Das Tagebuch des Alonzo Typer

William Lumley und H. P. Lovecraft

Anmerkung des Herausgebers: Alonzo Hasbrouch Typer aus Kingston, New York, wurde zum letzten Mal am 17. April 1908

gegen Mittag im Hotel Richmond in Batavia gesehen und erkannt. Er war der einzige Nachkomme einer uralten Familie aus dem Bezirk Ulster und zum Zeitpunkt seines Verschwindens 53 Jahre alt.

Mr. Typer wurde privat unterrichtet und besuchte

anschließend die Universitäten Columbia und Heidelberg. Er verbrachte sein ganzes Leben als Lernender, seine

Forschungsgebiete schlössen viele dunkle und allgemein gefürchtete Grenzbereiche menschlichen Wissens mit ein. Seine Schriften über Vampirismus, Ghule und Poltergeistphänomene wurden privat gedruckt, nachdem sie von vielen Verlegern abgelehnt worden waren. Nach einer Reihe besonders bitter geführter Auseinandersetzungen trat er im Jahr 1900 aus der Society for Psychical Research aus.

Zu verschiedenen Zeiten unternahm Mr. Typer ausgedehnte Reisen, manchmal verschwand er für längere Zeiträume. Man weiß, daß er viele unbekannte Orte in Nepal, Indien, Tibet und Indochina besucht hat und den Großteil des Jahres 1899 auf den geheimnisvollen Osterinseln verbrachte. Die ausgedehnte Suche nach dem Verschwundenen erbrachte keine Ergebnisse, und sein Erbe wurde unter entfernte Verwandte in New York City aufgeteilt.

Das hiermit vorgestellte Tagebuch wurde angeblich in den Ruinen eines geräumigen Landhauses in der Nähe von Attica, N.

Y., das schon Generationen vor seinem Einsturz einen merkwürdig unheimlichen Ruf hatte, gefunden. Das Gebäude war sehr alt, älter als die allgemeine Besiedlung des Gebiets durch die Weißen, und war die Heimstatt einer merkwürdigen und verschlossenen Familie namens van der Heyl gewesen, die 1746 aus Albany unter dem merkwürdigen Schatten des Verdachts, Hexerei betrieben zu haben, hierhergezogen war. Der Bau stammte möglicherweise aus der Zeit um 1760.

Von der Geschichte der van der Heyls ist nur wenig bekannt.

Sie hielten sich von ihren Nachbarn fern, beschäftigten Neger als Bedienstete, die sie direkt aus Afrika holten und die kaum Englisch sprachen, und erzogen ihre Kinder privat und auf europäischen Hochschulen. Diejenigen unter ihnen, die in die Welt hinauszogen, verschwanden schnell aus dem Blick, jedoch erst, nachdem sie einen schlimmen Ruf erlangt hatten, weil sie sich mit Gruppen eingelassen hatten, die Schwarze Messen abhielten, und mit Kulten von noch dunklerer Tragweite.

Um das gefürchtete Haus erhob sich eine Streusiedlung, bewohnt von Indianern und später von Renegaten aus dem umliegenden Gebiet, das den zweifelhaften Namen Chorazin trug. Über die einzigartigen Erbanlagen, die später unter den Dorfbewohnern von Chorazin auftraten, haben Ethnologen mehrere Monographien verfaßt. Unmittelbar hinter dem Dorf, in Sicht des Hauses der van der Heyls, befindet sich ein steiler Hügel, der von einem merkwürdigen Ring uralter, aufrecht stehender Steine gekrönt ist, die von den Irokesen immer mit Furcht und Abscheu betrachtet wurden.

Ursprung und Natur der Steine, deren Entstehungsdatum, nach den archäologischen und klimatologischen Beweisen zu urteilen, sagenhaft früh sein muß, sind noch immer ein ungelöstes Problem.

Von etwa 1795 an wissen die Sagen der einströmenden Pioniere und der späteren Bevölkerung viel zu berichten von seltsamen Rufen und Gesängen, die zu gewissen Jahreszeiten von Chorazin sowie dem großen Haus und dem Hügel der aufrecht stehenden Steine ausgingen. Doch gibt es Grund zu der Annahme, daß dies um 1872 aufhörte, als der gesamte vander-Heyl-Haushalt - mit allen Dienstboten - plötzlich verschwand.

Von da an war das Haus verlassen, denn es ereigneten sich andere Katastrophen, darunter drei unerklärliche Todesfälle, fünf Fälle von Verschwinden und vier Fälle plötzlichen Wahnsinns, als spätere Besitzer und interessierte Besucher versuchten, es zu bewohnen. Das Haus, das Dorf und ausgedehnte landwirtschaftliche Nutzflächen ringsum fielen an den Staat und wurden mangels auffindbarer vander-Heyl-Erben versteigert. Seit ungefähr 1890 haben die Besitzer (der verstorbene Charles A. Shields und sein Sohn Oscar S. Shields aus Buffalo) den ganzen Besitz verfallen lassen und alle Neugierigen gewarnt, das Gebiet zu betreten.

Von denjenigen, die sich, wie man weiß, dem Haus während der letzten vierzig Jahre genähert haben, waren die meisten Erforscher des Okkulten, Polizeibeamte, Zeitungsleute und recht seltsame Gestalten aus dem Ausland, darunter ein

geheimnisvoller Eurasier, möglicherweise aus Chochinchina, dessen späteres Wiederauftauchen im Jahr 1903, bar jeder Erinnerung und mit bizarren Verstümmelungen, in der Presse große Aufmerksamkeit fand.

Mr. Typers Tagebuch - ein Buch von etwa 6x3 1/2 Zoll Größe, aus widerstandsfähigem Papier und einer merkwürdig haltbaren Bindung aus dünnem Metallblech - wurde am 16.

November 1935 im Besitz eines der dekadenten Dorfbewohner von Chorazin entdeckt, und zwar von einem Staatspolizisten, der ausgesandt worden war, um den Gerüchten vom Einsturz der leerstehenden vander- Heyl-Villa nachzugehen. Diese war bei dem heftigen Sturm vom 12.. November wirklich eingestürzt, offensichtlich eine Folge des Alters und der Vernachlässigung.

Die Zerstörung war eigenartig gründlich, und mehrere Wochen lang konnte keine genaue Durchsuchung der Ruinen

vorgenommen werden. John Eagle, der dunkelhäutige, affengesichtige, indianerähnliche Dorfbewohner, der das Tagebuch in seinem Besitz hatte, erklärte, daß er das Buch an der Oberfläche des Schuttberges gefunden hatte, in den Resten dessen, was vermutlich das Vorderzimmer im Obergeschoß gewesen war.

Das Innere des Hauses ließ sich nur noch schwerlich identifizieren, wiewohl ein riesiges und erstaunlich festes Ziegelgewölbe im Keller (dessen uralte Eisentür wegen des merkwürdig verzierten und auf perverse Weise Widerstand bietenden Schlosses aufgesprengt werden mußte) intakt blieb und rätselhafte Baumerkmale aufwies. Erstens waren die Wände mit noch immer unentzifferten Hieroglyphen bedeckt, die grob in das Ziegelmauerwerk eingeritzt waren. Eine weitere Merkwürdigkeit war eine riesige kreisförmige Öffnung auf der Hinterseite des Gewölbes, die durch eine Bodensenkung blockiert war, die offensichtlich vom Einsturz des Gebäudes herrührte.

Am rätselhaftesten jedoch war die anscheinend in jüngster Zeit erfolgte Ablagerung einer stinkenden, schleimigen, pechschwarzen Substanz auf dem verfliesten Boden, die sich in einer meterbreiten Linie erstreckte, deren eines Ende die verschüttete Kreisöffnung bildete. Die Leute, die das Gewölbe öffneten, erklärten, daß die Stelle wie das Schlangengehege eines Zoos roch.

