15
Mit einiger Mühe fand Kate, die London nicht mochte und so selten wie möglich hinfuhr, die Villa am Baston Common und parkte. Es war das größte Haus, an dem sie vorbeigekommen war, inmitten des größten Gartens, vor der Garage parkte ein Sierra und in der Garage ein Mercedes. Ganz eindeutig handelte es sich hier um sehr viel Geld. Dieses Bewußtsein verstärkte ihre Befürchtungen, denn sie wirkten dadurch glaubhafter. Am liebsten hätte sie kehrtgemacht und wäre wieder davongefahren – bis sie sich vergewissert hatte, konnte sie sich immer einreden, ihr Argwohn wäre lächerlich, aber sie war noch niemals davongelaufen. Sie straffte die Schultern, öffnete das schmiedeeiserne Tor, ging den Pfad bis zu dem lächerlichen Portikus hinauf und klingelte.
Mrs. Amis öffnete die Tür. »Ja?«
»Ist Mr. Weston zu Hause? Ich würde ihn gern sprechen.«
Sie beobachtete, wie Mrs. Amis die Treppe hinaufstieg, den Treppenabsatz überquerte und verschwand; dann taxierte sie die Halle. Sie hatte ein instinktives Gefühl für kostbare Möbel und entdeckte einige sehr gute Stücke, die einzeln wunderschön waren, doch leider völlig falsch placiert, so daß das Ganze alles andere als harmonisch wirkte.
Mrs. Amis kam zurück. »Sie möchten im Wohnzimmer warten, sagt er, es wird nicht lange dauern«, verkündete sie.
Also folgte Kate Mrs. Amis durch den Salon – ungefähr so groß wie ihr ganzes Cottage – in das Wohnzimmer dahinter.
Mrs. Amis verschwand wieder. Kate trat an eines der Fenster und blickte hinaus. Nach Londoner Maßstäben war der Garten riesig. Am anderen Ende trimmte ein Mann die Kanten des Rasens mit einer Maschine. Tageshilfe, Gärtner, riesiges Haus auf ausgedehntem Grundstück …
»Guten Tag.«
Sie hatte ihn nicht kommen hören, deswegen schreckte sie bei seinem Gruß zusammen. Sie wandte sich um. Er trug keinerlei Symbol der Trauer, und seine Miene verriet zwar Erschöpfung, aber keinen Kummer. Ausnahmsweise die Anstandsregeln befolgend, sagte sie: »Es tut mir leid, daß Ihre Frau gestorben ist.«
Und er erwiderte ebenso formell: »Ich danke Ihnen … Woher wissen Sie es?«
»Ein Detective hat es mir gestern erzählt.«
»Ein Detective! … Warum sollte der davon sprechen?«
Mit hoher, angestrengter Stimme sagte sie: »Sie haben mich letzte Woche belogen.«
Er ignorierte jedoch, was sie gesagt hatte. »Wer war dieser Detective? Was wollte er?«
»Sie haben gelogen, als Sie mir schilderten, wie das Boot gekentert ist. Und als dieser Detective mir Fragen über Sie stellte, habe ich mich gefragt, ob das, was in Spanien passiert ist, mit dem, was hier passiert ist, in Verbindung steht, und mir gedacht, vielleicht haben Sie ja auch gelogen, als Sie sagten, daß Jason tot ist … Bitte, sagen Sie mir, was ist die Wahrheit?«
Er hätte lieber weitergelogen, doch ihre Bitte konnte er nicht ignorieren. Also ging er zum nächsten Sessel und ließ sich hineinfallen. »Ich war auf Urlaub in Restina und saß in einem Straßencafé, als Jason kam und meinen Spitznamen aus der Schulzeit rief. Anfangs erkannte ich ihn nicht …«
Stockend und unter Auslassung der Art, wie er zur Mitarbeit auf der Cristina II erpreßt worden war, schilderte er ihr, wie sie bis Einbruch der Dunkelheit nach Osten gefahren waren und dann Kurs auf Marokko genommen hatten.
»Als das geschah – was war nach Ihrer Meinung der Zweck der Fahrt?«
»Als ich anfangs … Ich nahm an … Ist das wichtig?«
»Ja«, antwortete sie scharf.
»Es mußte etwas Gesetzwidriges sein, und …«
»Und?«
»Ich wußte, daß eine Menge Haschisch aus Marokko kommt …«
»Sie dachten, daß Jason Rauschgift schmuggelt?«
Er nickte.
