Vier Uhr
Sonia Greene und H. P. Lovecraft
Gegen zwei Uhr morgens wußte ich, daß sich etwas anbahnte.
Die große, schwarze, tiefe Stille der Nacht verriet es mir, und eine ungeheure Grille, die mit einer Beharrlichkeit zirpte - zu abscheulich, um bedeutungslos zu sein -, ließ es mir zur Gewißheit werden. Gegen vier Uhr wird es geschehen - gegen vier in der Dämmerung vor Anbruch des Morgens, genauso, wie er es gesagt hatte. Ich hatte es vorher nicht ganz geglaubt, denn die Prophezeiung rachsüchtiger Verrückter sind selten ernst zu nehmen. Außerdem konnte man gerechterweise nicht mir die Schuld für das geben, was ihm unlängst um vier Uhr morgens zugestoßen war, an jenem entsetzlichen Morgen, dessen Erinnerung mich nie verlassen wird. Und als er schließlich gestorben war und auf dem uralten Friedhof begraben wurde, der, von meinen Ostfenstern aus gesehen, auf der anderen Seite der Straße liegt, war mir klar, daß sein Fluch mir nicht würde schaden können. Hatte ich nicht selbst gesehen, ,wie sein lebloser Körper mit riesigen Schaufeln voll Erde sicher niedergehalten wurde? Konnte ich mich nicht sicher fühlen, daß sein vermoderndes Gebein machtlos wäre, mir an dem Tag und zu der Stunde den Untergang zu bringen, die er so präzise angegeben hatte? Solcherart waren wahrlich meine Gedanken bis zu jener erschütternden Nacht gewesen, dieser Nacht des unglaublichen Chaos, der zerstörten Sicherheit und namenlosen Vorzeichen.
Ich hatte mich früh zur Ruhe begeben, in der vergeblichen Hoffnung, trotz der Prophezeiung, die mich verfolgte, ein paar Stunden Schlaf zu erhaschen. Jetzt, da die Zeit so nahe gerückt war, fand ich es immer schwieriger, die vagen Ängste abzutun, die die ganze Zeit unter meinen bewußten Gedanken geruht hatten. Während die kühlenden Laken meinen fiebrigen Körper trösteten, fiel mir nichts ein zur Beruhigung meines weitaus fiebrigeren Gemüts. Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere und lag unbehaglich wach, probierte zunächst eine Lage aus, dann eine andere, immer in dem verzweifelten Bemühen, mit dem Schlummer diese eine verflixt hartnäckige Vorstellung zu verbannen - daß es um vier Uhr geschehen würde.
Hing diese furchterregende Unruhe mit meiner Umgebung zusammen, mit der schicksalhaften Örtlichkeit, an der ich nach so vielen Jahren weilte? Warum, fragte ich mich jetzt bitter, hatte ich es zugelassen, daß ich mich gerade in dieser Nacht aller Nächte in dem mir wohlbekannten Haus und dem mir wohlbekannten Zimmer befand, dessen Ostfenster auf die einsame Straße und den uralten Friedhof auf der
gegenüberliegenden Seite hinausblickten? Vor meinem geistigen Auge stieg jede Einzelheit jener schlichten Nekropole auf - die weiße Umzäunung, die gespenstischen Granitpfeiler und die drückende Aura jener, an denen sich die Würmer gütlich taten.
Die Kraft der Vorstellung führte meine Vision schließlich in fernere und verbotenere Tiefen, und ich sah unter dem ungepflegten Rasen die schweigenden Formen der Wesen, von denen diese Aura ausging - die ruhigen Schläfer, die verfaulenden Wesen, die Geschöpfe, die sich in ihren Gräbern verzweifelt hin und her gewälzt hatten, bis der Schlaf kam, und die friedlichen Knochen in jedem Stadium des Verfalls, vom erhaltenen und vollständigen Skelett bis zu einem Häufchen Staub. Am meisten beneidete ich den Staub. Dann überkam mich neues Grauen, als meine Phantasie aufsein Grab stieß. Ich wagte es nicht, meine Gedanken in diese Ruhestätte wandern zu lassen, und ich hätte geschrien, wäre nicht etwas der bösen Kraft zuvorgekommen, die meine Visionen antrieb. Dieses Etwas war ein plötzlicher Windstoß, der mitten in der ruhigen Nacht aus dem Nichts kam, die Jalousie des nächsten Fensters aufriß, sie mit einem zitternden Krachen zurückschlug und meinem nun hellwachen Blick den uralten Friedhof darbot, der gespenstisch brütend unter dem frühmorgendlichen Mond lag.