Das Tagebuch, das offensichtlich allein zu dem Zweck angelegt worden war, die Erforschung des gefürchteten vander-Heyl-Hauses durch den verschwundenen Mr. Typer zu

beschreiben, ist inzwischen von Schriftsachverständigen für echt erklärt worden. Das Schriftstück zeigt gegen Ende Anzeichen einer wachsenden Nervenzerrüttung und wird stellenweise beinahe unleserlich. Die Bewohner von Chorazin - deren Beschränktheit und Wortkargheit alle Erforscher des Gebietes und seiner Geheimnisse erstaunt - erklären, sich an nichts zu erinnern, was Mr. Typer von anderen unvorsichtigen Besuchern des gefürchteten Hauses unterschieden hätte.

Der Text des Tagebuchs wird hier buchstabengetreu ohne jeden Kommentar wiedergegeben. Wie man ihn interpretieren und was man daraus anderes schließen kann als die geistige Zerrüttung des Schreibers, muß jeder Leser für sich selbst entscheiden. Nur die Zukunft kann weisen, welcher Wert ihm bei der Lösung des generationenalten Geheimnisses zukommen mag. Man kann hinzufügen, daß die Genealogen Mr. Typers verspätete Erinnerung in der Sache Adriaen Sieght bestätigen.

Das Tagebuch Kam hier gegen 6 Uhr abends an. Mußte die ganze Strecke von Attica angesichts eines drohenden Sturms zu Fuß gehen, denn niemand wollte mir ein Pferd oder einen Wagen leihen, und mit einem Auto kann ich nicht umgehen.

Dieser Ort ist noch schlimmer als erwartet, und ich fürchte das Bevorstehende, obwohl ich mich gleichzeitig danach sehne, das Geheimnis zu erkunden. Nur allzu schnell ist die Nacht da - die alte Walpurgisnacht des Sabbatgrauens -, und nach jener Zeit in Wales weiß ich, was zu erwarten ist. Was immer kommt, ich werde mit keiner Wimper zucken. Von einem unergründlichen Drang angetrieben, habe ich mein ganzes Leben der Suche nach unheiligen Geheimnissen gewidmet. Aus keinem anderen Grund bin ich hierhergekommen, und ich will nicht mit dem Schicksal rechten.

Bei meiner Ankunft war es sehr dunkel, obwohl die Sonne noch keineswegs untergegangen war. Die Sturmwolken waren die dichtesten, die ich je gesehen hatte, und ohne die Blitze hätte ich den Weg überhaupt nicht gefunden. Das Dorf ist ein hassenswerter Ort, wo sich die Füchse gute Nacht sagen, und seine wenigen Bewohner sind nicht besser als Idioten. Einer von ihnen begrüßte mich auf merkwürdige Weise, so als kenne er mich. Ich konnte sehr wenig von der Gegend sehen - bloß ein winziges, sumpfiges Tal mit braunen Schilfgewächsen und toten Schwämmen, umgeben von knorrigen, drohend verkrüppelten Bäumen mit blätterlosen Ästen. Hinter dem Dorf jedoch liegt ein trist aussehender Hügel, auf dessen Kuppel sich ein Kreis großer Steine mit einem weiteren Stein im Mittelpunkt befindet.

Das ist zweifellos jenes abgefeimte Urschlammwesen, von dem mir V-- erzählt hat, die N--st-Fledermaus.

Das große Haus liegt inmitten eines Parks, der zur Gänze mit merkwürdig aussehenden Dornbüschen bedeckt ist. Ich konnte mir kaum einen Weg bahnen, und als es mir gelungen war, hielten mich das enorme Alter und die Verlotterung des Gebäudes beinahe davon ab einzutreten. Der Ort sah schmutzig und entartet aus, und ich fragte mich, wie ein so lepröser Haufen zusammenhalten mochte. Es besteht aus Holz, und obwohl die ursprünglichen Konturen in einer verwirrenden Vielzahl von Gebäudeflügeln verborgen sind, die zu verschiedenen Zeiten hinzugefügt wurden, glaube ich, daß es ursprünglich in dem geometrischen Kolonialstil Neu-Englands erbaut wurde. Das war vermutlich einfacher zu bauen als ein holländisches Steinhaus - und außerdem erinnere ich mich, daß Dirck van der Heyls Frau aus Salem stammte, sie war eine Tochter des unsäglichen Abaddon Corey. Das Haus hatte eine kleine Säulenveranda, die ich gerade erreichte, als der Sturm losbrach.

Es war wirklich ein teuflischer Sturm - schwarz wie Mitternacht, es regnete in Strömen, Donner und Blitz wie am Tag des Weltuntergangs, und ein Wind, der im wahrsten Sinn des Wortes an mir zerrte.

Die Tür war nicht verschlossen, daher holte ich meine elektrische Taschenlampe hervor und ging hinein. Auf Boden und Möbeln lag zentimeterdick Staub, und der Platz stank wie ein vermoderndes Grab. Ein Flur erstreckte sich bis nach hinten, und rechts führte eine geschwungene Treppe nach oben.

Ich kämpfte mich mühsam dorthin durch und wählte mir dieses Vorderzimmer als Unterkunft. Alles scheint möbliert zu sein, doch fallen die meisten Möbel schon auseinander. Ich schreibe dies um acht Uhr, nach einer kalten Mahlzeit aus meiner Reisetasche. Später werden mir die Dorfbewohner Nachschub bringen, auch wenn sie sich vorerst (wie sie sagen) nicht bereit erklärt haben, weiter als bis zu den Ruinen des Parktores zu kommen. Ich wünschte, ich könnte ein

unangenehmes Gefühl der Vertrautheit mit dieser Stätte loswerden.

Später Ich bin mir sicher, daß mehrere Wesen sich in diesem Haus aufhalten. Eines davon ist mir entschieden feindlich gesinnt - ein bösartiger Wille, der danach strebt, meinen eigenen zu bezwingen und mich zu überwältigen. Ich darf das keinen Augenblick lang zulassen, sondern muß meine ganze Kraft aufbieten, um Widerstand zu leisten. Es ist entsetzlich böse und entschieden nichtmenschlich. Ich glaube, es muß mit Mächten außerhalb der Erde in Verbindung stehen - Mächten in den Räumen hinter der Zeit und außerhalb des Universums. Es ragt wie ein Koloß in die Höhe und bestätigt damit, was in den Aklo-Schriften behauptet wird. Mit ihm ist eine Empfindung solch ungeheurer Größe verbunden, daß ich mich frage, wie diese Kammern seine Masse aufnehmen können - und doch hat es keine sichtbare Ausdehnung. Sein Alter muß unaussprechlich hoch sein - schockierend, nicht zu beschreiben.

18. April Schlief sehr wenig letzte Nacht. Um drei Uhr morgens begann ein seltsamer, schleichender Wind das ganze Gebiet zu durchziehen, der immer heftiger wurde, bis das Haus schwankte, als stünde es in einem Taifun. Als ich die Treppe hinunterging, um nach der klappernden Eingangstür zu sehen, nahm die Dunkelheit in meiner Phantasie halb sichtbare Formen an. Gerade unter dem Verandaabsatz erhielt ich einen heftigen Stoß von hinten - vom Wind, nehme ich an, wiewohl ich hätte schwören mögen, daß ich die sich auflösenden Umrisse einer riesigen schwarzen Pfote erblickte, als ich mich rasch umwandte. Ich verlor den Halt nicht, sondern beendete den Abstieg sicher und schob den schweren Bolzen an der gefährlich rüttelnden Tür vor.

Ich hatte nicht vorgehabt, das Haus vor der

Morgendämmerung zu erkunden. Jetzt aber - nicht imstande, wieder einzuschlafen, und beflügelt von einer Mischung aus Grauen und Neugier spürte ich kein Verlangen, meine Suche aufzuschieben. Mit meiner starken Taschenlampe kämpfte ich mich durch den Staub zum großen Salon im Süden durch, wo die Porträts hängen mußten, wie ich wußte.

Dort waren sie auch, genauso wie V-- es berichtet hatte, und wie ich mich offenbar aus einer dunklen Quelle zu erinnern schien. Einige waren so geschwärzt und staubbedeckt, daß ich wenig oder gar nichts ausmachen konnte, aber an denen, die ich erkennen konnte, sah ich, daß sie tatsächlich die hassenswerte Ahnenreihe der van der Heyls darstellten. Einige der Gemälde schienen Ähnlichkeit mit Gesichtern zu haben, die ich gekannt hatte, aber welche Gesichter genau, daran konnte ich mich nicht erinnern.