»Tat er das?«
»Als ich ihm das vorwarf, wurde er wütend. Er könne nicht begreifen, daß ich so dumm sei zu glauben, er könne zu so etwas fähig sein.«
»Was war es dann?«
»Wir haben drei Männer an Bord genommen.«
»Wer war das? Wohin wollten sie?«
»Nach Spanien zurück; nach Restina. Von der Tatsache abgesehen, daß sie vermutlich Spanier waren, habe ich nichts über sie erfahren.«
»Da sie nicht auf die normale Art reisten, mußten es aber Illegale sein, nicht wahr?«
Nach einer kleinen Pause nickte er. »Terroristen schien mir die offensichtlichste Erklärung, aber …«
»Aber was?«
»Zwei von ihnen sahen so aus, als könnten sie nicht mal einen kranken Hasen einschüchtern.«
»Und der dritte?«
»Der war jünger und ganz anders. Als Jason und ich ihm erklärten, wir müßten das Tempo drosseln und Schutz suchen, verlangte er, daß wir bei voller Fahrt auf Kurs bleiben sollten. Als wir uns weigerten, bedrohte er uns mit einer Pistole. Jason versuchte ihn zu überwältigen, schaffte es aber nicht und bekam einen Schuß in die Schulter. Ich war am Ruder …« Er verstummte für einen Moment. Dann fuhr er fort: »Ich tat, was der Mann verlangte.« Seitdem hatte Weston sich immer wieder einen Feigling gescholten, aber war er das wirklich gewesen? Um feige zu sein, mußte man doch eine Wahl haben, oder?
»Und dann?«
»Ich mogelte mich so weit nach Norden, wie es ging, ohne daß der Mann es bemerkte, dichter an die Küste ran. Seegang und Dünung wurden stärker und erwischten uns schließlich von der Seite. Das Boot zerbrach so schnell, daß keine Zeit blieb, das Schlauchboot aufzublasen oder auch nur nach einer Schwimmweste zu greifen. Als ich im Wasser war, stieß ich rein zufällig auf etwas, das oben schwamm. Wie sich herausstellte, waren wir sehr dicht an die Küste herangekommen, und ich wurde an Land gespült. Als die Polizei mich fragte, erklärte ich, Jason und ich hätten eine Fahrt ins Blaue unternommen und seien dabei in das Unwetter geraten. Sie hielten uns für ein paar von diesen dämlichen Ausländern und Wochenendmatrosen und akzeptierten, was ich ihnen erzählte.«
»Warum sind Sie letzte Woche zu mir gekommen?«
Er wunderte sich über ihre Frage und zeigte es. »Um mich zu erkundigen, ob Sie etwas von Jason gehört haben, natürlich.«
»Da Sie wußten, daß er in die Schulter getroffen war und einen Arm nicht gebrauchen konnte, mußte Ihnen doch klar sein, daß er kaum eine Chance zum Überleben hatte.«
»Seine Leiche war nicht gefunden worden. Ich hoffte wider jede Logik.«
»Und warum haben Sie mir dies alles nicht schon letzte Woche erzählt?«
»Wir hatten uns eindeutig auf etwas Gesetzwidriges eingelassen«, antwortete er langsam, »obwohl ich keine Ahnung habe, was. Ich wollte verhindern, daß Sie das erfahren, weil man sich so nicht an einen Bruder erinnern sollte.«
Sie sprach so leise, daß er ihre Worte kaum verstehen konnte. »Er war immer ein wilder Junge. Wie Sie wissen, wurde er von St. Brede’s relegiert, und das hat meinen Eltern fast das Herz gebrochen; später mußte Vater mehrere tausend Pfund bezahlen, um ihm aus einer schlimmen Lage zu helfen, und damals hat er sich von ihm losgesagt, weil Jason verdorben sei, wie er meinte. Ich versuchte, ihm zu erklären, daß Jason nur wild sei, nicht richtig schlecht, aber er wollte mir nicht zuhören. Er war fest davon überzeugt, daß Jasons Verhalten am Tod meiner Mutter schuld war. Jason und ich haben uns immer nahegestanden, obwohl wir uns in den letzten Jahren nur selten sahen und obwohl er sich wegen Ben so gemein verhalten hat. Aber als Sie kamen und sagten, er sei vermutlich tot, und mich über die Bootsfahrt belogen, hatte ich schreckliche Angst, er könne sich verändert haben und wirklich schlecht geworden sein … Doch das war er nicht. Nur wild.« Mit feuchten Augen sah sie ihn an.
»Können Sie mir die schlimmen Dinge verzeihen, die ich zu Ihnen gesagt habe?«
»Welche schlimmen Dinge?«
Eine Zeitlang schwiegen sie, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Dann brach er das Schweigen. »Es war ein Detective, der Ihnen von Stephanies Tod erzählt hat?«
Sie nickte.
