Essays

Autobiographie. Einige Anmerkungen zu einer Null

Mit Fußnoten von August W. Derleth [Der verstorbene H. P.

Lovecraft hat zahlreiche autobiographische Äußerungen zu Papier gebracht - seine Briefe wimmeln davon -, doch sind seine

»Anmerkungen zu einer Null. die längste und einer förmlichen Autobiographie am nächsten kommende Darstellung, die er je abfaßte. Sie ist mit dem 23. November 19 3 3 datiert, weniger als vier Jahre vor seinem Tod also. Damals hatte Lovecraft bereits den Großteil seines schöpferischen Werkes abgeschlossen; und wirklich wurde ja nur eine einzige seiner wichtigsten Geschichten - »Der leuchtende Trapezoeder« - nach diesem autobiographischen Zeugnis verfaßt, wiewohl auch die gemeinsam mit Kenneth Sterling geschriebene Erzählung »In den Mauern von Eryx« wie »Der leuchtende Trapezoeder« aus dem Jahre 193 j stammt. Was nach der Autobiographie unter Lovecrafts Namen gedruckt wurde, sind bis dahin unveröffentlichte frühere Erzählungen; dazu gehören »Berge des Wahnsinns«, »Der Fall Charles Dexter Ward«,

»Psychopompos«, »Der Schatten aus der Zeit«, »Schatten über Innsmouth« und »Das Ding auf der Schwelle«. »Einige Anmerkungen zu einer Null« ist folglich eine ziemlich abgeschlossene Darstellung. Meine Anmerkungen folgen der Darstellung in Form von Fußnoten. A. W. D.] Für mich liegt die Hauptschwierigkeit beim Schreiben einer Autobiographie darin, etwas von genügender Wichtigkeit aufzuspüren, das sich lohnt, festgehalten zu werden.1 Mein Leben ist so still, so ereignislos und so unauffällig verlaufen, daß es, zu Papier gebracht, bestenfalls erbärmlich glanzlos und fade erscheinen muß.

Ich wurde am 10. August 1890 in Providence, Rhode Island, geboren, und dort habe ich auch, von zwei kleineren Unterbrechungen abgesehen, mein ganzes Leben verbracht.

Mütterlicherseits stamme ich aus einer alten Familie in Rhode Island, väterlicherseits von Einwanderern aus Devonshire, die seit 1827 im Staat New York ansässig waren.2 Die Interessen, die mich zur phantastischen Literatur hinführten, traten schon frühzeitig zutage, denn so weit ich mich klar zurückerinnern kann, haben seltsame Erzählungen und Einfälle mich stets sehr angezogen, desgleichen der Anblick uralter Gegenstände.

Niemals hat mich wohl etwas stärker fasziniert als der Gedanke an merkwürdige Störungen alltäglicher Naturgesetze oder an das ungeheuerliche Eindringen unbekannter Wesen aus einem grenzenlosen Draußen in unsere Welt.3 Als ich etwa drei Jahre alt war, lauschte ich begierig den bekannten Kindermärchen.

Die Märchen der Gebrüder Grimm gehörten zu meiner ersten Lektüre im Alter von vier Jahren. Im Alter von fünf Jahren geriet ich in den Bann von »Tausendundeine Nacht«, und stundenlang konnte ich Araber spielen - ich nannte mich »Abdul Alhazred«, weil mir ein netter Erwachsener erklärt hatte, das sei ein typisch sarazenischer Name. Erst Jahre später kam mir der Einfall, Abdul Alhazred in das Milieu des 8.

Jahrhunderts zu verpflanzen und ihm das gefürchtete und unaussprechliche Ne cronomicon zuzuschreiben!

