Er stellte sich als Professor Martin Keane vor. »Ich darf sagen, Sir«, fügte er hinzu, »daß ich dieses Buch praktisch auswendig kann.«

»Ein Sammelsurium von Aberglauben.«

»Meinen Sie wirklich?.

»Ganz entschieden..

»Ihnen ist die Fähigkeit zum Staunen abhanden gekommen, Mr. Williams. Wollen Sie mir verraten, wie Sie auf dieses Buch gestoßen sind?«

Ich zögerte. Professor Keanes Persönlichkeit war jedoch überzeugend und wirkte vertrauenserweckend.

»Vielleicht machen wir einen kleinen Spaziergang«, schlug ich vor.

Er nickte zustimmend.

Ich gab das Buch dem Bibliothekar zurück und schloß mich meinem neugewonnenen Freund an.

Zögernd und so klar ich konnte, erzählte ich ihm von Andrew Potter, dem Haus im Hexenloch, meinem außergewöhnlichen psychischen Erlebnis - selbst dem merkwürdigen Zufall von Dunlocks Kühen. All dem lauschte er, ohne mich zu

unterbrechen, ja sogar in völliger Versunkenheit. Ich erklärte ihm schließlich, daß nur mein Wunsch, etwas für meinen Schüler zu tun, mich bewogen hatte, nähere Informationen über das Hexenloch einzuholen.

»Schon flüchtige Nachforschungen«, erklärte er, als ich geendet hatte, »hätten Ihnen gezeigt, daß in so entlegenen Orten wie Dunwich und Innsmouth - selbst Arkham und dem

Hexenloch - viele merkwürdige Vorfälle passiert sind. Sehen sie sich nur um unter diesen alten Häusern mit ihren fest verrammelten Fensterläden und spärlich erhellten Oberlichten.

Wie viele seltsame Ereignisse haben sich unter diesen Walmdächern zugetragen! Wir werden es nie wissen. Aber lassen wir die Frage des Glaubens außer acht! Man muß die Verkörperung des Bösen nicht unbedingt mit eigenen Augen sehen, um an sie zu glauben, Mr. Williams. Ich würde dem Jungen in dieser Sache gern einen kleinen Dienst erweisen. Darf ich?«

» Selbstverständlich!.

»Es ist vielleicht gefährlich - für Sie wie auch für ihn.«

»Ich fürchte nicht um mich selbst..

»Ich versichere Ihnen aber, es kann für den Jungen nicht gefährlicher sein als seine gegenwärtige Lage.

Selbst der Tod ist ungefährlicher für ihn.«

»Sie sprechen in Rätseln, Professor.«

»Es bleibt besser dabei, Mr. Williams. Aber kommen Sie, wir sind bei meinem Haus angelangt. Bitte treten Sie ein..

Wir betraten eines jener uralten Häuser, von denen Professor Keane gesprochen hatte. Ich schritt in die modrige Vergangenheit, denn die Räume waren mit Büchern und allen Arten von Antiquitäten angefüllt. Mein Gastgeber führte mich in einen Raum, offensichtlich sein Wohnzimmer, räumte die Bücher von einem Stuhl und lud mich ein zu warten, während er im ersten Stock etwas erledigte.

Er blieb jedoch nicht lange fort - nicht einmal lange genug, daß ich die merkwürdige Atmosphäre des Zimmers, in dem ich wartete, hätte aufnehmen können. Als er zurückkehrte, trug er etwas, was ich sofort als steinerne Objekte erkannte, ungefähr in der Form fünfzackiger Steine. Fünf davon legte er mir in die Hände.

»Morgen nach der Schule - falls der Potter-Junge nicht fehlt müssen Sie trachten, ihn mit einem dieser Steine zu berühren, und ihm den Stern aufdrücken«, erklärte mein Gastgeber. »Es sind noch zwei weitere Bedingungen zu erfüllen. Sie müssen einen dieser Steine immer bei sich tragen und Sie müssen jeden Gedanken an den Stein und was Sie damit tun sollen aus Ihrem Gemüt verbannen. Diese Wesen haben einen telepathischen Sinn - die Fähigkeit, Ihre Gedanken zu lesen.«

Überrascht erinnerte ich mich an Andrews Beschuldigung, ich hätte mit Wilbur Dunlock über sie geredet.

»Ich möchte gern wissen, worum es sich bei diesen Steinen handelt«, sagte ich.