Die Umrisse des erschreckend anmaßenden Joris - zur Welt gebracht 1773 von Dircks jüngster Tochter waren am deutlichsten, und ich konnte die grünen Augen und den Schlangenblick in seinem Gesicht erkennen. Jedesmal, wenn ich die Taschenlampe ausschaltete, schien das Antlitz im Dunklen zu glühen, bis mir fast so war, als leuchte es mit einem schwachen, grünlichen Eigenlicht. Je länger ich es betrachtete, desto böser schien es zu sein, und ich wandte mich ab, um dem Wahn zu entgehen, sein Ausdruck wechsle.

Dasjenige aber, dem ich mich zuwandte, war noch schlimmer.

Das lange, mürrische Gesicht, die kleinen, eng

zusammenliegenden Augen und schweineähnlichen Züge ließen sofort erkennen, wer es war, auch wenn sich der Künstler bemüht hatte, den Rüssel so menschlich wie möglich zu machen.

Das war es, wovon V-- geflüstert hatte. Als ich es entsetzt anstarrte, war mir, als würden die Augen einen rötlichen Schein annehmen, und einen Augenblick lang schien der Hintergrund durch eine fremdartige und anscheinend nicht dazugehörende Landschaft ersetzt zu sein - ein einsames, düsteres Moor unter einem schmutziggelben Himmel, auf dem ein erbärmlich aussehender Schlehdornbusch wuchs. Um meine geistige Gesundheit fürchtend, stürzte ich aus der verfluchten Galerie in den vom Staub gesäuberten Winkel oben im ersten Stock, wo ich mein »Lager« aufgeschlagen habe.

Später Beschloß, einige der labyrinthischen Flügel des Hauses bei Tageslicht zu erkunden. Ich kann mich nicht verirren, denn meine Fußspuren sind in dem knöcheltiefen Staub deutlich erkennbar, und wenn notwendig, kann ich andere Kennmarken anbringen. Es ist merkwürdig, wie rasch mir die Windungen des Flurs vertraut werden. Ich folgte einem langgestreckten nördlichen »L« bis ans Ende und gelangte an eine versperrte Tür, die ich aufbrach. Dahinter lag ein kleines Zimmer, das mit Möbeln vollgestopft war und dessen Paneele vom Holzwurm zernagt waren. An der Außenwand erspähte ich einen schwarzen Raum hinter dem verfaulenden Holzwerk und entdeckte einen engen Geheimgang, der nach unten in unbekannte,

nachtschwarze Tiefen führte. Es war eine steil abfallende Rutsche oder ein Tunnel ohne Stufen oder Handgriffe, und ich fragte mich, welchem Zweck er wohl gedient hatte.

Über dem Kamin hing ein vermodertes Gemälde, das ich bei näherer Betrachtung als das einer jungen Frau in der Kleidung des späten achtzehnten Jahrhunderts erkannte. Das Gesicht war von klassischer Schönheit, zeigte jedoch den teuflischsten Ausdruck, den ich je in einem menschlichen Antlitz erblickt habe. Nicht bloß Zynismus, Gier und Grausamkeit, sondern eine Eigenschaft, entsetzlich, über jedes menschliche Verständnis hinaus, schien in diesen sehr schöngeschnittenen Zügen zu liegen. Und bei der Betrachtung kam es mir so vor, als habe der Künstler - oder die langsamen Prozesse des Moders und Verfalls

- der bleichen Gesichtsfarbe einen krankhaften Stich ins Grüne verliehen und die Andeutung einer beinahe schuppenähnlichen Beschaffenheit. Später stieg ich zur Dachkammer hinauf, wo ich mehrere Kisten mit seltsamen Büchern fand - viele davon von gänzlich fremdartigem Aussehen, sowohl was die Buchstaben wie die äußere Form anging. Eines enthielt Spielarten der Aklo-Formel, von deren Existenz ich keine Ahnung gehabt hatte. Die Bücher in den staubigen Regalen unten habe ich mir noch nicht vorgenommen.

19. April Es gibt hier zweifellos unsichtbare Wesen, auch wenn der Staub außer meinen eigenen keine anderen Fußspuren zeigt. Bahnte mir gestern einen Pfad durch das Dorngestrüpp zum Parkeingang, wo meine Vorräte abgelegt werden, aber an diesem Morgen fand ich ihn zugewachsen. Höchst merkwürdig, weil sich in den Büschen kaum noch der Saft des Frühlings regt.

Wiederum hatte ich die Empfindung, etwas so Kolossales sei nahe, daß es die Gemächer kaum fassen. Diesmal spürte ich, daß mehr als eines der Wesen von solcher Größe ist, und ich weiß nunmehr, daß das dritte Aklo-Ritual - das ich gestern in dem Buch in der Dachstube entdeckt habe - ein solches Wesen materiell und sichtbar machen würde. Ob ich mich an diese Materialisierung wagen werde, bleibt abzuwarten. Die Gefahren sind groß.

Letzte Nacht begann ich in den dunklen Winkeln der Säle und Gemächer flüchtige Schattengesichter und formen zu erspähen -

Gesichter und Formen, die so entsetzlich und abscheulich sind, daß ich nicht wage, sie zu beschreiben. Sie scheinen der Substanz nach mit der Riesenpfote verwandt zu sein, die mich vorletzte Nacht die Stufen hinunterzustoßen suchte. Es muß sich um Phantome meiner gestörten Phantasie handeln. Was ich suche, ähnelt diesen Dingen nicht ganz. Ich habe die Pfote neuerlich gesehen, manchmal allein und zuweilen mit ihren Gefährten, aber ich bin entschlossen, derartige Erscheinungen nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Am frühen Nachmittag habe ich erstmals den Keller erforscht, indem ich eine Leiter hinunterstieg, die ich in einem Lagerraum gefunden hatte, denn die Holzstufen waren verfault. Der ganze Ort ist eine Masse nitröser Verkrustungen, amorphe Erhebungen markieren die Stellen, wo verschiedene Gegenstände sich zersetzt haben. Am entgegengesetzten Ende befindet sich ein enger Durchgang, der sich unter dem nördlichen »L« zu erstrecken scheint, wo ich den kleinen versperrten Raum fand.

An seinem Ende gibt es eine massive Backsteinwand mit einer versperrten Eisentür. Diese Mauer und diese Tür, die offenkundig zu einem Gewölbe gehören, tragen Anzeichen, die darauf hinweisen, daß es sich um Handwerksarbeit aus dem 18.

Jahrhundert handelt, die zur selben Zeit wie die ältesten Anbauten zu dem Haus entstanden sein müssen - eindeutig vor der Revolution. Auf dem Schloß, das offenkundig älter ist als das übrige Eisenzeug, sind gewisse Symbole eingraviert, die ich nicht entziffern kann.

V-- hatte mir von diesem Gewölbe nichts gesagt. Es erfüllt mich mit größerer Unruhe als alles, was ich gesehen habe, denn jedesmal, wenn ich mich ihm nähere, verspüre ich den beinahe unwiderstehlichen Drang, auf etwas zu lauschen. Bislang haben keine unheilvollen Töne meinen Aufenthalt an diesem bösen Ort markiert. Als ich den Keller verließ, wünschte ich mir fromm, die Stufen wären noch da, denn das Erklimmen der Leiter schien aufreibend langsam vor sich zu gehen.

Ich möchte nicht mehr dort hinuntersteigen - und doch treibt mich irgendein böser Geist an, es nachts zu versuchen, wenn ich herausfinden möchte, was es herauszufinden gibt.

20. April Ich habe die Tiefen des Grauens anklingen lassen -

nur damit mir noch tiefere Tiefen bewußt wurden.

Letzte Nacht war die Versuchung zu groß, und in den dunklen frühen Nachtstunden stieg ich noch einmal mit der

Taschenlampe in den nitrösen, höllischen Keller hinab und ging auf Zehenspitzen zwischen den formlosen Haufen zu jener entsetzlichen Ziegelwand und der verschlossenen Tür. Ich verursachte kein Geräusch und nahm davon Abstand, irgendeine der mir bekannten Beschwörungen zu flüstern, doch lauschte ich mit angespannter Konzentration.

