Innsmouth-Ton

H. P. Lovecraft und August Derleth

Die Umstände, die mit dem Schicksal meines verblichenen Freundes, des Bildhauers Jeffrey Corey- wenn »verblichen« das richtige Wort ist -, zusammenhängen, müssen mit seiner Rückkehr aus Paris und seinem Entschluß, im Herbst 192.7

südlich von Innsmouth eine Strandhütte zu mieten,

zusammenhängen. Corey entstammte einer wappentragenden Familie, die entfernt mit dem Geschlecht der Marsh aus Innsmouth verwandt war - jedoch nicht so eng, daß er verpflichtet gewesen wäre, mit seinen Verwandten Umgang zu pflegen. Jedenfalls waren über die zurückgezogen lebenden Marshes merkwürdige Gerüchte im Umlauf. Diese Gerüchte über die Familie aus jener Hafenstadt in Massachusetts waren kaum geeignet, Corey dazu zu bewegen, sich zu melden, wenn er in die Gegend kam.

Ich besuchte ihn einen Monat nach seiner Ankunft im Dezember jenes Jahres. Corey war ein verhältnismäßig junger Mann, noch keine vierzig, zwei Meter groß, mit zarter, frischer Haut, die frei von jeder Haarzierde war, obwohl er sein Haar ziemlich lang trug, wie es damals unter Künstlern im Quartier Latin von Paris der Fall war. Er hatte strahlend blaue Augen, und sein hohlwangiges Gesicht wäre in jeder

Menschenansammlung aufgefallen, nicht bloß wegen seines durchdringenden Blicks, sondern ebensosehr wegen der seltsamen, wie ein Flechtwerk aussehenden Haut an einer Stelle hinter dem Kiefer, unter den Ohren und ein kurzes Stück unter den Ohren den Hals hinunter. Er sah nicht schlecht aus, und eine merkwürdige, beinahe hypnotische Eigenheit, welche die feinen Züge seines Gesichts prägte, übte so etwas wie Faszination auf die meisten Leute aus, die ihm begegneten. Er hatte sich, als ich ihn besuchte, bereits gut eingewöhnt und begonnen, an einer Statue von Rima, dem Vogelmädchen, zu arbeiten, die eine seiner gelungensten Arbeiten zu werden versprach.

Er hatte sich Vorräte für einen Monat angelegt, die er selbst aus Innsmouth geholt hatte, und er schien mir mitteilsamer als gewöhnlich zu sein, vor allem, was seine entfernten Verwandten betraf, über die in den Läden von Innsmouth allerlei geredet wurde, wenn auch sehr vorsichtig. Da sie so abgeschieden lebten, zogen die Marshes natürlich einige Neugierde auf sich; und da diese Neugierde unbefriedigt blieb, war ein beeindruckendes Sagen- und Legendengerank um sie

gewachsen, das bis eine Generation weit zurückreichte, die sich im Handel im südlichen Pazifik engagiert hatte. Die Gerüchte waren so unbestimmt, daß sie für Corey wenig Sinn ergaben, aber das, was man vernahm, wies auf alle möglichen Arten alchemistischen Grauens hin, von dem er in einer nebulösen Zukunft mehr zu erfahren hoffte, wiewohl er keinen Drang dazu verspürte. Das Thema war in dem Dorf einfach so beherrschend, erklärte er, daß es beinahe unmöglich war, ihm auszuweichen.

Er sprach auch von einer geplanten Ausstellung, erwähnte Freunde in Paris und seine Studienjahre dort, die Kraft von Epsteins Bildhauerarbeiten und die politischen Unruhen, die im Lande kochten. Ich erwähne diese Dinge, um anzudeuten, wie völlig normal Corey anläßlich meines ersten Besuches bei ihm nach seiner Rückkehr aus Europa war. Ich hatte ihn natürlich flüchtig in New York gesehen, als er nach Hause gekommen war, aber kaum lange genug, um irgendein Thema so

ausführlich zu besprechen, wie wir es an jenem Dezembertag 1927 tun konnten.

Ehe ich ihn im folgenden März wiedersah, erhielt ich von ihm einen merkwürdigen Brief, dessen Quintessenz im letzten Absatz zu finden war, auf den alles übrige im Brief als Höhepunkt hinauszulaufen schien - »Vielleicht hast Du etwas von den seltsamen Vorfällen in Innsmouth im Februar gelesen.