Aber nicht nur Bücher und Sagen beschäftigten meine Phantasie. In den alten hügeligen Straßen meiner Heimatstadt, wo mit gefächerten Oberlichten ausgestattete Türen im Kolonialstil, winzige Fenster und anmutige Dachfirste aus der Zeit König Georgs den Glanz des achtzehnten Jahrhunderts lebendig erhalten, verspürte ich einen Zauber, der damals wie heute schwer zu erklären ist. Der Sonnenuntergang über den weithingebreiteten Dächern, wie er sich von der Aussicht des größten Hügels aus bot, besaß für mich eine besondere Bedeutung.4 Ehe es mir noch zu Bewußtsein gekommen war, hatte mich das achtzehnte Jahrhundert unwiderstehlicher gefangengenommen, als es dem Held von Berkeley Square je passiert war, und darum auch hockte ich auf dem Dachboden stundenlang über den längst aus der Bibliothek unten verbannten Büchern mit den alten, langen »s« und machte mir ganz unbewußt den Stil Popes und Dr. Johnsons als natürliche Ausdrucksweise zu eigen. Diese Versenkung wirkte um so nachhaltiger, als mein schlechter Gesundheitszustand mir den Schulbesuch nur selten und unregelmäßig erlaubte. Dadurch fühlte ich mich als Zeitgenosse irgendwie fehl am Platze und stellte mir folglich die Zeit als mystisches, verheißungsvolles Etwas vor, das alle möglichen unerwarteten Wunder in sich bergen mochte.5 Auch die Natur sprach meinen Sinn für das Phantastische lebhaft an. Unser Haus lag nahe am damaligen Rand des bewohnten Gebietes, so daß mir die wogenden Felder, Steingemäuer, riesigen Ulmen, gedrungenen Bauernhäuser und weiten Wälder des ländlichen Neuengland ebenso vertraut waren wie die alte Stadtlandschart. Diese dumpfe, einfache Landschaft schien mir eine unausgelotete, umfassende Bedeutung zu bergen, und manche finstere bewaldete Niederungen in der Nähe des Seekonk Rivers erlangten für mich eine Aura der Seltsamkeit, die sich mit einem verschwommenen Grauen mischte. Sie beherrschten meine Träume, besonders die Alpträume, in denen mir. düstere, geflügelte biegsame Geschöpfe erschienen, die ich »Nachtgespenster« nannte.

Als ich sechs Jahre alt war, kam ich durch verschiedene leichtverständlich gehaltene Jugendschriften mit der griechischen und römischen Mythologie in Berührung, die mich tief prägte. Ich war kein Araber mehr, sondern wurde zu einem Römer. Übrigens kam mir das alte Rom seltsam vertraut vor, und ich identifizierte mich mit ihm, allerdings nicht ganz so stark wie mit dem achtzehnten Jahrhundert. In gewisser Hinsicht ging beides Hand in Hand, denn als ich die Klassiker im Original entdeckte, denen die Kindergeschichten entnommen worden waren, las ich sie überwiegend in Übersetzungen aus dem späten 17. und dem 18. Jahrhundert. Meine Phantasie wurde ungeheuer beflügelt, und eine Zeitlang kam es mir in der Tat so vor, als könnte ich in gewissen altehrwürdigen Hainen Faune und Dryaden mit dem Blick erhaschen. Ich pflegte Altäre zu errichten und Pan, Apollo und Minerva Opfer darzubringen.6

Ungefähr zu dieser Zeit wirkten die unheimlichen Illustrationen von Gustave Dore - die ich in Dante- und Milton-Ausgaben und im »Alten Matrosen« fand - tief auf mich ein. Zum erstenmal begann ich, selbst zu schreiben. Den ersten Versuch, an den ich mich erinnern kann - die Erzählung von einer entsetzlichen Höhle -, verbrach ich im Alter von sieben Jahren und nannte ihn

»Der edle Lauscher«.

Die Geschichte ist nicht erhalten, doch besitze ich noch immer zwei lächerlich infantile literarische Gehversuche aus dem folgenden Jahr: »Das geheimnisvolle Schiff« und »Das Geheimnis des Grabes«, deren Titel meine Geschmacksrichtung hinreichend verraten.

Im Alter von acht Jahren zeigte ich starkes Interesse an den Wissenschaften, das zweifellos durch die geheimnisvoll anmutenden Abbildungen

»philosophischnaturwissenschaftlicher Instrumente« im Anhang von Websters Unabridged Dictionary geweckt wurde. Zuerst kam die Chemie, und bald nannte ich ein verlockendes kleines Labor im Keller unseres Hauses mein eigen. Dann kam die Geographie, die auf mich eine unheimliche Faszination ausübte und sich auf die Antarktis und die unwegsamen Gefilde ferner Wunder konzentrierte.