Schließlich hörte ich Töne hinter diesen verschlossenen Platten aus Eisenblech, das bedrohliche Umherstapfen und Gemurmel wie von riesigen Nachtwesen im Inneren. Dazu gesellte sich ein gräßliches Gleiten, als schleppte eine ungeheure Schlange oder ein Meeresungetüm den enormen Leib über einen Fliesenboden. Vor Schreck beinahe gelähmt, starrte ich auf das riesige verrostete Schloß und die fremdartigen, kryptischen Hieroglyphen, die es trug. Es handelte sich um Zeichen, die ich nicht erkennen konnte, und etwas an ihrer vage ans Mongolische erinnernden Technik wies auf ein gotteslästerliches und unbeschreibliches Alter hin. Zuweilen bildete ich mir ein, ich könnte sie in einem grünlichen Schein leuchten sehen.

Ich wandte mich um zu fliehen, entdeckte aber vor mir das Trugbild der Riesenpfoten. Die großen Krallen schienen zu wachsen und beim Hinsehen greifbarer zu werden. Sie erstreckten sich aus der scheußlichen Schwärze des Kellers herauf, mit schattenhaften Andeutungen schuppenbedeckter Gelenke dahinter. Ein zunehmend bösartiger Wille leitete ihr entsetzliches Herumtasten. Und dann hörte ich hinter mir -

innerhalb jenes abscheulichen Gewölbes - einen neuen Ausbruch gedämpfter Schwingungen, die von weiten

Horizonten wie ein ferner Donner widerzuhallen schienen. Von dieser größeren Furcht angetrieben, näherte ich mich mit meiner Taschenlampe den schattenhaften Pfoten und sah, wie sie unter der vollen Kraft des elektrischen Strahls verschwanden. Dann kletterte ich wie rasend die Leiter hinauf, die Taschenlampe zwischen den Zähnen, und hielt erst wieder an, nachdem ich mein »Lager« oben erreicht hatte.

Ich wage nicht, mir vorzustellen, was mein schließliches Ende sein wird. Ich kam als ein Suchender, jetzt aber weiß ich, daß etwas mich sucht. Ich könnte nicht fortgehen, selbst wenn ich es wollte. An diesem Morgen versuchte ich zu dem Tor zu gelangen, um mir meine Vorräte zu holen, entdeckte aber, daß sich die Dornhecken fest in meinen Pfad hineinwanden.

Dasselbe war in jeder anderen Richtung der Fall - hinter dem Haus und rings um das Haus.

Stellenweise hatten sich die braunen, dornigen Ranken zu erstaunlichen Höhen aufgerichtet und bildeten eine undurchdringliche Hecke. Die Dorfbewohner stehen mit all dem in Verbindung. Als ich hineinging, entdeckte ich meine Vorräte in dem großen Eingangsflur, ohne das geringste Anzeichen, wie sie hierhergekommen waren. Es tut mir jetzt leid, daß ich den Staub weggekehrt habe. Ich werde ihn wieder ein bißchen verstreuen und feststellen, welche Abdrücke zurückbleiben.

Am Nachmittag las ich einige der Bücher in der großen, schattigen Bibliothek im hinteren Teil des Erdgeschosses, und mir kamen gewisse Vermutungen, die ich nicht zu äußern wage.

Nie zuvor hatte ich den Text der Pnakotic Manuscripts oder der Eltdown Shards gesehen, und ich wäre nicht hierhergekommen, hätte ich gewußt, was sie enthalten. Ich glaube, jetzt ist es zu spät - denn der entsetzliche Sabbat ist nur mehr zehn Tage entfernt. Man spart mich für diese Nacht des Grauens auf.

21. April Ich habe mir neuerlich die Porträts angesehen. Bei einigen sind Namen angebracht, und mir ist eins von ihnen aufgefallen: das Porträt einer böse aussehenden Frau, das vor zwei Jahrhunderten gemalt wurde und das mir Rätsel aufgegeben hat. Es trug den Namen Trintje van der Heyl Sieght, und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß mir der Name Sieght schon einmal in einem wichtigen Zusammenhang begegnet ist. Damals trug er nicht diese entsetzliche Bedeutung, aber jetzt hat er sie.

Ich muß mir den Kopf nach einem Fingerzeig zermartern.

Die Augen auf diesen Bildern verfolgen mich. Ist es möglich, daß einige deutlicher aus ihren Leichentüchern aus Staub und Verfall und Moder hervortreten? Die schlangen- und schweinegesichtigen Hexenmeister starren mich unheilvoll aus ihren geschwärzten Rahmen an, und eine Unmenge anderer anmaßender Gesichter beginnen, aus den verschatteten Hintergründen hervorzuspähen. Sie alle tragen eine grauenhafte Familienähnlichkeit, und das Menschliche daran ist fürchterlicher als das Nichtmenschliche. Ich wünschte, sie erinnerten mich weniger an andere Gesichter -Gesichter, die ich in der Vergangenheit gekannt habe. Sie waren ein verfluchtes Geschlecht, und Cornelis von Leyden war der schlimmste unter ihnen. Er war es, der die Barriere niederriß, nachdem sein Vater den anderen Schlüssel gefunden hatte. Ich bin mir sicher, daß V-

- lediglich ein Bruchstück der entsetzlichen Wahrheit kennt und daß ich also in der Tat unvorbereitet und ohne Verteidigung bin.

Was war mit dem Geschlecht vor dem alten Claes? Was er 1591

tat, wäre ohne generationenlanges böses Erbe oder irgendein Verbindungsglied mit dem Draußen nie möglich gewesen. Und was ist mit den Abkömmlingen dieser monströsen Ahnenreihe?

Sind sie über die Welt verstreut, erwarten sie ihre gemeinsame Erbschaft des Grauens? Ich muß mich an den Ort erinnern, an dem mir einst der Name Sieght so ganz besonders auffiel.

Ich wünschte, ich könnte sicher sein, daß diese Bilder immer in ihren Rahmen blieben. Seit mehreren Stunden sehe ich zeitweilige Erscheinungen wie die früheren Pfoten und Schattengesichter und Schattengestalten, die aber große Ähnlichkeit mit einigen der uralten Porträts zeigen. Irgendwie kann ich niemals gleichzeitig einen flüchtigen Anblick der Erscheinung und des Porträts, dem sie ähnelt, erhaschen - die Lichtverhältnisse sind stets ungeeignet für das eine oder das andere, oder aber Erscheinung und Porträt befinden sich in verschiedenen Räumen.

Vielleicht sind die Erscheinungen, wie erhofft, bloße Traumgebilde, Hervorbringungen meiner Phantasie, aber ich kann mir dessen jetzt nicht sicher sein. Einige sind weiblich und von derselben höllischen Schönheit wie das Bild in dem kleinen verschlossenen Raum. Einige ähneln keinem Porträt, das ich je gesehen habe, erwecken in mir aber das Gefühl, daß ihre gemalten Züge nicht erkennbar unter Moder und Ruß der Gemälde lauern, die ich nicht zu deuten vermag. Einige wenige, befürchte ich verzweifelt, sind der Materialisierung in feste oder halbfeste Form nahe - und einigen eignet eine furchtbare und unerklärliche Vertrautheit.

Es gibt da eine Frau, die an Lieblichkeit alle anderen übertrifft. Ihre verhängnisvolle Anziehung gleicht einer giftigen Blüte voller Nektarsium, die am Abgrund der Hölle wächst.

Wenn ich sie genau ansehe, verschwindet sie, nur um später erneut zu erscheinen. Ihr Angesicht hat eine grünliche Färbung, und ab und zu kommt es mir vor, als könne ich ein Anzeichen von Schuppen auf der glatten Hautfläche erspähen. Wer ist sie?

Ist sie jenes Wesen, das vor einem Jahrhundert oder noch früher in dem kleinen Raum gewohnt haben muß? Meine Verpflegung wurde wieder im Eingangsflur zurückgelassen - das scheint eindeutig der Brauch zu sein. Ich hatte etwas Staub verstreut, um Fußspuren festzuhalten, aber an diesem Morgen war der ganze Flur von unbekannter Hand gefegt worden.