Ich habe keine klare Information darüber, aber es muß gewiß irgendwo in der Presse zu finden gewesen sein, so

zurückhaltend sich auch unsere Zeitungen in Massachusetts in dieser Sache verhalten zu haben scheinen. Mir ist von der Angelegenheit nichts weiter bekannt, als daß eine große Schar von Bundesbeamten die Stadt heimsuchte und einige ihrer Bürger abführte - unter ihnen einige meiner Verwandten, wiewohl ich nicht sagen kann, welche von ihnen, da ich mir nie die Mühe gemacht habe herauszufinden, wie viele von ihnen es gibt - oder gab, je nachdem. Was ich in Innsmouth herausfinden kann, bezieht sich auf den Handel mit dem südlichen Pazifik, an dem gewisse Schiffahrtsinteressen offensichtlich noch immer beteiligt waren, obwohl das ziemlich weit hergeholt scheint, da die Docks einen völlig verlassenen Eindruck machten und überhaupt weitgehend nutzlos waren für die Schiffe, die jetzt den Pazifik durchpflügen und von denen die meisten die größeren und moderneren Häfen anlaufen. Abgesehen von den Gründen für das Vorgehen der Bundesbehörden - und, wie Du erkennen wirst, von weitaus größerer Wichtigkeit für mich - gibt es den unbestreitbaren Umstand, daß, gleichzeitig mit der Razzia in Innsmouth, einige Marineeinheiten vor der Küste in der Nähe des sogenannten Teufelsriffs auftauchten und dort eine Unmenge von Wasserbomben warfen!

Diese lösten in der Tiefe solche Turbulenzen aus, daß in der Folge ein Sturm alle Arten von Treibgut an die Küste schwemmte, darunter einen merkwürdigen blauen Ton, der sich hier an der Wasserlinie ablagerte. Er schien mir dem Modellierton ähnlicher Farbe zu gleichen, den man an manchen Stellen im Innern Amerikas findet und der häufig für die Ziegelherstellung verwendet wurde, vor allem Vorjahren, als den Baumeistern modernere Methoden der Ziegelherstellung noch nicht zur Verfügung standen. Daran ist nur das eine wichtig, daß ich allen Ton sammelte, den ich finden konnte, ehe ihn das Meer wieder zurückholte. Seit einiger Zeit arbeite ich an einer ganz neuen Plastik, die ich vorläufig "Meeresgöttin" nenne

- und ich bin ganz begeistert über die Möglichkeiten, die sich da eröffnen. Du wirst sie sehen, wenn Du mich nächste Woche besuchst, und ich bin sicher, daß sie Dir noch besser gefällt als meine "Rima"..

Ganz im Gegensatz zu seinen Erwartungen fühlte ich mich jedoch beim ersten Anblick von Coreys neuer Plastik merkwürdig abgestoßen. Die Gestalt war schlank, abgesehen vom Bau der Hüften, der weit plumper war, als ich es für angemessen hielt, und Corey hatte es vorgezogen, die Füße mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen auszustatten.

»Warum?« fragte ich ihn.

»Weiß ich wirklich nicht«, erwiderte er. »Es ist die reine Wahrheit, daß ich es nicht so geplant hatte.

Es ist einfach so passiert..

»Und diese entstellenden Male am Nacken?« Er war in jenem Bereich mit der Arbeit anscheinend noch nicht fertig.

Er stieß ein verlegenes Lachen aus, und ein seltsamer Ausdruck trat in seine Augen. »Ich wünschte, ich könnte mir selbst diese Abdrücke erklären, Ken«, sagte er. »Ich wachte gestern morgen auf und stellte fest, daß ich im Schlaf weitergearbeitet haben muß, denn am Hals unter den Ohren - auf beiden Seiten - waren Schlitze - Schlitze wie - nun ja, wie Kiemen. Ich bessere jetzt die Beschädigung aus.«

»Vielleicht sollte eine "Meeresgöttin" wirklich Kiemen haben«, sagte ich.