»Falls Sie Ihren Zweifel vorläufig zurückstellen können«, antwortete mein Gastgeber mit grimmigem Lächeln. »Diese Steine gehören zu den Tausenden, die das Siegel von R'lyeh tragen, mit denen die Kerker der Alten Wesen verschlossen wurden. Es sind die Siegel der Alten Götter.«

»Professor Keane, das Zeitalter des Aberglaubens ist vorbei«, protestierte ich.

»Mr. Williams - das Wunder des Lebens und seine

Geheimnisse sind nie vorbei«, erwiderte er. »Wenn der Stein keine Bedeutung hat, hat er auch keine Macht. Wenn er keine Macht hat, hat er keine Wirkung auf den jungen Potter. Und dann kann er auch Sie nicht beschützen.«

»Wovor?.

»Vor der Macht hinter dem bösen Einfluß, den Sie in dem Haus im Hexenloch verspürten«, antwortete er. »Oder war auch das Aberglaube?« Er lächelte. »Sie brauchen nicht zu antworten.

Ich kenne Ihre Antwort. Wenn etwas passiert, wenn Sie dem Jungen den Stein auflegen, darf er nicht mehr nach Hause zurückkehren. Sie müssen ihn hierher zu mir bringen. Sind Sie einverstanden?«

»Ja«, antwortete ich.

Der nächste Tag wollte kein Ende nehmen, nicht allein wegen der bevorstehenden Krise, sondern weil es äußerst schwierig war, vor dem neugierigen Blick Andrew Potters meine Miene undurchdringlich zu halten. Darüber hinaus war ich mir wie nie zuvor der Mauer pulsierender Bösartigkeit hinter meinem Rücken bewußt, die von der Wildnis dort ausging, eine greifbare Bedrohung, die in einem Einschnitt in den düsteren Bergen verborgen lag. Die Stunden verstrichen jedoch, wenn auch langsam, und knapp vor Unterrichtsschluß bat ich Andrew Potter zu warten, bis die anderen gegangen waren.

Und wiederum stimmte er zu, mit jenem lässigen Gehabe, das beinahe an Frechheit grenzte, so daß ich mich unwillkürlich fragte, ob er es wert wäre, »gerettet« zu werden, denn tief in meiner Seele hatte ich vor, ihn zu retten.

Ich blieb jedoch hartnäckig. Ich hatte den Stein im Wagen versteckt, und sobald die anderen fort waren, bat ich Andrew, mit mir nach draußen zu kommen.

An diesem Punkt überkam mich ein Gefühl von Hilflosigkeit und Absurdität. Ich, ein College- Absolvent, schickte mich an, etwas zu versuchen, was für mich unleugbar eine Art Zauber zu sein schien, der in den afrikanischen Dschungel gehörte. Und ein paar Augenblicke lang, in denen ich entschlossen vom Schulgebäude zum Wagen ging, wäre ich beinahe weich geworden und hätte Andrew bloß eingeladen, in den Wagen zu steigen, ich würde ihn heimbringen.

Ich tat es jedoch nicht. Ich erreichte den Wagen, Andrew mir auf den Fersen, langte hinein, ergriff einen Stein, den ich in meine Tasche gleiten ließ, dann einen anderen, und wandte mich blitzschnell um, um den Stein an Andrews Stirn zu drücken.Was immer ich auch erwartete, es ereignete sich etwas ganz anderes.

Denn bei der Berührung des Steines erschien in Andrew Potters Augen ein Ausdruck höchsten Entsetzens, und ein Aufschrei des Grauens brach von seinen Lippen. Er streckte die Arme aus, verstreute seine Bücher, drehte sich weg, so weit er es in meinem Griff konnte, erzitterte und wäre hingefallen, hätte ich ihn nicht aufgefangen und ihn, mit Schaum vor dem Mund, zu Boden sinken lassen. Und dann spürte ich einen gewaltigen kalten Wind, der um uns wirbelte und wieder verschwand, der Gräser und Blumen knickte, den Waldsaum erzittern ließ und die Blätter von der äußersten Baumreihe fegte.

Von meinem eigenen Grauen angetrieben, hob ich Andrew Potter in den Wagen, legte ihm den Stein auf die Brust und fuhr, so schnell ich konnte, in das sieben Meilen entfernte Arkham.

Professor Keane erwartete mich bereits, nicht im geringsten von meinem Kommen überrascht. Er hatte auch erwartet, daß ich Potter mitbringen würde, denn er hatte für ihn ein Bett vorbereitet. Zusammen brachten wir Andrew zu Bett. Sodann verabreichte ihm Keane ein Beruhigungsmittel.