22. April Heute war ein Tag grauenvoller Entdeckungen. Ich habe von neuem die spinnwebenverhangene Dachkammer durchsucht und fand eine geschnitzte, verfallende Kiste -

eindeutig aus Holland -, gefüllt mit gotteslästerlichen Büchern und Schriften, weit älter als alle, die ich hier bisher angetroffen habe. Da gab es ein griechisches Necronomicon, ein normannischfranzösisches Livre d'Eibon und eine Erstausgabe des De Vermis Mysteriis des alten Ludvig Prinn. Das alte gebundene Manuskript war jedoch das allerschlimmste. Es war in Küchenlatein, geschrieben in der seltsamen, zittrigen Handschrift des Claes van der Heyl, offensichtlich das Tagebuch oder Notizheft, das er zwischen 1560 und 1580 führte. Als ich die geschwärzte silberne Spange löste und die vergilbten Blätter öffnete, flatterte eine farbige Zeichnung heraus das Ebenbild eines Ungeheuers, das einem Tintenfisch vor allem ähnelte, mit Schnabel und Tentakeln, riesigen gelben Augen und in den Umrissen von einer gewissen abscheulichen Ähnlichkeit mit der menschlichen Gestalt war.

Nie zuvor hatte ich eine so ekelerregende und alptraumhafte Gestalt gesehen. Auf Pfoten, Füßen und Kopfsaugarmen befanden sich merkwürdige Krallen - sie erinnerten mich an die ungeheuren Schattenformen, die so entsetzlich auf meinem Weg herumgetastet hatten -, während das Wesen als Ganzes auf einem riesigen thronähnlichen Piedestal saß, das mit unbekannten Hieroglyphen vage chinesischen Aussehens beschriftet war. Über Schrift und Bild lag ein Hauch abgefeimten Bösens so tief und durchdringend, daß ich mir nicht vorstellen konnte, es sei das Produkt einer einzigen Welt oder eines einzigen Zeitalters. Vielmehr mußte diese monströse Form der Brennpunkt alles Bösen im unbegrenzten Weltraum sein, in allen vergangenen und künftigen Äonen - und diese

gespenstischen Symbole waren wohl abscheuliche Ikonen, ausgestattet mit einem morbiden Eigenleben, bereit, sich vom Pergament loszureißen, um den Leser zu vernichten. Was die Bedeutung dieses Ungeheuers und dieser Hieroglyphen anging, hatte ich keinen Fingerzeig, doch wußte ich, daß beide mit einer höllischen Präzision und für keinen nennbaren Zweck verfertigt worden waren. Als ich die höhnisch lachenden Buchstaben studierte, wurde mir ihre Verwandtschaft mit den Symbolen auf jenem ominösen Schloß im Keller immer deutlicher. Ich ließ das Bild in der Dachkammer, denn niemals hätte ich mit so etwas in der Nähe einschlafen können.

Den ganzen Nachmittag und Abend las ich in der Handschrift des alten Claes van der Heyl; und was ich las, wird jeden Lebensabschnitt, der vor mir liegt, mit Grauen umwölken und mit Grauen erfüllen.

Die Entstehung der Welt und früherer Welten entfaltete sich vor meinen Augen. Ich erfuhr von der Stadt Shamballah, die

'von den Lemuriern vor fünfzig Millionen Jahren errichtet worden war, doch noch immer unzerstört hinter der Mauer psychischer Kraft in der östlichen Wüste steht. Ich erfuhr vom Book ofDzyan, dessen erste sechs Kapitel älter sind als die Erde, und das bereits alt war, als die Herren der Venus in ihren Schiffen aus dem Weltraum kamen, um unseren Planeten zu zivilisieren. Und schriftlich festgehalten fand ich zum ersten Mal den Namen, von dem andere mir nur flüsternd gesprochen hatten und den ich auf engere und schrecklichere Weise kennenlernte - den gemiedenen und gefürchteten Namen Yian-Ho.

An mehreren Punkten wurde ich durch Stellen aufgehalten, die einen Schlüssel erforderten. Schließlich folgerte ich aus verschiedenen Anspielungen, daß der alte Claes es nicht gewagt hatte, sein ganzes Wissen in einem Buch niederzulegen, sondern daß er bestimmte Punkte für ein anderes aufgespart hatte. Keiner der beiden Bände ist ohne den Begleitband zur Gänze verständlich, und darum habe ich mir vorgenommen, den zweiten zu finden, wenn er irgendwo innerhalb der Mauern dieses verfluchten Hauses verborgen ist. Obwohl ich offenkundig ein Gefangener bin, habe ich meinen lebenslangen Eifer für das Unbekannte nicht verloren und bin entschlossen, den Kosmos so tief als möglich auszuloten, ehe mich das Verhängnis ereilt.

23. April Suchte den ganzen Morgen nach dem zweiten Tagebuch und fand es gegen Mittag in einem Schreibtisch in dem kleinen verschlossenen Zimmer. Wie das erste ist es in Claes van der Heyls barbarischem Latein abgefaßt und scheint aus unzusammenhängenden Notizen zu bestehen, die sich auf die verschiedenen Abschnitte des anderen beziehen. Beim Blättern fiel mir sofort der abscheuliche Name Yian-Ho auf -

Yian-Ho, die versunkene und verborgene Stadt, in der äonenalte Geheimnisse verborgen liegen und von der düstere

Erinnerungen, älter als der Körper, hinter den Seelen aller Menschen lauern. Er wurde viele Male wiederholt, und der Text war mit unbeholfen gezeichneten Hieroglyphen übersät, die offenkundig denen am Piedestal auf der höllischen Zeichnung glichen, die ich gesehen hatte. Hier also lag eindeutig der Schlüssel zu der ungeheuerlichen tentakelbewehrten Gestalt und ihrer verbotenen Botschaft. Mit diesem Wissen stieg ich die knarrende Treppe zu der Dachkammer voller Spinnweben und Grauen hinauf.

Als ich die Tür zur Dachkammer zu öffnen versuchte, klemmte sie wie nie zuvor. Mehrmals widerstand sie jedem Versuch, sich öffnen zu lassen, und als sie schließlich nachgab, hatte ich deutlich den Eindruck, eine kolossale, unsichtbare Gestalt habe sie plötzlich freigegeben - eine Gestalt, die auf nicht materiellen, aber hörbar schlagenden Flügeln davonflog.

Die entsetzliche Zeichnung lag meiner Meinung nach nicht mehr genau an der Stelle, wo ich sie zurückgelassen hatte. Als ich den Schlüssel in dem anderen Buch anwandte, merkte ich, daß er nicht ohne weiteres das Geheimnis lüftete. Es war nur eine Fährte - eine Fährte zu einem Geheimnis, das zu schwarz war, als daß man es nur leicht bewacht ließ. Es würde Stunden -

vielleicht Tage - erfordern, um die entsetzliche Botschaft zu entschlüsseln.

Werde ich lang genug leben, um das Geheimnis zu

ergründen? Die schattenhaften schwarzen Arme und Pfoten suchen meine Vorstellungen jetzt mehr und mehr heim und wirken noch titanischer als zuvor. Ich bin auch nicht mehr lange frei von diesen verschwommenen unmenschlichen

Erscheinungen, deren nebelhafte Masse viel zu ungeheuerlich scheint, als daß die Gemächer sie fassen könnten. Und ab und zu paradieren die grotesken, dahinschwindenden Gesichter und Gestalten und die höhnenenden Porträtschatten in verwirrendem Durcheinander an mir vorbei.

Wahrhaftig, es gibt schreckliche Urarkana der Erde, die am besten unbenannt und unbeschworen bleiben; fürchterliche Geheimnisse, die nichts mit dem Menschen zu tun haben und die der Mensch nur erfährt, wenn er Frieden und geistige Gesundheit dreingibt; kryptische Wahrheiten, die den Wissenden auf ewig zu einem Fremden unter seinesgleichen machen und zur Folge haben, daß er allein auf Erden wandelt.