»Ich glaube, es hängt mit dem zusammen, was ich gestern in Innsmouth aufgeschnappt habe, als ich dort war, um mir einige Dinge, die ich benötigte, zu besorgen. Weiteres Gerede über das Geschlecht der Marsh. Es lief darauf hinaus, daß die Angehörigen der Familie vielleicht absichtlich so

zurückgezogen lebten, weil sie körperlich irgendwie entstellt waren, was mit einer Sage von gewissen Südseebewohnern zusammenhängen sollte. Das ist genau die Art von Märchen, die von Unwissenden aufgegriffen und ausgeschmückt wird -

wiewohl ich zugeben muß, daß dieses Märchen interessanter ist als die, die man gewöhnlich zu hören bekommt, weil es in Beziehung steht zu den judäochristlichen Moralvorstellungen.

Ich habe in jener Nacht davon geträumt - und habe

offensichtlich schlafgewandelt und einen Teil des Traums an meiner "Meeresgöttin" abreagiert.«

So seltsam mir das auch vorkam, enthielt ich mich jeder weiteren Bemerkung über den Vorfall. Seine Worte hatten eine gewisse Logik, und ich muß zugeben, daß mich die Gerüchte von Innsmouth verständlicherweise mehr interessierten als die Entstellung der "Meeresgöttin".

Außerdem fühlte ich mich von Coreys offenkundiger

Obsession etwas abgestoßen. Im Gespräch war er zwar lebhaft, ganz gleich welches Thema angeschnitten wurde, aber unweigerlich fiel mir ein Hauch von Entrückung auf, wenn wir uns nicht unterhielten als laste etwas auf seinem Gemüt, von dem er nicht sprechen wollte, etwas, was ihm unterschwellig Sorge bereitete, was er aber nicht genau kannte, nicht so gut kannte, daß es ihm darüber zu sprechen erlaubte. Das zeigte sich auf verschiedene Art - einem abwesenden Blick, einem gelegentlichen Ausdruck der Verwirrung, einem Starren ins Leere, auf das Meer hinaus, und ab und zu schweifte er im Gespräch ab, kam vom Thema ab, als dränge sich ein Gedanke in das erörterte Thema, der ihn stärker in Anspruch nahm.

Seit damals habe ich mir überlegt, daß ich die Initiative ergreifen und jener Obsession hätte nachgehen sollen, die für mich so offenkundig war. Ich sah davon ab, weil ich der Meinung war, daß mich das nichts anginge und mir das als Eindringen in Coreys Privatsphäre erschienen wäre. Obwohl wir seit langem Freunde waren, schien es mir nicht meine Pflicht zu sein, mich in Angelegenheiten einzumischen, die

augenscheinlich ihn allein angingen, und da er keine Anstalten traf, das Thema von sich aus anzuschneiden, war ich der Meinung, daß auch ich es nicht tun durfte.

Wenn ich hier dennoch abschweifen und zu jener Zeitspanne nach Coreys Verschwinden vorauseilen darf, als ich in den Besitz' seines Erbes gekommen war - wie von ihm in einem formellen Dokument verfügt -, war es ungefähr zu dieser Zeit, daß Corey in einem Journal oder Tagebuch, das er angelegt hatte, verstörende Anmerkungen niederzuschreiben begann. In einem Notizheft, in dem er allein sein schöpferisches Leben aufzeichnete. Chronologisch passen diese Anmerkungen hier in die Darstellung der Umstände, unter denen Jeffrey Corey seine letzten Monate verbrachte.

» 7. März. Ein recht seltsamer Traum letzte Nacht. Etwas zwang mich, die Meeresgöttin zu taufen. Am Morgen stellte ich fest, daß die Plastik um Kopf und Schulter feucht war, als hätte ich es wirklich getan. Ich beseitigte die Beschädigung, als ob mir keine Alternative offenstünde, obwohl ich geplant hatte, Rima zu verpacken. Der Zwang macht mir Sorgen.

8. März. Im Traum geschwommen, begleitet von

schattenhaften Männern und Frauen. Die Gesichter sind erschreckend vertraut wie aus einem alten Photoalbum. Das hing sicher mit den grotesken Andeutungen und hinterhältigen Anspielungen zusammen, die ich heute in Hammonds Drugstore hörte - über die Marshes, wie gewöhnlich. Eine Geschichte vom Urgroßvater Jethro, der im Wen gelebt haben soll. Mit Kiemen!

Dasselbe behauptet man von einigen Angehörigen der Familie Waite, Gilman und Eliot. Vernahm dasselbe Zeug, als ich anhielt, um an der Bahnstation eine Auskunft einzuholen.