Schließlich erwachte in mir das Interesse für die Astronomie, und die Verlockung anderer Welten und undenkbarer

kosmischer Abgründe überschattete lange Zeit nach meinem zwölften Geburtstag alle anderen Interessen. Ich gab eine kleine hektographierte Zeitschrift heraus, das »Rhode Island Journal of Astronomy«, und endlich - im Alter von sechzehn Jahren -

schaffte ich tatsächlich den Durchbruch und wurde in einer Zeitung gedruckt. Ich veröffentlichte Aufsätze zu

astronomischen Fragen, steuerte für eine Lokalzeitung monatliche Artikel über Himmelserscheinungen bei und bombardierte die ländliche Wochenzeitungen mit

umfangreicheren vermischten Beiträgen.7 In der High School -

die ich einigermaßen regelmäßig besuchen konnte - begann ich, unheimliche Geschichten von gewisser Stimmigkeit und Ernsthaftigkeit zu verfassen. Der größte Teil davon war Schund, und mit achtzehn vernichtete ich die meisten. Ein bis zwei erreichten vielleicht das Durchschnittsniveau der Groschenhefte.

Von allem habe ich mir nur »Das Tier in der Höhle« (1905) und

»Der Alchimist« (1908) aufgehoben. In diesem Stadium hatten Wissenschaft und Klassik den Hauptanteil an meiner unermüdlichen, umfangreichen schriftstellerischen Tätigkeit.

Unheimliche Geschichten spielten lediglich eine relativ unbedeutende Rolle. Die Wissenschaft hatte mir den Glauben an das Übernatürliche genommen, und im Augenblick fesselte mich die Wahrheit stärker als alle Träume. Philosophisch bin ich noch immer mechanistischer Materialist. Was meine Lektüre anging, las ich Wissenschaftliches, Historisches, schöngeistige Literatur, unheimliche Geschichten und völlig wertlosen Schund auf gänzlich unkonventionelle Weise bunt durcheinander.8

Gleichzeitig mit diesem Interesse am Lesen und Schreiben genoß ich eine sorglose Kindheit. Die frühen Jahre gestalteten mir Spielzeug und Streifzüge in der Natur lebendig, und in der Zeit nach meinem zehnten Geburtstag erschloß ich mir die nähere Umgebung durch ausdauerndes Herumradeln.

Diese Streifzüge brachten mir die pittoresken, die Phantasie befeuernden Entwicklungsphasen der Dörfer und ländlichen Gebiete in Neuengland nahe. Auch war ich keinesfalls ein Einsiedler; ich schloß mich gleich mehreren Gruppen von Jugendlichen an.9 Mein Gesundheitszustand machte mir den Besuch eines Colleges unmöglich, aber unsystematisches Lernen daheim und der Einfluß eines bemerkenswert gebildeten Onkels, eines Arztes, halfen mir, einige der ärgsten Folgen dieses Mangels auszugleichen. In den Jahren, die ich hätte auf dem College verbringen sollen, wechselte ich zwischen Wissenschaft und Literatur hin und her und erwarb mir ein fundiertes Wissen in allem, was das achtzehnte Jahrhundert anging, dem ich mich seltsam zugehörig fühlte. Mit dem Schreiben unheimlicher Geschichten hatte ich zeitweilig ausgesetzt, doch las ich alle Gespenstergeschichten, die mir in die Hand fielen - einschließlich der ausgefallenen Beiträge in billigen Magazinen wie The All-Story und The Block Cat. Mein eigenes Schaffen bestand hauptsächlich aus Gedichten und Essays - alle gleichermaßen wertlos, und ich habe sie in Vergessenheit geraten lassen.