Dann wandte er sich mir zu. »Nun denn, es ist keine Zeit zu verlieren. Sie werden nach ihm suchen - das Mädchen vielleicht zuerst. Wir müssen zum Schulgebäude zurückkehren.«

Inzwischen dämmerte mir die volle Bedeutung und das Grauen dessen, was mit Andrew Potter geschehen war, und ich war so erschüttert, daß mich Keane aus dem Zimmer schieben und halb aus dem Haus zerren mußte. Und wiederum, jetzt, da ich diese Worte so lange nach den entsetzlichen Ereignissen jener Nacht zu Papier bringe, zittere ich noch immer vor Vorahnung und Furcht, die Besitz von einem Menschen ergreifen, der zum ersten Mal dem unendlichen Unbekannten von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht und erkennt, wie winzig und bedeutungslos er im Vergleich zu dieser kosmischen Unendlichkeit ist. Ich wußte in jenem Moment, daß das, was ich in dem verbotenen Buch in der Miskatonic-Bibliothek gelesen hatte, kein Sammelsurium des Aberglaubens war, sondern der Schlüssel zu einer bisher unerwarteten Offenbarung, die vielleicht weitaus älter war als die Menschheit im Weltall. Ich wagte nicht daran zu denken, was der Hexenmeister Potter aus dem Himmel herabbeschworen hatte.

Ich hörte kaum Professor Keanes Worte, der mich drängte, meine Gefühlsreaktion zu vergessen und in einer

wissenschaftlichen, fast klinischen Weise an das Geschehene zu denken. Schließlich hatte ich jetzt mein Ziel erreicht -Andrew Potter war gerettet. Um seine Rettung abzuschließen, mußte er jedoch von den anderen befreit werden, die ihm sicher folgen und ihn finden würden. Ich dachte nur daran, auf welch lauerndes Grauen dieses Quartett von Landmenschen aus Michigan gestoßen waren, als sie gekommen waren, um die einsame Farm im Hexenloch in Besitz zu nehmen.

Ich fuhr blindlings zur Schule zurück. Dort drehte ich auf Professor Keanes Geheiß das Licht an und saß bei offener Tür in der warmen Nacht, während er sich hinter dem Gebäude verbarg, um ihre Ankunft abzuwarten. Ich mußte mich zusammenreißen, um an nichts zu denken und diese Wache anzutreten.

Bei Anbruch der Nacht kam das Mädchen...

Und nachdem ihr dasselbe widerfahren war wie ihrem Bruder, und sie neben dem Katheder lag, den sternförmigen Stein auf der Brust, zeigte sich der Vater im Eingang. Jetzt war es schon finster geworden, und er trug ein Gewehr. Er brauchte nicht zu fragen, was geschehen war; er wußte es. Er stand wortlos da, zeigte auf seine Tochter und den Stein auf ihrer Brust und hob das Gewehr. Seine Absicht war klar - wenn ich den Stein nicht entfernte, würde er schießen. Offensichtlich handelte es sich hier um den Notfall, den der Professor erwartet hatte, denn er schlich von hinten an Potter heran und berührte ihn mit dem Stein.

Anschließend warteten wir zwei Stunden - vergebens - auf Mrs. Potter.

»Sie kommt nicht«, erklärte der Professor schließlich. »In ihr hat die Intelligenz dieses Wesens ihren Sitz - ich hatte geglaubt, es wäre der Mann. Nun denn, wir haben keine Wahl - wir müssen zum Hexenloch fahren. Die zwei da können wir zurücklassen.«

Wir fuhren durch die Dunkelheit, ohne uns zu bemühen, unser Kommen geheimzuhalten, denn der Professor behauptete, das

»Wesen« in dem Haus im Hexenloch »wüßte«, daß wir kämen, könne aber den Schutz des steinernen Talismans nicht durchbrechen, um uns etwas anzutun. Wir fuhren durch den dicht herandrängenden Wald, den engen Weg entlang, wo das merkwürdige Unterholz im Licht der Scheinwerfer nach uns zu greifen schien, und in den Hof der Potters.

Das Haus lag im Dunkeln, abgesehen vom schwachen

Lampenschimmer in einem einzigen Zimmer.