Die Einheimischen lassen sich schon seit Jahrzehnten darüber aus.

10. März. Offenkundig bin ich in der Nacht schlafgewandelt, denn an der Meeresgöttin wurden einige kleine Änderungen angebracht. Merkwürdige Dellen sind zu sehen, als hätte jemand seine Arme um die Plastik gelegt, die gestern viel zu hart war, als daß man einen Abdruck ohne Meißel oder ein ähnliches Werkzeug hätte anbringen können. Die Zeichen sahen aus, als wären sie in weichen Ton eingepreßt worden. Das ganze Objekt war heute morgen feucht. n. März. Ein wirklich außerordentliches Erlebnis in der Nacht. Vielleicht der lebendigste Traum, den ich je hatte, gewiß der erotischste.

Selbst jetzt kann ich kaum an ihn denken, ohne sexuell erregt zu werden. Ich träumte, daß eine Frau, nackt, zu mir ins Bett schlüpfte, nachdem ich eingeschlafen war, und die ganze Nacht bei mir blieb. Ich träumte, daß die ganze Nacht von Liebe erfüllt war - oder vielleicht sollte ich Lust sagen. Habe seit Paris nichts derartiges mehr erlebt! Und so wirklich wie die vielen Nächte im Quartier Latin! Vielleicht zu echt, denn ich erwachte ganz erschöpft. Und ich hatte unzweifelhaft eine ruhelose Nacht verbracht, denn das Bett war in völliger Unordnung.

12. März. Der gleiche Traum. Erschöpft.

13. März. Wieder der Traum vom Schwimmen. In

Meerestiefen. Tief unten eine Art Stadt. Ryeh oder R'lyeh?

Etwas namens »Großer Thulu"?«

Von diesen Dingen, diesen merkwürdigen Träumen, verriet Corey bei meinem Besuch im März sehr wenig. Sein Aussehen schien mir damals etwas verändert, er kam mir abgezehrt vor. Er sprach von gewissen Schlafschwierigkeiten; er konnte sich, sagte er, nicht »ausruhen« - ganz gleich, wann er zu Bett ging.

Er fragte mich, ob ich die Namen »Ryeh« oder »Thulu« je gehört hatte; natürlich nicht, aber am zweiten Tag meines Besuchs konnten wir sie hören.

Wir fuhren an diesem Tag nach Innsmouth - eine kurze Strecke von weniger als fünf Meilen -, und es wurde mir bald klar, daß die Einkäufe, die Corey machen mußte, wie er behauptete, nicht der Hauptgrund für seinen Besuch in Innsmouth waren. Corey war eindeutig auf einen "Fischzug"

aus; er war in der Absicht gekommen, über seine Familie herauszufinden, was er konnte, und zu diesem Zweck führte sein Weg von einem Ort zum anderen, von Ferrand's Drug Store zur öffentlichen Bibliothek, wo der uralte Bibliothekar bei dem Thema, das die alten Familien von Innsmouth und Umgebung betraf, bemerkenswert zurückhaltend war, auch wenn er zu guter Letzt die Namen zweier alter Männer erwähnte, die sich vielleicht an einige der Marshes und Gilmans und Waites erinnerten und die vielleicht an ihrem üblichen Aufenthaltsort, einem Saloon auf der Washington Street, zu finden sein mochten.

So sehr Innsmouth heruntergekommen war, es war doch ein Ort, der jeden archäologisch oder architektonisch Interessierten unausweichlich faszinieren mußte, denn er war gut ein Jahrhundert alt, und die Mehrzahl seiner Gebäude - abgesehen von denen im Geschäftsviertel - waren Jahrzehnte vor der Jahrhundertwende erbaut worden. Auch wenn viele jetzt verlassen dalagen und in einigen Fällen zu Ruinen verfallen waren, spiegelten die architektonischen Züge der Häuser eine Kultur, die seit langem aus der amerikanischen Landschaft verschwunden ist.

Als wir uns auf der Washington Street dem Hafenviertel näherten, zeigten sich überall Anzeichen einer Katastrophe.