Im Jahre 1914 entdeckte ich die United Amateur Press Association und trat ihr bei. Das war eine von mehreren im ganzen Lande verbreiteten Korrespondenz-Organisationen von literarischen Neulingen, die ihre eigenen Blätter publizierten und eine verschworene Gemeinschaft, ein Miniaturnetz aus hilfreicher, gegenseitiger Kritik und Ermunterung bildeten. Die Vorteile, die ich aus dieser Verbindung zog, lassen sich kaum überschätzen, denn der Kontakt zu den verschiedenen Mitgliedern und Kritikern ermöglichte es mir, die schlimmsten archaischen Züge und Unbeholfenheiten meines Stils zu mildern.

Von diesem organisierten Liebhabertum kam auch der erste Anstoß, mit dem Schreiben unheimlicher Geschichten fortzufahren. Und wirklich, im Juli 1917 schrieb ich »Das Grab«

und kurz darauf »Dagon«. Diese Liebhaberkreise haben mir auch die Kontakte ermöglicht, die zur ersten professionellen Publikation einer meiner Geschichten führten. Das war im Jahre 192.2, als Home Brew eine Reihe schauriger Geschichten druckte, die sich »Herbert West - der Wiedererwecker« nannten.

Derselbe Kreis führte darüber hinaus zu meiner Bekanntschaft mit Clark Ashton Smith, Frank Belknap Long,Wilfried B.

Talman und anderen, die sich inzwischen auf dem Gebiet ungewöhnlicher Geschichten einen Namen gemacht haben.10

Im Jahre 1919 gab meine Entdeckung Lord Dunsanys durch den mir die Idee eines künstlichen Pantheons und einer Mythenwelt, vertreten durch Cthulhu, Yog-Sothoth, Yuggoth usw., kam -

meiner Schriftstellerei auf dem Gebiet der Gruselgeschichte gewaltigen Auftrieb. Solche Geschichten schrieb ich jetzt in größerem Umfang als jemals zuvor oder danach. Zu jener Zeit dachte ich weder an eine professionelle Veröffentlichung, noch erhoffte ich sie, aber die Gründung von Weird Tales im Jahre 192.3 eröffnete einen einigermaßen beständigen Absatzmarkt.

Meine Geschichten aus den zwanziger Jahren zeigen zum Gutteil den Einfluß meiner zwei Hauptvorbilder - Poe und Dunsany - und neigen im allgemeinen zu sehr zu Maßlosigkeit und Kitsch, als daß sie ernsten literarischen Wert hätten.11

Indessen hatte sich seit 192.0 mein Gesundheitszustand radikal gebessert, so daß ich mein ziemlich geruhsames Dasein durch bescheidene Reisen bereicherte, die meinem stark ausgeprägten Interesse für alles Alte eine freiere Entfaltung ermöglichten. Die Suche nach architektonischen und landschaftlichen Schönheiten in alten Kolonialstädten und auf Nebenwegen der ältesten Siedlungsgebiete Amerikas wurde neben der Literatur zu meiner Hauptbeschäftigung. Im Verlauf dieser Suche nach einer Wiedererweckung der Vergangenheit glückte es mir,

beträchtliche Teile des Landes kennenzulernen, vom bezaubernden Quebec im Norden bis zum tropischen Key West im Süden und dem farbenprächtigen Natchez und New Orleans im Westen. Quebec zählte neben Providence zu meinen Lieblingsstädten, des weiteren Portsmouth, New Hampshire, in Massachusetts Salem und Marblehead, in meinem Heimatstaat Newport, Philadelphia, Annapolis, Richmond mit seinen reichen Erinnerungen an Poe, Charleston aus dem 18. Jahrhundert, St.

Augustine aus dem 16. und das schläfrige Natchez auf schwindelnder steiler Felsenküste in der wunderbaren subtropischen Umgebung. Die Städte »Arkham. und

»Kingsport«, die in einigen meiner Erzählungen vorkommen, sind ein mehr oder weniger verändertes Salem und Marblehead.

Neuengland, wo ich herstamme, und seine alte Überlieferung haben sich meiner Einbildungskraft tief eingeprägt und kommen in meiner Prosa häufig vor.

