Die geliebten Toten
C. M. Eddy jr. und H. P. Lovecraft
Es ist Mitternacht. Ehe der Morgen graut, wird man mich finden und in eine finstere Zelle schleppen, wo ich endlos dahinvegetieren soll, während unstillbare Gelüste an meinen Lebensgeistern zehren und mir das Herz verdorren, bis ich zuletzt mit den Toten eins werde, die ich so liebe.
Mein Platz ist eine stinkende Vertiefung in einem alten Grab, als Schreibtisch dient mir die Rückseite eines umgestürzten Grabsteins, den der Zahn der Zeit glattgeschliffen hat; mein einziges Licht ist das der Sterne und einer dünnen Mondsichel, und doch kann ich so deutlich sehen, als wäre es heller Tag.
Auf allen Seiten rings um mich halten Grabsäulen Wache über vernachlässigten Gräbern, halb umgestürzte, verwahrloste Grabsteine liegen fast verborgen in Unmengen widerlicher, verfaulter Vegetation. Über dem übrigen Friedhof, scharf gegen den hellen Himmel abgehoben, reckt ein aufrechtstehender Grabstein sein karges, spitz zulaufendes Türmchen in die Höhe wie der gespenstische Anführer einer Lemurenhorde. Die Luft ist schwer von abscheulichen Ausdünstungen der Pilzgewächse und den Gerüchen der feuchten, schimmeligen Erde, aber für mich sind das die Wohlgerüche Elysiums. Es ist still -
erschreckend still -, ein Schweigen, dessen Tiefe von Ernst und Grauen kündet. Könnte ich mir meinen Wohnsitz frei wählen, fiele meine Wahl auf das Herz einer derartigen Stadt aus faulendem Fleisch und zerfallenden Knochen, denn ihre Nähe sendet ekstatische Schauder durch meine Seele, läßt das träge Blut durch die Adern rasen und mein schlaffes Herz in der Freude eines Deliriums pochen - denn die Anwesenheit des Todes ist für mich das Leben!
Meine frühe Kindheit verbrachte ich in einer einzigen ununterbrochenen, trostlosen und eintönigen Apathie. Streng asketisch, kränklich, bleich, allzu klein geraten und häufig in länger dauernde Perioden morbider Niedergeschlagenheit versunken, wurde ich von den gesunden, normalen Jungen meines Alters gemieden. Sie nannten mich Spielverderber und
»altes Weib«, weil ich kein Interesse an den rohen, kindischen Spielen hatte, die sie spielten, und auch nicht die Ausdauer mitzumachen, falls ich es gewollt hätte.
Wie alle ländlichen Orte hatte auch Fenham seine
Klatschbasen mit spitzen Zungen. Für ihre vor nichts zurückschreckende Phantasie war mein lethargisches Temperament eine abschreckende Abnormität; sie verglichen mich mit meinen Eltern und schüttelten vielsagend den Kopf über den ungeheuren Unterschied. Einige, die stärker dem Aberglauben zuneigten, nannten mich offen einen Wechselbalg, während andere, die von meiner Herkunft wußten, auf die vagen, geheimnisvollen Gerüchte aufmerksam machten, die über einen Ururgroßonkel umliefen, der als Hexenmeister auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war.
Hätte ich in einer größeren Stadt gelebt mit mehr Gelegenheit zu kameradschaftlichem Umgang mit Gleichgesinnten, hätte ich vielleicht diese frühe Neigung zum Einsiedlertum überwinden können. In der Pubertät wurde ich noch verstockter, trübsinniger und apathischer. Meinem Leben fehlte es an Antrieb. Etwas schien mich im Griff zu haben, das meine Sinne stumpf machte, meine Entwicklung hemmte, meinen Unternehmungsgeist unterband und mich auf unerklärliche Weise mit
Unzufriedenheit erfüllte.
Ich war sechzehn, als ich zum ersten Mal ein Begräbnis besuchte. In Fenham war ein Leichenbegräbnis ein
außerordentliches gesellschaftliches Ereignis, denn unsere Stadt war für die Langlebigkeit ihrer Bewohner bekannt. Wenn darüber hinaus mein überall bekannter Großvater der Anlaß für ein Begräbnis war, lag es nahe, daß die Ortsbewohner in hellen Scharen ausziehen würden, um seinem Andenken die
gebührende Ehre zuteil werden zu lassen. Und doch sah ich der näherrückenden Zeremonie nicht einmal mit verstecktem Interesse entgegen. Alles, was mich aus meiner
gewohnheitsmäßigen Trägheit reißen konnte, versprach nur körperliche und geistige Unruhe.