Gebäude lagen in Ruinen - »Gesprengt«, sagte Corey, »von den Bundesbeamten, wie es heißt« -, und man hatte sich kaum die Mühe gemacht aufzuräumen, denn einige Nebenstraßen waren noch immer durch Trümmerhaufen unpassierbar. An einer Stelle schien eine ganze Straße zerstört worden zu sein, ebenso hatte man all die alten Gebäude rund um das Hafenbecken, die einst als Lagerräume gedient hatten und seit langem aufgelassen worden waren, gesprengt. Als wir uns der Küste näherten, machte sich ein ekelerregender, durchdringend widerlicher Geruch nach Fisch bemerkbar; er überstieg noch den Fischgestank, den man oft an toten Gewässern entlang der Küste oder auch an Binnenseen antrifft.

Die meisten Lagerhäuser, sagte Corey, hatten einst den Marshes gehört. Das hatte er in Ferrand's Drug Store erfahren.

Die verbliebenen Angehörigen der Familien Waite und Gilman und Eliot hatten nur geringe Verluste erlitten. Die staatliche Macht hatte sich fast ausschließlich gegen die Marshes und ihren Besitz in Innsmouth gerichtet, wenn auch die Marsh Refining Company, die allerdings nicht mehr der Marsh-Familie gehörte und noch immer einigen Dorfbewohnern, die nicht auf Fischfang gingen, Arbeit bot, nicht betroffen gewesen war.

Der Saloon, den wir schließlich erreichten, stammte eindeutig aus dem 19. Jahrhundert; und es war gleichermaßen deutlich, daß das Gebäude von innen und von außen seit der Errichtung nicht mehr renoviert worden war, denn alles sah unglaublich verwahrlost und verkommen aus. Ein schlampiger Mann mittleren Alters saß hinter dem Tresen und las im Arkham Advertiser, außerdem saßen noch, weit voneinander entfernt, zwei alte Männer da, einer von ihnen schlafend.

Corey bestellte ein Glas Brandy, ich desgleichen.

Der Barkeeper machte sich nicht die Mühe, sein vorsichtiges Interesse an uns zu verbergen.

»Seth Akins?« fragte Corey schließlich. Der Barkeeper zeigte nickend auf den Kunden, der am Tresen schlief.

»Was trinkt er?« fragte Corey.

»Alles..

»Einen Brandy für ihn..

Der Barkeeper goß einen Schuß Brandy in ein schmutziges Glas und stellte es auf den Tresen. Corey trug es zu dem alten Mann hinunter, setzte sich neben den Schlafenden und stieß ihn an, bis er erwachte.

»Ich lade Sie ein«, sagte er.

Der alte Mann blickte auf und zeigte dabei ein gegerbtes Gesicht und Triefaugen unter zerzaustem grauen Haar. Er sah den Brandy, grapschte nach ihm, grinste unsicher und schüttete ihn hinunter.

Corey begann ihn auszufragen, wobei er zunächst nur bemerkte, daß er ein alter Einwohner Innsmouths sei. Er sprach ganz allgemein über das Dorf und das Umland bis Arkham und Newburyport. Akins antwortete ziemlich freimütig, und Corey bestellte ihm noch ein Glas und dann noch eins.

Akins' Redefluß verstummte jedoch sofort, als Corey die alten Familien erwähnte, vor allem die Marshes. Der Alte wurde spürbar vorsichtiger, seine Augen huschten sehnsüchtig zur Tür, als wäre er gern entkommen. Corey setzte ihm jedoch hart zu, und Akins gab nach.

»Vermutlich schadet's nicht, jetzt zu reden«, meinte er schließlich. »Die meisten Marshes sind fort, seit die Regierung letzten Monat eingegriffen hat. Niemand weiß, wohin sie verschwunden sind, aber sie kommen nicht mehr zurück.« Er schweifte ein bißchen ab. Nachdem er jedoch das Thema einige Zeit umkreist hatte, kam er schließlich auf den

»Ostindienhandel« und »Käptn Obed Marsh« zu sprechen - »der mit allem begann. Er hatte eine Art Vereinbarung mit den Ostindern - brachte einige ihrer Frauen mit und hielt sie in dem großen Haus, das er gebaut hatte. Nachher bekamen die jungen Marshes den seltsamen Blick und begannen draußen beim Teufelsriff herumzuschwimmen. Sie blieben lange Zeit fort -

stundenlang -, und es war nicht normal, so lange unter Wasser zu bleiben. Käptn Obed heiratete eine dieser Frauen - und einige der jungen Marshes fuhren nach Ostindien und brachten weitere mit.