Ich spreche von diesem Windstoß als etwas Barmherzigen, doch weiß ich jetzt, daß er das nur vorübergehend und täuschenderweise war. Denn kaum hatten meine Augen die monderleuchtete Szenerie wahrgenommen, als ich eines neuen Omens gewahr wurde, das diesmal zu unverkennbar war, als daß man es als leeres Trugbild hätte abtun können, das von den schimmernden Gräbern auf der anderen Seite des Weges ausging. Nachdem ich mit instinktiver Vorahnung auf die Stelle geblickt hatte, wo er verfaulend lag - eine Stelle, die von meinem Blick durch die Fensterrahmen abgeschnitten wurde -, nahm ich zitternd die Annäherung eines unbeschreiblichen Etwas wahr, das bedrohlich aus jener Richtung herangeschwebt kam: eine vage, dunstige, formlose, gräulichweiße
Gespenstermasse, trüb und kaum greifbar noch, aber mit jedem Augenblick ehrfurchteinflößender und von zunehmend verheerenden Möglichkeiten. So sehr ich auch versuchen mochte, sie als natürliche Wettererscheinung abzutun, lasteten ihre schrecklich unheilschwangeren und absichtsvollen Merkmale immer drückender inmitten neuer Schauer des Entsetzens und des Verstehens auf mir, so daß ich auf den entschieden zielgerichteten und bösartigen Höhepunkt, zu dem es bald kam, keineswegs unvorbereitet war. Dieser Höhepunkt, der auf grausig symbolische Weise das Ende hervorsagte, war ebenso einfach wie bedrohlich. Mit jedem Augenblick wurde der Nebel dichter und ballte sich zusammen, bis er zuletzt fast greifbar war, die mir zugewandte Fläche langsam in eine kreisförmige und deutlich konkave Form überging und allmählich aufhörte, sich zu nähern, und gespenstisch am Ende der Straße stehenblieb.
Und als das Gebilde dort so stand, in der feuchten Nachtluft unter dem verderbten Mond schwach zitternd, bemerkte ich, daß sein Aussehen dem bleichen und riesigen Zifferblatt einer deformierten Uhr glich.
Grausige Ereignisse lösten einander jetzt in dämonischer Folge ab. In dem unteren rechten Winkel des dunstigen Zifferblatts nahm ein gewaltiges Wesen Gestalt an, formlos und nur halb zu sehen, doch mit vier beachtlichen Klauen, die gierig nach mir griffen - Klauen, die durch ihre Umrisse und Beschaffenheit ein beängstigendes Verhängnis verkündeten, da sie nur allzu deutlich die gefürchtete Zeigerstellung, nämlich unverkennbar die exakte Anzeige der Ziffer IV auf der zitternden Scheibe des Untergangs annahmen. Nun trat das Ungeheuer aus der konkaven Fläche des Zifferblatts oder schlängelte sich heraus und näherte sich mir in einer unerklärlichen Bewegung. Es war jetzt zu erkennen, daß die vier langen, dünnen und geraden Klauen in abstoßende,
fadenähnliche Tentakel ausliefen, eigenwillig jede einzelne. Sie tasteten unaufhörlich um sich, zunächst nur langsam, dann immer schneller, bis mich allein das rein Schwindelerregende dieser Bewegung beinahe in den Wahnsinn trieb. Und als Krönung des Grauens begann ich alle versteckten und geheimnisvollen Geräusche zu hören, die die gesteigerte nächtliche Stille durchdrangen, tausendfach verstärkt, die mich in einer einzigen Stimme an die gefürchtete vierte Stunde erinnerten. Ich versuchte vergebens, mir die Decke über die Ohren zu ziehen, um sie auszusperren; vergeblich versuchte ich auch, sie durch mein Geschrei zu übertönen. Ich war wie stumm und paralysiert, und doch nahm ich schmerzhaft jeden unnatürlichen Anblick und jeden Ton in jener verheerenden, mondverfluchten Stille wahr. Einmal gelang es mir, den Kopf unter der Decke zu verbergen - einmal, als mir das Grillengeschrei vier Uhr den Kopf schier zu sprengen drohte -, aber das verstärkte das Grauen nur noch, denn das Gebrüll jenes verabscheuungswürdigen Wesens traf mich wie die Schläge eines gigantischen Vorschlaghammers.
Und als ich jetzt meinen gemarterten Kopf aus dieser nutzlosen Abdeckung hervorstreckte, entdeckte ich weiter Teufeleien, die meine Augen beleidigten. Auf der frisch gestrichenen Wand meiner Wohnung tanzten spöttisch, als seien sie von dem tentakelbewehrten Ungeheuer aus dem Grab gerufen worden, eine Unzahl von Wesen, schwarze, graue und weiße, wie sie sich nur die Phantasie der Gottverdammten ausmalen kann. Einige waren von winziger Kleinheit, andere wieder bedeckten riesige Flächen. Noch in den
nebensächlichsten Einzelheiten hatte jedes eine groteske, gräßliche Individualität; in groben Umrissen gehörten sie alle zu ein und demselben Alptraummuster, ungeachtet ihrer unterschiedlichen Größe. Wiederum versuchte ich, die Ausgeburten der Nacht zu bannen, aber so vergeblich wie zuvor.