Ebenso gibt es gefürchtete Überlebende von Geschöpfen, die älter und mächtiger als der Mensch sind; Geschöpfe, die sich gotteslästerlich durch Äonen zu Zeitaltern vorgekämpft haben, die nie für sie bestimmt waren; monströse Wesenheiten, die endlos schlafend in unvorstellbaren Grüften und fernen Höhlen gelegen haben, bereit, von solchen Gotteslästerern geweckt zu werden, die ihre dunklen verbotenen Zeichen und heimlichen Schibboleths kennen.

24. April Besah mir den ganzen Tag in der Dachkammer das Bild und den Schlüssel. Gegen Sonnenuntergang vernahm ich seltsame Geräusche, wie sie mir vorher nicht bemerkbar gewesen waren, Geräusche, die von weither zu kommen schienen. Durch Lauschen überzeugte ich mich, daß sie von dem seltsamen steilen Hügel mit dem Kreis der aufrecht stehenden Steine ausgehen mußten, der hinter dem Dorf und in einiger Entfernung nördlich des Hauses liegt. Ich hatte gehört, daß es einen Pfad gab, der vom Haus den Hügel hinauf zu dem alten druidischen Steinkreis führte, und vermutete, daß die van der Heyls zu gewissen Zeiten regen Gebrauch davon gemacht hatten, aber bislang hatte die ganze Sache ungenutzt in meinem Bewußtsein geschlummert. Die fraglichen Geräusche bestanden aus einem schrillen Pfeifen, in das sich ein eigenartiges und abscheuliches Zischen oder Blasen mischte, eine bizarre, fremdländische Musik, die nichts glich, was in den Annalen der Erde beschrieben ist. Es war sehr schwach und schwand bald, aber die Sache hat mir zu denken gegeben. In Richtung dieses Hügels erstreckt sich das lange, nach Norden weisende »L« mit der geheimen Rutsche und dem verschlossenen Ziegelgewölbe darunter. Kann es hier eine Verbindung geben, die mir bislang entgangen ist? 25. April Ich habe eine eigenartige und verstörende Entdeckung über die Natur meiner Gefangenschaft gemacht.

Von einer unheimlichen Kraft vom Hügel angezogen,

entdeckte ich, daß das Dornengestrüpp vor mir

auseinanderweicht, aber nur in dieser Richtung. Es gibt ein verfallenes Tor, und unter den Büschen existieren zweifellos die Spuren eines alten Pfades. Die Dornensträucher erstrecken sich zum Teil den Hügel hinauf und um den Hügel herum, obwohl der Gipfel mit den aufrecht stehenden Steinen nur einen merkwürdigen Bewuchs von Moos und kurzem Gras trägt. Ich kletterte auf den Hügel und verbrachte dort mehrere Stunden, wobei mir ein seltsamer Wind auffiel, der stetig um die verbotenen Monolithe zuwehen und manchmal in einer merkwürdig artikulierten, wenn auch dunkelkryptischen Art zu flüstern scheint.

Die Steine ähneln sowohl in Farbe wie Gefüge nichts, was ich andernorts gesehen habe. Sie sind weder braun noch grau, sondern eher von einem schmutzigen Gelb, das in ein bösartiges Grün übergeht und eine chamäleonhafte Veränderlichkeit andeutet. Ihre Beschaffenheit ähnelt seltsamerweise einer geschuppten Schlange und erweist sich bei Berührung merkwürdig abstoßend - ist so kalt und klamm wie die Haut einer Kröte oder eines anderen Reptils. In der Nähe des zentralen Druidensteins befindet sich eine einzigartige steingefaßte Aushöhlung, die ich mir nicht erklären kann, die aber möglicherweise den Eingang zu einem längst verschütteten Brunnen oder Tunnel bildet. Als ich versuchte, den Hügel an bestimmten Stellen hinabzusteigen, die vom Haus wegführen, bemerkte ich, daß sich mir die Dornsträucher wie zuvor in den Weg stellten, obwohl sich der Weg zum Haus leicht zurücklegen ließ.

26. April Am Abend wieder auf den Hügel, und das Flüstern des Windes war jetzt weit deutlicher. Das beinahe zornige Summen hörte sich fast wie richtiges Sprechen an, vage und zischend in seiner Art, und erinnerte mich an den seltsamen pfeifenden Gesang, den ich von weitem gehört hatte. Nach Sonnenuntergang zuckten merkwürdige Blitze eines verfrühten Sommergewitters über den nördlichen Horizont, denen sofort eine seltsame Detonation hoch oben am verblassenden Himmel folgte. Etwas an der Erscheinung verstörte mich zutiefst, und ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Lärm in einer Art unmenschlich zischender Rede endete, die in einem gutturalen kosmischen Gelächter ausklang. Ist mein Gemüt zuletzt doch ins Wanken geraten oder hat meine unerwünschte Wißbegier unerhörtes Grauen aus den Zwielichträumen hervorgerufen? Der Sabbat steht kurz bevor.

Wie wird das enden? 27. April Zu guter Letzt müssen sich alle meine Träume verwirklichen! Ob es mein Leben oder meinen Geist oder meinen Körper kostet, ich werde den Durchgang betreten! Ich bin bei der Entzifferung dieser entscheidenden Hieroglyphen auf dem Bild nur langsam vorangekommen, aber an diesem Nachmittag bin ich auf den letzten Fingerzeig gestoßen. Bis zum Abend hatte ich ihre Bedeutung entziffert - und diese Bedeutung kann nur auf eine Art mit den Dingen zusammenhängen, auf die ich in diesem Haus gestoßen bin.

Unter diesem Haus - in einer Gruft, von der ich nicht weiß, wo sie sich befindet - gibt es ein uraltes Wesen, das mir den Durchgang zeigen wird, den ich betreten will, und das mir die verlorenen Zeichen und Worte vermitteln wird, die ich brauche.

Wie lang es dort begraben lag, vergessen von allen mit Ausnahme jener, welche die Steine auf dem Hügel errichtet haben, und jener, die später diesen Ort aufsuchten und das Haus erbauten, kann ich nicht ermessen. Zweifellos kam Hendrik van der Heyl auf der Suche nach diesem Wesen 1638 nach Neu-Holland. Die Menschen dieser Erde kennen es nicht, abgesehen von dem geheimen Raunen jener wenigen Furchtgeschüttelten, die den Schlüssel gefunden oder ererbt haben. Bislang hat es kein Menschenauge auch nur flüchtig erblickt - es sei denn, die verschwundenen Hexenmeister dieses Hauses sind tiefer als vermutet eingedrungen.

Mit dem Wissen um die Symbole stellte sich gleich eine Meisterschaft der Sieben Verlorenen Zeichen des Schreckens und die stillschweigende Erkenntnis der abscheulichen und unaussprechlichen Wörter der Furcht ein. Mir bleibt nur eines: den Gesang anzustimmen, der den Vergessenen, der Wächter des Uralten Durchgangs ist, verwandeln wird. Ich wundere mich sehr über den Gesang. Er besteht aus seltsamen und abstoßenden Kehllauten und verstörenden Zischlauten, keiner Sprache ähnlich, die mir je begegnet ist, nicht einmal in den schwärzesten Kapiteln des Livre d'Eibon. Als ich gegen Sonnenuntergang auf den Hügel stieg, versuchte ich, laut zu lesen, rief aber nichts als ein vages, unheimliches Grollen am fernen Horizont hervor und eine dünne Wolke von

Staubteilchen, die zuckten und wirbelten wie ein bösartiges Lebewesen. Vielleicht spreche ich die fremdländischen Silben nicht korrekt aus oder vielleicht kann die große Verwandlung nur am Sabbat - dem Höllensabbat, für den mich die Mächte in diesem Haus fraglos festhalten - stattfinden.

Ich hatte an diesem Morgen einen merkwürdigen Anfall von Furcht. Ich meinte einen Augenblick lang, mich zu erinnern, wo ich den rätselhaften Namen Sieght zuvor gehört hatte, und die Aussicht, ans Ziel zu kommen, erfüllte mich mit

unaussprechlichem Grauen.