Mich dem Drängen meiner Eltern fügend, vor allem aber deswegen, um mich nicht ihrer bissigen Mißbilligung dessen auszusetzen, was sie meine pflichtvergessene Haltung zu nennen pflegten, erklärte ich mich bereit, sie zu begleiten.
Am Begräbnis meines Großvaters war überhaupt nichts ungewöhnlich, es sei denn die enorme Blumenpracht der Grabspenden. Es war aber, wie ich schon sagte, meine erste Berührung mit den feierlichen Riten, die aus solchem Anlaß abgehalten werden. Etwas an dem abgedunkelten Zimmer, dem länglichen Sarg mit seiner düsteren Drapierung, den aufgehäuften duftenden Blüten, an den Anzeichen von Trauer unter den versammelten Dorfbewohnern rüttelte mich aus meiner normalen Trägheit auf und erregte meine
Aufmerksamkeit. Durch einen Stoß des spitzen Ellbogens meiner Mutter aus meiner augenblicklichen Tagträumerei gerissen, folgte ich ihr in den Raum zu dem Sarg, in dem die Leiche meines Großvaters aufgebahrt lag.
Zum ersten Mal wurde ich mit dem Tod konfrontiert. Ich blickte auf das ruhige, stille Gesicht mit den unzähligen Falten hinunter und bemerkte nichts, was zu Trauer Anlaß geboten hätte. Vielmehr dünkte es mich, daß Großvater ungeheuer ruhig, auf sanfte Weise völlig zufrieden sei. Ich fühlte mich von einem seltsam unangemessenen erhabenen Gefühl ergriffen. Es überkam mich so langsam, so hinterlistig, daß es mir kaum auffiel. Wenn ich im Geiste jene zukunftsträchtige Stunde vorüberziehen lasse, kommt es mir vor, daß dieses Gefühl mit dem ersten Blick auf die Begräbnisszenerie zusammenhängen muß und seinen Griff mit raffinierter Hinterhältigkeit schweigend verstärkte. Ein verderblicher, bösartiger Einfluß, der von der Leiche selbst auszugehen schien, hielt mich mit magnetischer Faszination gebannt. Mein ganzes Wesen schien mit einer ekstatischen elektrischen Kraft aufgeladen zu sein, und ich fühlte, wie sich meine Gestalt ohne bewußte
Willensanstrengung aufrichtete. Meine Augen versuchten, die geschlossenen Lider des Toten zu durchdringen und eine geheime Botschaft abzulesen, die hinter ihnen verborgen lag.
Mein Herz hüpfte plötzlich vor unheimlichem Entzücken und schlug mit dämonischer Kraft gegen meine Rippen, als wollte es sich von den beengenden Wänden meiner gebrechlichen Gestalt befreien. Eine ausgelassene, ungezügelte und die Seele befriedigende Sinnlichkeit erfaßte mich. Aufs neue wurde ich durch einen kräftigen Stoß des mütterlichen Ellbogens zum Handeln getrieben. Ich hatte den Weg zu dem schwarzverhüllten Sarg mit bleiernem Schritt zurückgelegt, mit neuerlangter Lebhaftigkeit ging ich hinweg.
Ich begleitete den Leichenzug zum Friedhof, mein ganzes körperliches Dasein durchdrungen von diesem mystischen, belebenden Einfluß. Es war, als hätte ich einige tiefe Züge eines exotischen Elixiers genommen - einen abscheulichen Trank, der nach gotteslästerlichen Rezepturen in den Archiven Belials gebraut worden war.
Die Ortsbewohner waren vertieft in die Zeremonie, so daß nur mein Vater und meine Mutter die radikale Veränderung meines Benehmens bemerkten, aber in den folgenden vierzehn Tagen lieferte mein verändertes Verhalten den Wichtigtuern frischen Stoff für ihre spitzen Zungen. Gegen Ende dieses Zeitraums begann die Kraft des Stimulans an Wirkung zu verlieren. Nach ein bis zwei Tagen war ich wieder in meine altgewohnte Apathie verfallen, wenn auch nicht in die vollständige und gründliche Lähmung wie in der Vergangenheit. Früher hatte ich nicht das geringste Verlangen verspürt, aus meiner Abgespanntheit auszubrechen. Jetzt trieb mich eine vage und unbestimmbare Unruhe an. Äußerlich war ich wieder ich selbst geworden, und die Klatschbasen wandten sich einem
lohnenderen Thema zu. Hätten sie auch nur im entferntesten den wahren Grund meiner heiteren Stimmung geahnt, hätten sie mich gemieden, als wäre ich ein abscheuliches, lepröses Wesen.