Die tanzenden Wesen an der Wand wuchsen und schrumpften, näherten sich und wichen zurück in ihrem morbiden und bedrohlichen Hin und Her. Und jedes glich einem dämonischen Zifferblatt, auf dem unweigerlich eine unheimliche Stunde aufschien - die gefürchtete, den Untergang androhende vierte Stunde.
Da jeder Versuch, die bedrängenden Delirien abzuwehren, scheiterte, spähte ich noch einmal zu dem Fenster mit den offenstehenden Fensterläden hin und erblickte erneut das dem Grab entstiegene Ungeheuer. Zuvor war es bloß gräßlich gewesen; jetzt spottete es jeder Beschreibung. Das Wesen, früher von unbestimmter Beschaffenheit, bestand jetzt aus bösartig rotem Feuer und fuchtelte abstoßend mit den vier tentakelbewehrten Klauen, drohte mit abscheulich züngelnden, lebhaften Flammen. Es wollte nicht aufhören, mich aus dem Dunkeln anzustarren; höhnisch, spottend, bald vorrückend, bald sich zurückziehend. Dann deuteten diese vier zuckenden Feuerklauen in der schwarzen Stille einladend auf ihre dämonisch tanzenden Gegenstücke an den Wänden und
schienen rhythmisch den Takt zu der schockierenden Sarabande zu schlagen, bis die ganze Welt ein gespenstisch rotierender Wirbel von hüpfenden, springenden, gleitenden, höhnenden, lockenden, drohenden Vier-Ufer-Ziffern war. Irgendwo, aus weiter Ferne kommend und sich über das sphinxähnliche Meer und die Fiebersümpfe ausbreitend, hörte ich, wie der frühe Morgenwind keuchend sich näherte; zuerst kaum merklich, dann immer lauter, bis sein unaufhörlicher Kehrreim zur Sintflut einer schwirrenden, summenden Kakophonie heranrauschte, die immerwährend die entsetzliche Drohung »vier Uhr, vier Uhr, VIER UHR« mit sich führte. Eintönig schwoll sie vom Flüstern zu betäubendem Lärm an, wie ein riesiger Wasserfall, aber schließlich erreichte sie einen Höhepunkt und begann zu verklingen. Beim Zurückweichen blieb in meinem
empfindlichen Ohren ein Vibrieren, wie es beim Vorbeisausen eines schnellen, schwerbeladenen Eisenbahnzuges entsteht; dies und nacktes Entsetzen, in dessen Heftigkeit etwas von gelassener Resignation steckte.
Das Ende ist nah. Töne und visuelle Eindrücke gingen auf in einem ungeheuren, chaotischen Mahlstrom tödlicher, lärmender Drohung, in dem all die gespenstischen und grausigen Vier-Uhr-Ziffern, die es gab, seit Vorzeiten verschmelzen und auch die, die es bis in die künftige Ewigkeit geben wird. Das flammenzüngelnde Ungeheuer kommt jetzt ganz nahe, seine Leichenhaustentakel fahren mir über das Gesicht, und seine Krallen tasten, hungrig gekrümmt, nach meiner Kehle. Endlich kann ich sein Antlitz durch die sich heftig bewegenden, phosphoreszierenden Dämpfe der Friedhofsluft erkennen, und unter entsetzlichen Gewissensbissen wird mir klar, daß es sich um den Inbegriff einer gräßlichen, ungeheuren,
wasserspeierähnlichen Karikatur seines Gesichts handelt - das Gesicht desjenigen, aus dessen unruhigem Grab es aufgestiegen ist. Nunmehr erkenne ich, daß mein Untergang fürwahr besiegelt ist, daß die wilden Drohungen des Verrückten in der Tat die dämonischen Verwünschungen eines mächtigen Teufels waren und meine Unschuld mich nicht vor dem bösartigen Willen schützen wird, der nach grundloser Rache lechzt. Er ist entschlossen, mir mit Zinsen zurückzuzahlen, was er in jener gespenstischen Stunde erlitten hat, entschlossen, mich aus der Welt zu zerren in Regionen, die allein die Wahnsinnigen und vom Teufel Gerittenen kennen.
Und als inmitten der zischenden Höllenflammen und des Lärms der Verdammten diese scharfen Klauen mörderisch auf meine Kehle weisen, höre ich auf dem Kaminsims das schwache Schwirren eines Zeitmessers, das Schwirren, das mir verrät, daß bald die Stunde schlägt, deren Name jetzt unaufhörlich aus dem todesgleichen und höhlenartigen Rachen des rasselnden, höhnenden, krächzenden Gruftungeheuers vor meinen Augen fließt - die verfluchte Teufelsstunde vier Uhr.