Professor Keane sprang mit seinem kleinen Sack

sternförmiger Steine aus dem Wagen und machte sich daran, das Haus ringsum zu versiegeln - mit einem Stein in jeder der zwei Türen und einem in jedem Fenster. Durch eines der Fenster konnten wir die Frau am Küchentisch sitzen sehen -

unerschütterlich, aufmerksam, klar im Kopf, nicht mehr nervös.

Sie ähnelte gar nicht mehr der kichernden Frau, die ich vor kurzem in diesem Haus gesehen hatte, sondern eher einem großen, intelligenten Raubtier, das gestellt worden war.

Als er fertig war, ging mein Gefährte zur Vorderseite und setzte das Haus mit dem Gestrüpp, das er im Hof gesammelt und vor der Tür angehäuft hatte, in Brand, ohne sich um meine Proteste zu kümmern.

Dann kehrte er zum Fenster zurück, um die Frau zu

beobachten. Dabei erklärte er, daß nur das Feuer die elementare Macht zerstören könne, daß er aber noch immer hoffe, Mrs.

Potter zu retten. »Sie sehen besser weg, Williams..

Ich hörte nicht auf ihn. Hätte ich es doch getan - und mir so die Träume erspart, die sich noch immer in meinen Schlaf drängen! Ich stand hinter ihm am Fenster und sah zu, was in jenem Zimmer vor sich ging - denn der Rauchgeruch

durchdrang nun das Haus. Mrs. Potter - oder was ihren gewaltigen Leib belebte - stand auf, ging unbeholfen zum Hintereingang, wich zurück, ging zum Fenster, wich von dort zurück und trat wieder in die Mitte des Zimmers, zwischen den Tisch und den Holzofen, der nicht geheizt wurde, da die Kälte noch nicht eingesetzt hatte. Dort fiel sie zukkend und sich windend zu Boden.

Der Raum füllte sich langsam mit Rauch, nebelte die gelbe Lampe ein und ließ das Innere des Zimmers kaum mehr erkennen - aber immerhin nicht so sehr, um zu verhüllen, was im Verlauf dieses entsetzlichen Kampfes am Boden vor sich ging, wo Mrs. Potter sich wand wie in Todeszuckungen und langsam, kaum merklich, etwas anderes Gestalt annahm - eine unglaubliche amorphe Masse, in dem Rauch kaum zu sehen, tentakelbewehrt, schimmernd, mit einer kalten Intelligenz und einer Kälte des Leibes, die ich selbst durch das Fenster verspüren konnte. Das Wesen stieg wie eine Wolke über dem nunmehr bewegungslosen Körper der Mrs. Potter auf, dann senkte es sich auf den Ofen nieder und verschwand wie eine Dampfschwade in ihm!

»Der Ofen!« rief Professor Keane und wich zurück. Über uns drang aus dem Schornstein eine zunehmende Schwärze, wie Rauch, die sich kurz zusammenballte. Dann raste sie wie der Blitz davon, den Sternen zu, in Richtung Hyaden, zurück zu jenem Ort, von dem sie der alte Hexenmeister Potter zu sich herabbeschworen hatte, weg von dort, wo sie auf die Ankunft der Potters aus Obermichigan gelauert hatte, die ihm auf dem Antlitz der Erde als neuer Wirt dienen sollten.

Es gelang uns, Mrs. Potter aus dem Haus zu schaffen. Sie war jetzt gewaltig zusammengeschrumpft, lebte jedoch noch.

Es ist nicht nötig, sich bei den übrigen Ereignissen jener Nacht aufzuhalten - wie der Professor wartete, bis das Feuer das Haus verzehrt hatte, um seinen Vorrat an sternförmigen Steinen einzusammeln, bei der Wiedervereinigung der Familie Potter -

die jetzt vom Fluch des Hexenlochs befreit ist und entschlossen, niemals in das Spuktal zurückzukehren - bei Andrew, der, als wir kamen, um ihn aufzuwecken, im Schlaf von »gewaltigen Winden, die kämpfen und zerren« und »einer Stelle am See Hali, wo sie in ewiger Herrlichkeit leben«, daherredete.

Mir fehlte der Mut, danach zu fragen, was der alte Hexenmeister Potter wohl von den Sternen herabbeschworen hatte, doch ich wußte, daß es an Geheimnisse grenzte, die menschlichen Geschlechtern besser unbekannt geblieben wären, Geheimnisse, von deren Vorhandensein ich nie etwas geahnt hätte, hätte ich nicht zufällig die Bezirksschule Nummer Sieben übernommen und hätte es unter meinen Schülern nicht den merkwürdigen Jungen Andrew Potter gegeben.