Hätte ich mir die widerliche Macht hinter meiner so kurz währenden Hochstimmung vor Augen geführt, hätte ich mich für immer von der übrigen Welt zurückgezogen und den Rest meiner Jahre in reuiger Abgeschiedenheit zugebracht.
Ein Unglück kommt selten allein, und deshalb starben in den nächsten fünf Jahren, trotz der sprichwörtlichen Langlebigkeit unserer Ortsbewohner, beide Elternteile. Meine Mutter ereilte es zuerst, bei einem höchst ungewöhnlichen Unfall; und mein Schmerz war so echt, daß ich ehrlich überrascht war, als seine Aufrichtigkeit durch jenes beinahe vergessene Gefühl äußerster und teuflischer Ekstase verhöhnt und widerlegt wurde. Wieder einmal sprang mir das Herz ungebärdig im Leib, wieder einmal pochte es mit der Geschwindigkeit eines Hammerwerks und ließ mit meteorischem Eifer das heiße Blut in meinen Adern zirkulieren. Ich schüttelte den lästigen Mantel der Trägheit ab, nur um sie durch die weitaus entsetzlichere Last eines abscheulichen, unheiligen Verlangens zu ersetzen. Ich kam nicht von dem Sterbezimmer los, in dem die Leiche meiner Mutter lag, meine Seele dürstete nach dem teuflischen Nektar, der die Luft des abgedunkelten Raums zu durchdringen schien. Jeder Atemzug verlieh mir Kraft, hob sich empor zu hochaufragenden Höhen seraphischer Befriedigung. Mir war jetzt klar, daß es sich lediglich um eine Art Drogendelirium handelte, das bald vorüberging und mich durch seine bösartige Kraft entsprechend geschwächt zurückließ, doch konnte ich mein Verlangen so wenig beherrschen, wie ich die gordischen Knoten in dem bereits verworrenen Strang meines Schicksals durchschlagen konnte.
Ich wußte auch, daß durch einen seltsamen Teufelsfluch mein Leben in allem, was ich tat, von Taten beflügelt wurde, daß es in meiner Persönlichkeit etwas gab, das nur auf die
ehrfurchtgebietende Anwesenheit eines leblosen Körpers ansprach. Ein paar Tage später, begierig nach dem bestialischen Anregungsmittel, von dem die Fülle meines Daseins abhing, sprach ich mit Fenhams einzigem Totengräber und überredete ihn, mich als eine Art Lehrling einzustellen.
Der Tod meiner Mutter hatte meinen Vater sichtlich mitgenommen. Ich glaube, hätte ich den Einfall einer solch outrierten Beschäftigung zu jeder anderen Zeit vorgetragen, hätte er nachdrücklich auf Ablehnung bestanden. So aber stimmte er nach einem Augenblick der Überlegung zu. Wie wenig ließ ich mir träumen, daß er der Gegenstand meines ersten praktischen Unterrichts sein würde!
Auch er starb unerwartet, bei ihm zeigte sich ganz überraschend ein Herzleiden. Mein in den Achtzigern stehender Arbeitgeber versuchte nach besten Kräften, mich von der undenkbaren Aufgabe abzuhalten, seinen Körper
einzubalsamieren, und ihm entging das leidenschaftliche Glitzern in meinen Augen, als ich ihn schließlich zu meinem verdammenswerten Vorhaben überredete. Ich kann kaum hoffen, die abstoßenden, die unaussprechlichen Gedanken auszudrücken, die in heftigen leidenschaftlichen Wellen mein rasend pochendes Herz durchströmten, als ich mich mit dem leblosen Körper beschäftigte. Unermeßliche Liebe war der Schlüssel zu diesem Begriff der Liebe, unermeßlicher als ich sie je zu seinen Lebzeiten für ihn empfunden hatte.
Mein Vater war kein reicher Mann, doch hatte er genug weltliche Güter besessen, die ihn beneidenswert unabhängig gemacht haben. Als sein Alleinerbe befand ich mich in einer ziemlich paradoxen Lage. Meine frühe Jugend hatte mich völlig ungeeignet gemacht für den Umgang mit der modernen Welt, und doch wurde ich des primitiven Lebens in Fenham und der Isolierung, die damit einherging, überdrüssig. Tatsächlich machte die Langlebigkeit seiner Bewohner das einzige Motiv für meinen Lehrvertrag zunichte.