Gegenwärtig wohne ich in einem hundertdreißig Jahre alten Haus auf einem alten Bergrücken in Providence. Von meinem Schreibtisch aus bietet sich mir ein unvergeßliches Panorama altehrwürdiger Dächer und Zweige.12 Es ist mir inzwischen klar, daß sich jegliches echte literarische Verdienst, das ich haben mag, auf Erzählungen vom Traumleben, von seltsamen Schatten und kosmischer »Außenseitigkeit« beschränkt, obwohl ich an anderen Lebensbereichen regen Anteil nehme und gegen Bezahlung die stilistische Überarbeitung erzählerischer Prosa und selbst von Lyrik anderer übernehme.13 Ichhabe nicht die leiseste Ahnung, warum dem so ist. Ich mache mir keine Illusionen über den prekären Status meiner Erzählungen, und ich erwarte nicht, mich jemals ernstlich mit meinen

Lieblingsautoren unheimlicher Erzählungen messen zu können -

Poe, Arthur Machen, Dunsany, Algernon Blackwood, Walter de la Mare und Montague Rhodes James. Für mein Werk kann ich nichts weiter vorbringen als seine Redlichkeit. Ich weigere mich, den mechanischen Konventionen der

Unterhaltungsliteratur Tribut zu zollen oder meine Erzählungen mit Klischeefiguren und abgedroschenen Situationen vollzustopfen.

Ich lege Wert darauf, echte Gemütsäußerungen und Eindrücke so gut zu schildern, wie ich es nur vermag. Die Ergebnisse mögen armselig sein, doch ringe ich lieber weiter hartnäckig um echten literarischen Ausdruck, als die künstlichen Maßstäbe wohlfeiler Schnulzen zu akzeptieren.

Im Laufe der Jahre habe ich versucht, meine Erzählungen zu verfeinern und subtiler anzulegen. Das ist mir jedoch nicht in dem Maße gelungen, wie ich mir hätte wünschen mögen. Einige meiner Versuche sind in den Jahrbüchern von O'Brien und O'Henry lobend erwähnt worden (»Das Grauen von Dunwich«,

»Die Farbe aus dem All« und so weiter), und einigen wurde die Ehre zuteil, in Anthologien nachgedruckt zu werden. Aber aus allen Vorschlägen, eine Sammlung meiner Geschichten zu veranstalten, ist nichts geworden.14 Ich schreibe nie, wenn mir der spontane Ausdruck verwehrt ist. Ich schreibe nur, um eine bereits vorhandene Gemütsverfassung auszudrücken, die es zur Kristallisation drängt. Einige meiner Geschichten drehen sich um Träume, die ich selbst gehabt habe. Tempo und Art meines Schreibens sind von Fall zu Fall sehr verschieden, doch fällt mir das Schreiben in der Nacht immer am leichtesten. Von allen meinen Werken sind mir »Die Farbe aus dem All« und »Die Musik des Erich Zann« - in dieser Reihenfolge - am liebsten.15

Ich bezweifle, daß ich mit der gewöhnlichen Sciencefiction jemals Erfolg haben könnte.

Ich bin der Ansicht, daß die unheimliche Literatur ein ernst zu nehmendes Genre darstellt, das der besten literarischen Künstler wert ist, obwohl sie zumeist ein ziemlich eng begrenztes Gebiet ist, das nur einen kleinen Ausschnitt der unendlich vielfältigen Gemütsverfassungen des Menschen spiegelt.

Gespenstergeschichten sollen realistisch und stimmungsvoll sein - sie sollen ihre Abweichung von der Natur auf die eine ausgewählte übernatürliche Bahn beschränken und nie aus dem Auge verlieren, daß Szenen-Schilderung, Stimmung und Naturerscheinungen bei der Vermittlung des zu Vermittelnden weit wesentlicher sind als Charaktere und Handlung. Die