Der Handel der Marshes ging nie so zurück wie der der anderen. Alle drei von Käptn Obeds Schiffen - die Brigg Col umby, die Barke Sumatry Queen und eine weitere Brigg, Hetty, segelten im Ostindien- und Pazifikhandel, ohne je einen Unfall zu erleiden. Und diese Leute - die Ostinder der Marshes -

fingen mit einer neuen Religion an - sie nannten sie den Orden von Dagon und es wurde über diese Treffen viel geredet, geflüstert, wo niemand mithörte, und die jungen Leute - also vielleicht gingen sie zugrunde, aber niemand sah sie wieder, und all dieses Gerede über Opfer - Menschenopfer - ungefähr zur gleichen Zeit, wo die jungen Leute verschwanden - aber keiner von den Marshes oder Gilmans oder Waites oder Eliots, niemand von diesen Leuten verschwand je. Und all dieses Geraune von einem Ort namens "Ryeh" und etwas namens

"Thulu" - irgendein Verwandter Dagons, scheint's...«

An dieser Stelle unterbrach ihn Corey mit einer Frage, in der Absicht, Akins' Erwähnung erläutert zu bekommen, doch wußte der Alte nichts, und ich verstand den Grund für Coreys plötzliches Interesse erst später.

Akins fuhr fort: »Die Leute hielten sich von den Marshes fern und auch von den anderen. Aber zum Großteil waren es die Marshes, die dieses merkwürdige Aussehen hatten. Es wurde so schlimm, daß einige von ihnen nie das Haus verließen, außer des Nachts, und dann meistens nur, um im Ozean schwimmen zu gehen. Sie konnten wie Fische schwimmen, hieß es - ich habe es nie selbst gesehen, und niemand redete viel, denn uns fiel auf, daß jedesmal, wenn einer viel daherredete, er bald nicht mehr zu sehen war - wie die jungen Leute - und man nichts mehr von ihm hörte.

Käptn Obed lernte eine ganze Menge in Ponape und von den Kanaken - alles über die Leute, die man die "Tiefen Wesen"

nannte, die unter Wasser lebten - und er brachte alle Arten von Schnitzwerk zurück, merkwürdige Fischwesen und

Unterwasserwesen, die keine Fischwesen waren - Gott weiß, was für Wesen das waren!«

»Was hat er mit diesem Schnitzwerk gemacht?« unterbrach ihn Corey.

»Ein paar, die nicht in die Halle Dagons kamen, hat er verkauft und für 'nen guten Preis, 'nen wirklich guten Preis hat er dafür bekommen. Aber jetzt sind alle fort, alle fort - und mit dem Orden Dagons ist es aus, und die Marshes hat man hier nicht mehr gesehen, seit die Lagerhäuser mit Dynamit in die Luft gesprengt wurden. Es wurden auch nicht alle verhaftet -

nein, Sir, man sagt, daß die Marshes, die übrigblieben, bloß zur Küste hinabwanderten und ins Wasser gingen und sich selbst umbrachten.« An dieser Stelle lachte er höhnisch. »Aber niemand hat eine der Leichen der Marshes gesehen, an der ganzen Küste nicht..

Er hatte gerade diesen Punkt in seiner Erzählung erreicht, als es zu einem höchst merkwürdigen Vorfall kam. Er starrte meinen Gefährten plötzlich mit weit aufgerissenen Augen an, das Kinn fiel ihm herab, und seine Hände begannen zu zittern.

Einen Augenblick oder zwei wirkte er wie erstarrt in dieser Stellung, dann riß er sich zusammen, glitt vom Barhocker, drehte sich um und rannte stolpernd aus dem Haus auf die Straße hinaus, und ein langer Verzweiflungsschrei drang gräßlich durch die Winterluft zu uns.

Zu sagen, daß wir erstaunt waren, hieße, es milde

auszudrücken. Seth Akins' plötzliche Flucht vor Corey kam so völlig unerwartet, daß wir uns erstaunt anblickten. Erst später fiel mir ein, daß Akins' abergläubisches Gemüt vom Anblick der merkwürdigen Runzeln auf Coreys Hals unter seinen Ohren erschüttert gewesen sein mußte - denn im Verlauf unseres Gesprächs mit dem Alten hatte sich Coreys dicker Schal, der seinen Hals vor der rauhen kalten Märzluft geschützt hatte, gelöst, war in einer kurzen Schlaufe über seine Brust gefallen und hatte die Vertiefungen und die rauhe Haut enthüllt, die Coreys Hals immer gezeigt hatte, die Kehllappen, die auf Alter und Verbrauchtheit hinwiesen.

