, die Sie glauben lassen, er habe womöglich überlebt, ohne es den Behörden zu melden.«

»Ich hatte nur gehofft, daß er vielleicht überlebt haben könnte.«

»Aha. Und warum hat er keinen Hafen angelaufen?«

»Es tut mir leid, daß Sie mir nicht glauben wollen, Mrs. Stevens, aber es ist genauso gewesen, wie ich es Ihnen erzählt habe.«

»Dann sollten Sie jetzt wohl lieber gehen.« Die Tränen begannen ihr über die Wangen zu laufen.

Er ging.

 

Er umrundete die Südseite des Parks, verlangsamte das Tempo, als er sich Francavilla näherte, um dann in die Einfahrt abzubiegen und neben der Garage zu parken. Der Mercedes war wieder da, die Garagentür stand offen. Er schloß seinen Wagen ab, schloß und verriegelte die Garagentür und kehrte zur Vorderseite zurück. Während er die Haustür aufschloß, fragte er sich, in welcher Stimmung er sie antreffen werde. Nach einem Besuch bei ihrer Mutter war sie oft noch unleidlicher als sonst.

Er trat ins Haus, schloß die Tür und sah, daß neben der Treppe ein Kleiderbündel auf dem Fußboden lag. Es paßte so wenig zu Stephanie, irgend etwas herumliegen zu lassen, daß er es näher in Augenschein nahm, Und nun sah er einen Kopf und zwei Arme …