»Wucht« einer wahrhaft unheimlichen Geschichte ist einfach die Aufhebung oder Überschreitung eines unumstößlichen kosmischen Gesetzes - eine phantasievolle Flucht aus der erdrückenden Wirklichkeit. Denn Naturerscheinungen, nicht aber Personen sind ihre logischen »Helden«.16 Das Grauen sollte originell sein - der Rückgriff auf alltägliche Mythen und Legenden mindert nur seine Wirkung. Die derzeitigen Geschichten in den Zeitschriften, die zu einem hoffnungslos gefühlsduseligen, konventionellen Standpunkt und einem flotten, unbekümmerten Stil neigen und zu gekünstelten Fabeln voller Handlungsreichtum, haben keinen sehr hohen

literarischen Rang. Algernon Blackwoods »Die Weiden« ist vielleicht die bedeutendste unheimliche Geschichte, die je geschrieben wurde.17 H. P. Lovecraft Anmerkungen von August Derleth 1 Das ist eine typisch bescheidene Bemerkung Lovecrafts; man sollte sie nicht mit falscher Bescheidenheit verwechseln, denn Lovecraft hatte vom eigenen Werk eine sehr schlechte Meinung und ließ sich nicht träumen, daß er oder irgend etwas, was er tat, auch nur die geringste Bedeutung haben könnte.

2 Lovecraft hat immer höchst ungern von seinen Eltern gesprochen, und selbst wenn er scheinbar offen war, konnte man unmöglich herausfinden, ob er ehrlich überzeugt oder ob er zu zurückhaltend war, um Tatsachen anzuführen. Tatsache ist, daß Lovecraft häufig schrieb, sein Vater habe »einen völligen Zusammenbruch« erlitten, wohingegen Winfield Lovecraft an Parese litt. Möglicherweise - und sogar höchst wahrscheinlich -

kannte Lovecraft die Umstände der »Probleme« seines Vaters nicht und erfuhr auch nie, daß dieser als Syphilitiker an fortgeschrittener Parese starb. Bemerkungen wie »Im Jahre 1893

erlitt mein Vater einen Schlaganfall, der auf Schlaflosigkeit und ein überreiztes Nervensystem zurückzuführen war und ihn völlig lahmte, so daß er den Rest seines Lebens im Krankenhaus verbringen mußte«, die er 1915 in einem Brief an Maurice W.

Moe machte, sind typisch für die Art, wie Lovecraft von seinem Vater sprach. Die Krankengeschichte bestätigt den Sohn jedoch nicht: in ihr erscheint Winfield Lovecraft als Paretiker.

Seine Mutter war depressiv, herrschsüchtig und hilflos, eine Neurotikerin hart an der Grenze des Wahnsinns, die schließlich imMärz 1929 im Butler Hospital Aufnahme fand, wo sie zwei Jahre später an geistiger und physischer Erschöpfung starb.

3 In seinem kürzlich erschienenen Buch The Strength to Dream schreibt Colin Wilson von Lovecrafts »Versuch, den Materialismus zu untergraben«, und behauptet von ihm, daß er

»völlig in sich verschlossen war« und sich von der

»"Wirklichkeit" losgesagt hatte « - eine Meinung, die von denen, die Lovecraft kannten oder mit ihm korrespondierten, nicht geteilt wird. In Wahrheit verbrachte Lovecraft eine äußerst einsame Kindheit. Zweifellos fehlte in dem Haus, wo er mit seiner Mutter und zwei Tanten lebte, der Vater, denn sein Großvater und ein Onkel überlebten seinen Vater nicht lange. In seiner Einsamkeit fand er Trost in manchen

Phantasievorstellungen, nicht allein in denen des Grauens, obwohl er nur diesem Aspekt dichterischen Ausdruck gab, nicht aber den griechischarabischen Träumen.

4 Die Beschreibung einer solchen Szene, die einem Brief Lovecrafts entnommen ist, habe ich, allerdings mit geändertem Pronomen, in die posthume »Zusammenarbeit.

»Die Lampe des Alhazred« eingefügt.

5 So faszinierend diese Versenkung ins achtzehnte

Jahrhundert ist, so bedauerliche und nachteilige Wirkungen hatte sie auf sein schöpferisches Werk. Er vergeudete Unmengen von Papier und noch mehr Schweiß auf das

Schreiben von Lehrgedichten in der Manier von Dichtern des achtzehnten Jahrhunderts. Die meisten davon sind heute unlesbar.