28. April Heute haben unablässig dunkle, unheilverkündende Wolken über dem Kreis auf dem Hügel geschwebt. Mir sind derartige Wolken bereits einige Male zuvor aufgefallen, doch haben ihre Umrisse und Formationen jetzt eine neue Bedeutung gewonnen. Sie sind schlangenähnlich, phantastisch und gleichen merkwürdig den bösen Schattengestalten, die ich im Haus gesehen habe. Sie schweben in einem Kreis um den uralten Druidenstein und drehen sich des öfteren, als seien sie von unheilverkündendem Leben und Absichten erfüllt. Ich könnte schwören, daß sie ein zorniges Murmeln ausstoßen. Nach etwa fünfzehn Minuten segeln sie langsam weiter, immer nach Osten, wie die Einheiten eines verstreuten Bataillons. Handelt es sich wirklich um diese gefürchteten Wesen, die einst Salomon kannte

- die riesigen schwarzen Wesen, deren Zahl Legion ist und deren Schritt die Erde erschüttert? Ich habe den Gesang geübt, der das namenlose Wesen verwandeln wird, doch bedrängen mich seltsame Ängste, wenn ich die Silben vor mich hinmurmele.

Durch Zusammenfügen aller Anzeichen zu einem Bild habe ich jetzt entdeckt, daß der einzige Weg zu Ihm durch das verschlossene Kellergewölbe führt. Dieses Gewölbe wurde mit einer höllischen Absicht errichtet und muß den verborgenen Bau bedecken, der zu des Uralten Wesens Lagerstatt führt. Welche Wächter unaufhörlich darin leben, mit welcher unbekannten Labung sie jahrhundertelang durchhalten, können nur Verrückte sich ausmalen. Die Hexenmeister dieses Hauses, die sie aus dem Innern der Erde heraufbeschworen haben, kennen sie nur zu gut, wie die erschreckenden Porträts und Erinnerungen an diesem Ort zeigen.

Was mir am meisten Sorgen bereitet, ist die begrenzte Wirkungsmöglichkeit des Gesangs. Er beschwört wohl das namenlose Wesen herauf, liefert jedoch keine Handhabe, um das, was heraufbeschworen wird, im Zaum zu halten. Es gibt natürlich allgemeine Zeichen und Handlungen, aber ob sie sich gegen jemanden wie den Einen als wirkungsvoll erweisen, wird sich erst zeigen. Doch sind die Belohnungen hoch genug, um jede Gefahr zu rechtfertigen, und auch wenn ich wollte, könnte ich nicht zurück, denn eine unbekannte Kraft treibt mich voran.

Ich habe ein weiteres Hindernis entdeckt. Da das

verschlossene Kellergewölbe durchquert werden muß, ist es notwendig, den Schlüssel zu diesem Ort zu finden. Das Schloß ist bei weitem zu stabil, um gewaltsam aufgebrochen zu werden.

Daß sich der Schlüssel irgendwo in der Nähe befindet, steht außer Zweifel, aber die Zeit bis zum Sabbat ist nicht mehr lang.

Ich muß sorgfältig und gründlich suchen. Es wird Mut erfordern, diese Eisentür aufzuschließen, denn welch eingekerkerter Schrecken mag wohl dahinter lauern? Später Ich habe den Keller seit einem oder zwei Tagen zu meiden begonnen, doch am späten Nachmittag werde ich wieder in diese

furchterregenden Bereiche hinabsteigen.

Zunächst war alles ruhig, aber innerhalb von fünf Minuten begann von neuem das Tappen und Murmeln hinter der Eisentür. Diesmal war es lauter und erschreckender als je zuvor.

Ich erkannte auch wieder das Gleiten, das von einem ungeheuerlichen Meeresungetüm kündete - rascher jetzt und nervös verstärkt, als versuche das Wesen, sich den Weg durch das Portal zu erzwingen, vor dem ich stand.

Als das Aufundab-Gehen lauter, ruheloser und unheimlicher wurde, da durchdrang es pochend jene höllischen und unidentifizierbaren Schwingungen, die von fernen Horizonten widerzuhallen schienen wie ein ferner Donner. Jetzt aber war ihre Lautstärke hundertfach vergrößert, und ihre Klangfarbe erschreckte mit neuen und graueneinflößenden Bedeutungen.

Ich kann das Geräusch mit nichts treffender vergleichen als dem Röhren eines gefürchteten Ungeheuers des entschwundenen Zeitalters der Saurier, als uralte Horrorwesen die Erde durchstreiften und Valusiens Schlangenmenschen die Fundamente übler Magie legten. Einem solchen Röhren - aber angeschwollen zu betäubenden Höhen, die keine normale natürliche Kehle erreichen konnte - glich dieses schockierende Geräusch. Wage ich es, die Tür aufzusperren und mich dem Ansturm des Dahinterliegenden auszusetzen? 29. April Der Schlüssel zu dem Gewölbe ist gefunden. Er gelangte diesen Mittag in dem kleinen verschlossenen Zimmer in meinen Besitz verborgen unter allerlei Krimskrams in einer Schublade des uralten Schreibtisches, als sei er in einem verspäteten Versuch versteckt worden. Er war in eine zerfallende Zeitung vom 31.

Oktober 1872. gehüllt, darunter aber noch in eine Umhüllung aus getrockneter Haut - offensichtlich die Haut eines unbekannten Reptils, die eine küchenlateinische Botschaft in derselben unleserlichen Schrift trug wie die Notizbücher, die ich gefunden hatte. Wie vermutet waren Schloß und Schlüssel weitaus älter als das Gewölbe. Der alte Claes van der Heyl hielt sie bereit für etwas, was er oder seine Nachfahren vorhatten -

und ich konnte nicht abschätzen, wieviel älter sie waren als van der Heyl. Beim Entziffern der lateinischen Botschaft zitterte ich von neuem in einem Anfall von erdrückendem Grauen und namenloser Furcht.

»Die Geheimnisse der ungeheuerlichen Uralten Wesen«, verkündete der undeutliche Text, »deren kryptische Worte von den verborgenen Dingen berichten, die es vor dem Menschen gab, die Dinge, von denen niemand auf Erden erfahren sollte, damit nicht sein Seelenfrieden für immer verloren sei, will ich nie preisgeben. Im wahren Fleisch dieses Körpers war ich in Yian-Ho, der versunkenen und verbotenen Stadt unzähliger Äonen, deren Lage nicht verraten werden darf, und in der außer mir kein Lebender weilte. Dort habe ich gefunden und von dort habe ich mitgenommen jenes Wissen, das ich nur allzugern wieder los wäre, obwohl mir das nicht gelingt. Ich habe gelernt, eine Kluft zu überbrücken, die nicht überbrückt werden sollte, und muß aus der Erde hervorrufen das, was nicht erweckt oder beschworen werden sollte. Und das, was ausgesandt wurde, um mir zu folgen, will nicht ruhen, bis ich oder die nach mir das gefunden und getan haben, was gefunden und getan werden muß.

Von dem, was ich erweckt und mit fortgetragen habe, darf ich mich nicht trennen. So steht es geschrieben im Book of Hidden Things. Das, von dem ich gewollt habe, daß es sei, hat seine entsetzliche Gestalt um mich gewunden und - falls ich nicht lebe, um das mir Aufgetragene zu erfüllen - um die geborenen und ungeborenen Kinder, die nach mir kommen, bis der Auftrag erfüllt ist. Auf seltsame Weise schließen sie sich vielleicht an, und entsetzlich die Hilfe, die sie herbeibeschwören, bis das Ende erreicht ist. Das Suchen muß in unbekannten und düsteren Ländern erfolgen, und ein Haus muß für die äußeren Wächter erbaut werden.

Das ist der Schlüssel zu dem Schloß, das mir in der entsetzlichen, äonenalten und verbotenen Stadt Yian-Ho übergeben wurde; das Schloß, das ich oder die Meinen auf den Vorplatz dessen, das gefunden werden soll, legen müssen. Und mögen die Lords von Yaddith mir- oder ihm - beistehen, der das Schloß an seinem Platz anbringt oder seinen Schlüssel umdreht.«Das war die Botschaft - eine Botschaft, die ich, sobald ich sie gelesen hatte, schon zuvor gekannt zu haben schien.

Jetzt, da ich diese Worte schreibe, liegt der Schlüssel vor mir.