»Was hatte der bei Ihnen zu suchen?«
»Er hatte irgendwie erfahren, daß Sie am Mittwoch hier waren, und wollte sich das von mir bestätigen lassen.«
»Ich habe der Polizei hier erklärt, daß ich an dem Nachmittag hier war, als Stephanie starb. Weiß der Teufel, warum das so wichtig ist.«
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und konnte kein Anzeichen von Arglist in seiner Miene entdecken. War er also aufrichtig und daher unfähig, den Argwohn der Polizei zu erkennen, oder war er möglicherweise ein Mörder, der es perfekt verstand, seinen wahren Charakter zu verbergen? Sie war stolz darauf, eines jeden Mannes Grundcharakter erkennen zu können. Und selbst als sie wußte, daß er log, hatte sie ihre instinktive Erkenntnis nicht ableugnen können, daß er im Grunde ein ehrlicher Mensch war. Nun hatte er diese Erkenntnis dadurch bestätigt, daß er ihr den Grund für seine Lügen erklärte. In ihrer Welt war ein ehrlicher Mann, ganz gleich, wie die Umstände erscheinen mochten, unfähig, seine Ehefrau zu ermorden.
»Wenn die Polizei derartige Ermittlungen anstellt, heißt das, daß ihnen irgend etwas unrichtig erscheint. Was meinen Sie – könnte der Tod Ihrer Frau etwas mit dem zu tun haben, was in Spanien geschehen ist?«
»Natürlich nicht. Ihr Tod war ein Unfall.«
Sie zögerte ein wenig; dann sagte sie: »Das Verhalten des Detectives schien mir darauf hinzudeuten … na ja, daß es möglicherweise kein Unfall war.«
»Dann ist er genauso dumm wie die Leute hier, mit all ihren Fragen, ob sie Feinde und woher sie die Prellungen auf dem Magen gehabt hätte.«
»Unter anderem wollte er wissen, ob jemand bezeugen könnte, daß Sie an jenem Nachmittag im Melton Cottage waren.«
»Und Sie haben erklärt, daß Sie das könnten?«
»Ja, aber …«
»Er wollte Ihnen nicht glauben?«
»Er … machte mir klar, daß er die Bestätigung durch eine dritte Person brauchte, weil er dachte, daß wir beide uns schon lange kennen.«
»Das haben Sie ihm doch sicher sofort ausgeredet!«
»Versucht habe ich das natürlich. Aber … ich glaube, er wollte mir nicht glauben.«
»Das klingt, als wollten Sie mir etwas sagen!«
Sie holte tief Luft. »Er hatte etwas von einem Frettchen an sich, und Frettchen hasse ich, seit mich mal eins gebissen hat, als ich zehn Jahre alt war. Ich glaube nicht, daß es nur Abneigung war, daß ich den Eindruck hatte … er sei überzeugt, wir beide hätten ein Verhältnis miteinander.« Die letzten Worte stieß sie vor Verlegenheit hastig und sehr leise hervor.
»Das ist nicht Ihr Ernst!«
»Begreifen Sie denn nicht? Die Polizei glaubt, daß Sie Ihre Frau möglicherweise meinetwegen ermordet haben.«
Er starrte sie an, anfangs erstaunt, dann mit zunehmendem Zorn. »Sind Sie krank?«
»Natürlich nicht.«
»Geisteskrank, meine ich.«
»Das ist unfair!« Ihre Verlegenheit verwandelte sich in Wut.
»Sie müssen doch nicht ganz bei sich sein, hierherzukommen und zu behaupten, ich hätte Stephanie Ihretwegen umgebracht!«
»Ich habe gesagt, daß der Detective das anscheinend glaubt.«
»Sie meinen also nicht, daß Sie irre sein müssen, um eine derartige Möglichkeit bei ihm zu entdecken?«
»Sie sind unmöglich!« Sie sprang auf.
»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich höflich.
Sie lief zur Tür und riß sie auf; als er die Tür erreichte, war sie schon in der Halle; als er gerade die Halle betrat, warf sie die Haustür hinter sich ins Schloß.
Während sie eilig auf ihren geparkten Wagen zuschritt, litt sie furchtbar unter der demütigenden Gewißheit, daß sie in seinen Augen eine sexuell ausgehungerte Person war, die eine verschrobene Art von Befriedigung in der Vorstellung fand, daß andere glaubten, sie hätte ein Verhältnis mit ihm.