6 Das spielte sich in den ländlichen Gebieten entlang des Rivers Seekonk ab, wie man sich vorstellen kann, in Einsamkeit, denn die Kinder der Nachbarschaft hatten das übliche Interesse an Kampfspielen und waren an der Dramatisierung von Mythologie oder Geschichte nicht interessiert. In einem sehr weit gefaßten Sinn lehnte er sie ab, und sie lehnten ihn ab, was zum Teil die Einsamkeit seiner Jugend erklärt, wiewohl er einige sehr enge Freunde hatte, die sich ihm anschlössen, als er später die Abenteuer Nick Carters, Sherlock Holmes' und der Bradys las und die »Detektivagentur Providence. gründete.

7 Lovecrafts Spalte erschien in der Tribüne von Providence.

8 Er merkte sich jedoch fast alles, was er las. Auf dem Höhepunkt seiner Aktivität als Briefschreiber erstaunte er seine Briefpartner häufig durch sein Wissen, das er spontan verfügbar hatte oder das er aus den Erinnerungen an seine umfangreiche Lektüre ausgrub. Während unserer zwölf Jahre andauernden Briefverbindung, während der er bis zu seinem Verfall gegen Ende seiner tödlichen Krankheit im Durchschnitt einen Brief pro Woche schrieb, war ich häufig tief beeindruckt, wie leicht es ihm fiel, die verschiedensten Themen zu erörtern.

9 Diese Aussage ist strittig und muß relativiert werden. Es gibt keine Beweise, die dafür sprechen, und wenn Lovecraft tatsächlich gleich »mehreren« Gruppen von Jugendlichen angehörte, muß man annehmen, daß er nur ein Mitläufer war, aber selten aktiv mitgemacht haben kann. Die

unternehmungslustige Bande, der er angehörte, war die Detektivagentur Providence. Bezeichnenderweise war er ihr Anführer. Keiner der Gefährten seiner Kindheit hat sich als Zeuge gemeldet, und eine Dame, die ihn aus der Kinderzeit kannte, hat ihre Erinnerungen an ihn niedergeschrieben. Clara L.

Hess hat uns ein höchst eindeutiges Bild eines Knaben hinterlassen, der sich merkwürdig benahm und ein Sonderling war, der sich absonderte und vor anderen Kindern versteckte.

Sie erinnert sich, daß sie ihn häufig sah, wie er »den Angell Hill hinaufging, ohne etwas zu sagen, den Blick geradeaus gerichtet, den Mantelkragen hochgeschlagen und das Kinn gesenkt«, eine Schilderung, die von einem anderen Zeitgenossen, Carlos G.

Wright, bestätigt wird. Miss Hess ging einmal auf ihn zu, als er auf einem Feld durch sein Teleskop die Sterne beobachtete,

»aber seine Sprache war so vom Fach, daß ich ihn nicht zu verstehen vermochte«. Das erklärt teilweise Lovecrafts Einsamkeit, denn die Jugend meidet einen überdurchschnittlich intelligenten Jungen ebenso wie einen unterdurchschnittlich begabten.

10 Es kann keinen Zweifel daran geben, daß diese

Bekanntschaften Lovecraft reichlich für den Mangel an Freundschaft in seiner häuslichen Umgebung entschädigten. Er war ein enthusiastisches Mitglied der

Amateurpressevereinigung. Mir fällt ein, daß er mich schon für die United Amateur Press Association geworben hatte, als unsere Korrespondenz noch kaum begonnen hatte. Er lieferte nicht nur Beiträge für die meisten Amateurpublikationen, sondern redigierte und publizierte eine Zeitlang sogar eine eigene Zeitschrift, The Consewative.

11 Lovecraft war Zeit seines Lebens sein eigener strengster Kritiker. Das ist auch die richtige Einstellung für einen Schriftsteller, denn ein selbstzufriedener Autor bleibt in seiner Entwicklung stecken. Von 192.3 an war Weird Tales sein hauptsächlicher Markt; nur relativ wenige seiner Geschichten -

insgesamt vier - wurden anderswo veröffentlicht.