Ich blicke ihn an mit einer Mischung aus Abscheu und Sehnsucht und finde keine Worte, sein Aussehen zu

beschreiben. Er ist von demselben leicht grünlich angehauchten Metall wie das Schloß, ein Metall, das man am besten mit von Grünspan überzogenem Messing vergleicht. Seine Form ist fremdartig und phantastisch, und das sargförmige Ende der gewaltigen Form läßt keinen Zweifel über das Schloß zu, in das es passen sollte. Der Griff bildet grob ein seltsames, nichtmenschliches Bild, dessen exakte Umrisse und

Beschaffenheit jetzt nicht zu verfolgen sind. Wenn ich ihn längere Zeit halte, scheine ich ein fremdartiges, anormales Leben in dem kalten Metall zu spüren -, eine Beschleunigung oder ein Pulsieren, die für ein gewöhnliches Erkennen zu schwach sind.

Unterhalb des Abbildes ist eine schwache, in Äonen verblaßte Inschrift in diesen gotteslästerlichen, chinesisch aussehenden Hieroglyphen angebracht, die ich mittlerweile so gut kenne. Ich kann nur den Anfang ausmachen - die Worte: »Meine Rache lauert...«-, dann wird der Text unleserlich. In diesem rechtzeitigen Auffinden des Schlüssels liegt eine gewisse Schicksalhaftigkeit denn morgen nacht ist der höllische Sabbat.

Merkwürdigerweise jedoch, unter all dieser entsetzlichen Gespanntheit aufkommende Dinge, gibt mir der Name Sieght immer mehr Anlaß zu Beunruhigung. Warum sollte ich fürchten, ihn mit dem der van der Heyls verknüpft zu finden?

Walpurgisnacht, 30. April Die Zeit ist gekommen. Ich bin letzte Nacht aufgewacht, um den Schlüssel in einer grellen grünlichen Strahlung leuchten zu sehen dasselbe morbide Grün, das ich in den Augen und der Haut gewisser Porträts hier gesehen habe, auf dem schockierenden Schloß und Schlüssel, den monströsen Menhirs des Hügels und in tausend anderen Kammern meines Bewußtseins. In der Luft lag durchdringendes Geflüster - ein zischendes Pfeifen wie das des Windes um den gräßlichen druidischen Opferstein.

Etwas sprach zu mir aus dem fernen Äther des Weltraums und sagte: »Die Stunde naht.« Das ist ein Omen, und ich lache über meine eigenen Ängste. Habe ich nicht die gefürchteten Schwerter und die Sieben Versunkenen Zeichen des Grauens -

die Macht, die jeden Bewohner des Kosmos oder der

unbekannten dunklen Räume bezwingen kann? Es gibt für mich kein Zögern mehr.

Der Himmel ist tiefdunkel, als stünde ein heftiger Sturm bevor - ein Sturm noch heftiger als in jener Nacht, in der ich vor nahezu vierzehn Tagen hier ankam. Aus dem Dorf, weniger als eineinhalb Kilometer entfernt, vernehme ich ein seltsames und ungewohntes Gemurmel. Es ist, wie ich vermutet habe - diese armen Idioten sind in das Geheimnis eingeweiht und halten auf dem Hügel den entsetzlichen Sabbat ab.

Hier im Haus sammeln sich die Schatten dicht an dicht. In der Dunkelheit leuchtet der Himmel vor mir beinahe in einem grünen Eigenlicht. Ich war noch nicht im Keller. Ich warte lieber, damit die Geräusche dieses Murmelns und

Umherschlurfens dieses Gleiten und die gedämpften

Schwingungen - mir nicht die Nervenkraft rauben, ehe ich die schicksalhafte Tür aufschließen kann.

Auf was ich treffen werde und was ich zu tun habe, davon habe ich nur eine ganz unbestimmte Vorstellung. Werde ich meine Aufgabe schon im Gewölbe finden, oder muß ich tiefer in das umnachtete Herz unseres Planeten eindringen? Es gibt einiges, was ich nicht verstehe - oder zumindest nicht zu verstehen vorziehe -, trotz eines entsetzlichen, wachsenden und unerklärlichen Gefühls früherer Vertrautheit mit dem fürchterlichen Haus. Die Rutsche zum Beispiel, die aus dem kleinen verschlossenen Raum in die Tiefe führt. Ich glaube aber zu wissen, warum sich der Flügel mit dem Gewölbe bis auf den Hügel zu erstreckt.

6 Uhr nachmittags Als ich durch die Nordfenster sehe, erblicke ich eine Gruppe von Dorfbewohnern auf dem Hügel.

Sie scheinen nichts davon zu merken, daß der Himmel immer tiefer herabsinkt, und graben in der Nähe des großen zentralen Opfersteins. Mir wird klar, daß sie an der steingefaßten hohlen Stelle arbeiten, die aussieht wie ein vor langer Zeit eingestürzter Tunneleingang. Was wird geschehen? Wieviel von den alten Sabbatriten haben diese Leute beibehalten? Der Schlüssel glüht entsetzlich - das ist keine Einbildung. Wage ich es, ihn so zu benützen, wie er benützt werden muß? Etwas anderes hat mich tief beunruhigt. Als ich nervös in einem Buch in der Bibliothek blätterte, stieß ich auf eine vollständigere Form des Namens, der meine Erinnerung so sehr herausgefordert hat:

»Trintje, Frau von Adriaen Sieght.«

Das Wort Adriaen führt mich an den Rand der Erinnerung.

Mitternacht Das Grauen ist entfesselt, aber ich darf nicht schwach werden. Der Sturm ist mit höllischer Wut

losgebrochen, und dreimal haben Blitze auf dem Hügel eingeschlagen, doch die hybriden, entstellten Dorfbewohner haben sich im Kromlech versammelt. Ich kann sie im Licht der nahezu ununterbrochen zuckenden Blitze erkennen. Die großen Standbilder ragen erschreckend empor und haben eine stumpfgrüne Leuchtkraft, die sie erkennen läßt, selbst wenn kein Blitz herabzuckt. Die Donnerschläge sind ohrenbetäubend, und jeder einzelne scheint eine entsetzliche Antwort aus einer unbestimmten Richtung zu erhalten. Während ich schreibe, haben die Wesen auf dem Hügel zu singen und zu heulen und zu schreien begonnen, in einer heruntergekommenen, halb äffischen Version des uralten Rituals.

Regen stürzt herab wie eine Flut, doch sie hüpfen herum und stoßen Schreie aus in einer Art teuflischer Ekstase. »lä, Shub-Niggurath! Die Ziege mit den Tausend Jungen!« Das

Schlimmste jedoch geht im Haus vor sich. Selbst in dieser Höhe höre ich noch die Geräusche aus dem Keller: das Herumtappen und Murmeln und Gleiten und die gedämpften Laute aus dem Inneren des Gewölbes...

Erinnerungen kommen und gehen. Der Name Adriaen Sieght pocht merkwürdig an die Pforte meines Bewußtseins. Dirck van der Heyls Schwiegersohn... sein Kind, die Enkelin des alten Dirck und Abaddon Coreys Urenkelin.

Später Barmherziger Gott! Endlich weiß ich, wo ich den Namen sah. Ich weiß es und bin von Grauen erfüllt.

Alles ist verloren...

Der Schlüssel hat begonnen, sich in meiner linken Hand, die ihn nervös umfaßt hält, warm anzufühlen.

Zuweilen wird die vage Schwingung oder das Pulsieren so deutlich, daß ich beinahe spüren kann, wie sich das lebendige Metall bewegt. Es ist zu einem entsetzlichen Zweck aus Yian-Ho hierhergekommen, und mir - der allzu spät das dünne Rinnsal des Blutes der van der Heyls erkennt, das von den Sieghts in meine eigene Ahnenreihe tröpfelte - ist die entsetzliche Aufgabe zugefallen, diesen Zweck zu erfüllen...

Mein Mut und meine Neugierde schwinden. Ich kenne das Grauen, das hinter dieser Eisentür liegt.

Und wenn schon Claes van der Heyl mein Vorfahr war - muß ich wirklich seine namenlose Sünde sühnen? Ich will nicht - ich schwöre, ich will nicht!... (die Schrift wird hier unleserlich)... zu spät - ich kann nicht anders als - schwarze Klauen materialisieren sich - werde zum Keller gezerrt...