Keine andere Erklärung bot sich an, und ich sagte Corey nichts davon, um ihn nicht weiter zu erregen, denn er war sichtlich beunruhigt, und es brachte nichts, wenn man ihn noch mehr aufregte.

»Was für ein Geschwätz!« rief ich aus, sobald wir uns wieder auf der Washington Street befanden.

Er nickte abwesend, doch konnte ich deutlich erkennen, daß einige Aspekte der Erzählung des alten Burschen meinen Gefährten irgendwie beeindruckt hatten - und nicht gerade angenehm. Er rang sich ein Lächeln ab, aber ein ziemlich gezwungenes, und auf meine weiteren Einwürfe zuckte er bloß mit den Schultern, als wünschte er nicht von den Dingen zu sprechen, die wir von Akins gehört hatten.

Den ganzen Abend über war er bemerkenswert schweigsam und ganz offenkundig in Gedanken versunken, weit stärker noch als zuvor. Ich erinnerte mich, daß ich ihm seine mangelnde Bereitschaft übelnahm, die Gedanken, die sein Gemüt bedrückten, mit mir zu teilen, aber natürlich lag diese Entscheidung bei ihm und nicht bei mir, und ich hege den Verdacht, daß das, was an jenem Abend seine Gedanken bewegte, ihm so weit hergeholt und ausgefallen erschienen sein muß, daß er sich den Spott ersparen wollte, den er sich offensichtlich von mir erwartete. Darum kam ich nach mehreren Anläufen, die er abwehrte, nicht mehr auf das Thema Seth Akins und die Sagen von Innsmouth zurück.

Am Morgen kehrte ich nach New York zurück.

Weitere Auszüge aus Jeffrey Coreys Tagebuch.

»i8. März. Erwachte am Morgen mit der Überzeugung, daß ich letzte Nacht nicht allein geschlafen hatte. Eindrücke auf dem Kissen und im Bett. Zimmer und Bett sehr feucht, als hätte neben mir etwas Feuchtes gelegen. Intuitiv weiß ich, daß es sich um eine Frau handelte. Aber wie? Beunruhigung bei dem Gedanken, daß der Marsh-Irrsinn sich vielleicht bei mir zu zeigen beginnt. Fußspuren auf dem Boden.

19. März. "Meeresgöttin" verschwunden! Die Tür ist offen.

Jemand muß sich während der Nacht eingeschlichen und sie mitgenommen haben. Man kann kaum behaupten, daß ihr Verkaufswert das Risiko lohnt! Sonst fehlt nichts.

20. März. Träumte die ganze Nacht davon, was Seth Akins sagte. Erblickte Käptn Obed Marsh unter Wasser! Uralt. Mit Kiemen! Schwamm vor dem Teufelsriff weit unter der Oberfläche des Atlantiks.

Viele andere, Männer wie Frauen. Das merkwürdige Marsh-Aussehen! Oh, die Macht und die Herrlichkeit.

2.1. März. Nacht des Frühlingsbeginns. Mein Nacken pochte die ganze Nacht vor Schmerz. Konnte nicht schlafen. Stand auf und ging zur Küste hinunter. Wie mich das Meer anzieht! War mir zuvor nie bewußt, aber jetzt erinnere ich mich, wie ich mir als Kind immer einbildete, ich hörte - weit von der Küste entfernt, mitten auf dem Festland - das Geräusch des Meeres, der Gezeiten und der windgepeitschten Wellen! - Die ganze Nacht erfüllte mich ein furchtgetränktes Gefühl, daß etwas geschehen würde.«

Unter demselben Datum - 21. März - schrieb Corey seinen letzten Brief an mich. Er erwähnte darin seine Träume nicht, aber er schrieb mir über seine Halsschmerzen.