12 Lebenslang war die Vergangenheit für Lovecraft sehr wichtig. Das läßt sich nicht leugnen.

Veränderungen flößten ihm mehr Abscheu ein als dem Durchschnittsmenschen. Jeder von uns weigert sich bis zu einem gewissen Grade, den Wandel zu akzeptieren, und dieser Widerwille nimmt mit steigendem Alter zu. Vielleicht war für ihn die Vergangenheit mit ihren Familienbanden - der beschirmenden Mutter, dem Großvater mütterlicherseits und dem Onkel - eine Art Sicherheit, eine Absicherung, die ins Wanken geriet durch den beschleunigten Schritt der heutigen Welt und die rasante Geschwindigkeit des Wandels, der die Zerstörung der alten Gebäude und Straßen, die Lovecraft so sehr liebte, mit sich brachte. Mit ihnen verbanden sich Erinnerungen an die Kindheit und die noch ältere Vergangenheit. Nicht lange nach dieser autobiographischen Darstellung verfiel Lovecrafts Gesundheit langsam, und am 15. März 1937 starb er.

13 Lovecraft nahm gründliche Überarbeitungen von Werken anderer Autoren vor. Ob ihm das mehr Zeit raubte als seine Riesenkorrespondenz, ist ungewiß. Den Briefwechsel brauchte er, denn das war seine Verbindung mit der Welt. Die Überarbeitungen mußte er machen, denn er brauchte dieses Einkommen, um sein Dasein zu fristen, und seine

Lebensführung würden die meisten von uns heute als weit unter dem Existenzminimum liegend betrachten. Ohne

Abnehmermarkt jedoch fehlte Lovecraft der Antrieb zum Schreiben, und wann immer eine seiner Geschichten abgelehnt wurde - und Farnsworth Wright lehnte seine Geschichten häufig aus einem unglaublichen Mangel an Urteilsvermögen ab -, war er gezwungen, solche Arbeiten anzunehmen. Unter den abgelehnten Erzählungen befanden sich »Die Farbe aus dem All«, »Schatten über Innsmouth«, »Der Schatten aus der Zeit«,

»Berge des Wahnsinns« und andere, die erst angenommen wurden, als er sie zum zweiten oder dritten Mal vorlegte. Man darf also vermuten, daß Lovecraft mehr geschrieben hätte, wäre er gezwungen gewesen, seinen Lebensunterhalt ohne diese Überarbeiter-Tätigkeit zu verdienen. Angesichts der schlechten Meinung, die Lovecraft von seinem eigenen Werk hatte, berührt jedoch der Gedanke ironisch, daß seine Geschichten mit um so größerer Regelmäßigkeit abgelehnt wurden, je überzeugender sie wurden und je besser in Stil und Darstellung.

14 Die Dummheit der Herausgeber in dieser Beziehung hielt aber noch an, nachdem Donald Wandrel und ich The Outsider and Others zusammengestellt hatten. Dieses Buch wurde sowohl Simon & Schuster als auch Charles Scribner's Sons vorgelegt, und dann wurde aus meiner Ungeduld heraus - denn ich mußte meine eigenen Bücher schreiben, so wie ich heute meine Schriftstellerei noch immer betreibe, trotz der Ausweitung der Arkham-House-Agenden - Arkham House geboren. Wenn ich mich recht erinnere, kam die Anregung, wir sollten den Lovecraft-Sammelband selber verlegen, von einem Lektor bei Scribner's, meinem damaligen Verleger. Das beste Werk Lovecrafts ist nun in beinahe jedem europäischen Land erschienen, einschließlich einiger hinter dem Eisernen Vorhang, sowie in ganz Lateinamerika.

15 Lovecraft war darin nicht sehr konsequent. Gelegentlich kehrte er die Reihenfolge um. Ein anderes Mal nannte er »Das Grauen von Dunwich« und »Die Ratten im Gemäuer«.

16 Colin Wilson ist der Meinung, daß Lovecrafts ganzes Leben eine Flucht vor der Wirklichkeit war, ein einziger Rückzug. Siehe sein Buch The Strength to Dream.