»Es ist nicht die Kehle - das ist klar. Das Schlucken bereitet mir keine Beschwerden. Der Schmerz scheint in dem entstellten Hautbereich unter den Ohren zu sitzen - den Kehllappen oder Warzen oder Runzeln, wie immer man es nennen will. Ich kann es nicht beschreiben, es ist nicht der Schmerz, den man mit Starre oder Verspanntheit oder einer Schwellung verbindet. Es ist, als wolle die Haut nach außen aufbrechen, und es reicht tief hinein. Gleichzeitig kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, daß etwas unmittelbar bevorsteht - etwas, was ich ebenso fürchte wie ich mich darauf freue, und

Stammeserinnerungen aller Arten - so mangelhaft ich es auch ausdrücke - halten mich gefangen!.

Ich riet ihm in meiner Antwort, einen Arzt aufzusuchen, und versprach ihm, ihn Anfang April zu besuchen.

Zu dieser Zeit aber war Corey verschwunden.

Es gab einige Hinweise, daß er zum Atlantik gegangen und hineingestiegen war - ob in der Absicht zu schwimmen oder Selbstmord zu begehen, ließ sich nicht feststellen. Die Abdrücke seiner bloßen Sohlen wurden in den Überresten des

merkwürdigen Tons entdeckt, den das Meer im Februar an den Strand gespült hatte, doch gab es keine Abdrücke, die auf seine Rückkehr schließen ließen. Es gab keinen Abschiedsbrief gleich welcher Art, doch hatte er Anweisungen hinterlassen, in denen er Verfügungen über seinen Besitz traf und mich zum Nachlaßverwalter einsetzte, was darauf hinwies, daß er etwas vorausgeahnt hatte.

Eine, wenn auch bestenfalls oberflächliche Suche nach Coreys Leiche wurde an der Küste und unterhalb Innsmouths durchgeführt, doch erwies sie sich als ergebnislos, und das Gericht kam unschwer zu dem Schluß, daß Corey einem Unglück zum Opfer gefallen war.

Keine Aufzeichnung der Umstände, die für das Geheimnis seines Verschwindens bedeutsam schienen, könnte ohne kurze Darstellung dessen bleiben, was ich draußen vor dem Teufelsriff in der Abenddämmerung des 17. April sah.

Es war ein friedlicher Abend, das Meer war wie aus Glas, und kein Windhauch bewegte die Abendluft.

Ich stand vor dem Abschluß der Verfügungen über Coreys Besitz und hatte mich entschlossen, in einiger Entfernung vor Innsmouth hinauszurudern. Was ich vom Teufelsriff

vernommen hatte, zog mich unausweichlich zu seinen Überresten hin - ein paar gezackte und zerborstene Steine, die bei Ebbe gut eine Meile vor dem Dorf aus dem Wasser emporragten. Die Sonne war jetzt untergegangen, ein schönes Nachglühen lag am westlichen Horizont, und das Meer war, so weit der Blick reichte, von tiefem Kobaltblau.

Ich hatte gerade erst das Riff erreicht, als es im Wasser großen Aufruhr gab. Die Oberfläche wurde an vielen Stellen aufgewühlt. Ich hielt inne und saß ganz still da, denn ich vermutete, daß vielleicht ein Schwarm Delphine an die Oberfläche kam, und spürte eine gewisse Vorfreude auf den Anblick, der sich mir bieten mochte.

Es handelte sich jedoch keinesfalls um Delphine. Es war eine Art von Meeresbewohnern, von denen ich keine Kenntnis hatte.

In dem schwindenden Licht glichen die Schwimmer sowohl Fischen wie auch beschuppten Menschen. Alle bis auf ein Paar von ihnen blieben dem Boot fern, in dem ich saß.

Das Paar - eines davon eindeutig ein weibliches Wesen von merkwürdig tonartiger Farbe, das andere ein Mann - kam dem Boot, in dem ich saß und ihm mit gemischten Gefühlen entgegensah, die nicht frei von der Art von Grauen waren, das aus einer tiefen Furcht vor dem Unbekannten erwächst, ganz nahe. Die beiden schwammen vorbei, stießen an die Oberfläche und tauchten wieder, und nachdem sie vorbeigeschwommen waren, wandte sich das hellhäutigere der beiden Wesen um und warf mir unzweifelhaft einen Blick zu, wobei es einen seltsamen gutturalen Laut von sich gab, der einem halberstickten Aufschrei meines Namens nicht unähnlich war: »Jack!« und mich mit der klaren und unverkennbaren Überzeugung zurückließ, daß das kiemenbewehrte Meereswesen die Züge Jeffrey Coreys trug!

Das verfolgt mich heute noch in meinen Träumen.