Nachdem die Erbschaftsangelegenheiten geregelt waren, bereitete es mir keine Schwierigkeiten, das Lehrverhältnis aufzulösen, und ich übersiedelte nach Bayboro, einer etwa fünfzig Meilen entfernten Stadt. Hier war mir mein Lehrjahr von gutem Nutzen. Ohne Schwierigkeiten gelang es mir, als Helfer eine angenehme Geschäftsverbindung mit der Gresham Corporation anzuknüpfen, dem größten Bestattungsunternehmen der Stadt. Ich bat sogar um die Erlaubnis, auf dem Betriebsgelände schlafen zu dürfen denn die Nähe zu den Toten war bereits zu einer Zwangsvorstellung geworden.
Ich widmete mich meinen Aufgaben mit ungewöhnlichem Eifer. Kein Fall war für mein ruchloses Empfinden zu grausig, und bald brachte ich es in meinem erwählten Beruf zur Meisterschaft. Mit jeder neuen Leiche, die in das
Bestattungsunternehmen eingeliefert wurde, erfüllte sich das Versprechen unseligen Wohlbehagens, respektloser
Befriedigung, erneuerte sich der verzückte Aufstand in den Adern, der meine grausige Aufgabe in liebgewordene Hingabe verwandelte - und doch forderte jede fleischliche Befriedigung ihren Preis. Allmählich begann ich die Tage zu fürchten, an denen keine Toten, über denen ich frohlocken konnte, eingeliefert wurden, und ich betete zu allen widerwärtigen Göttern der fernsten Abgründe, sie möchten raschen, sicheren Tod über die Bewohner der Stadt bringen.
Dann kamen die Nächte, da eine geduckte Gestalt sich verstohlen durch die schattigen Straßen der Vorstädte stahl, pechschwarze Nächte, da der mitternächtliche Mond von schweren, tiefhängenden Wolken verhüllt wurde. Diese versteckte Gestalt verschmolz mit den Bäumen und warf furchtsame Blicke über die Schultern, eine Gestalt, die in einer abgefeimten Aufgabe unterwegs war. Nach solch nächtlichem Umherstreifen verkündeten die Morgenzeitungen ihrer sensationshungrigen Leserschaft in großer Aufmachung die Einzelheiten eines alptraumhaften Verbrechens, Spalte um Spalte reißerisches Wühlen in gräßlichen Scheußlichkeiten; Abschnitt um Abschnitt unmögliche Lösungen und ausgefallene, einander widersprechende Vermutungen. Während dieser Vorgänge verspürte ich ein Hochgefühl von Sicherheit, denn wer würde auch nur einen Augenblick lang den Angestellten eines Bestattungsunternehmens, in dem der Tod doch augenscheinlich eine alltägliche Sache war, verdächtigen, Erleichterung von einem unaussprechlichen Zwang in der kaltblütigen Ermordung seiner Mitmenschen zu suchen? Ich plante jedes einzelne Verbrechen mit der verschlagenen Berechnung eines Verrückten und brachte genügend
Abwechslung in die Art und Weise meiner Morde, so daß sich niemand auch nur träumen lassen würde, sie wären alle das Werk ein und desselben Paares blutbefleckter Hände. Die Nachwirkungen jedes nächtlichen Unternehmens waren eine ekstatische Stunde verrückter und ungetrübter Wonnen, eine Lust, die immer durch die Möglichkeit erhöht wurde, daß ihr ergötzlicher Born später, im Zusammenhang mit meiner normalen Tätigkeit, meiner lustvollen Obhut zugeteilt werden würde. Manchmal kam es zu diesem doppelten Gipfel der Wonne - o seltene, köstliche Erinnerung!
In langen Nächten, da ich mich an den Schutz meines Zufluchtsortes klammerte, fühlte ich mich durch die Grabesstille herausgefordert, neue und unaussprechliche Arten zu ersinnen, die Toten, die ich liebte, mit meinen Gefühlsbezeugungen zu überschütten die Toten, die mir Leben gaben!
Eines Morgens kam Mr. Gresham weit früher als gewöhnlich und fand mich auf einer kalten Grabtafel ausgestreckt tief in ghulischem Schlaf, meine Arme um den kalten, steifen, nackten Körper einer stinkenden Leiche gelegt! Er weckte mich aus meinen wollüstigen Träumen, seine Augen füllten sich mit einer Mischung von Abscheu und Mitleid. Sanft, aber fest erklärte er mir, daß er mich entlassen müßte, daß meine Nerven überansprucht seien, daß ich eine lange Erholungspause von den abstoßenden Aufgaben brauchte, die mein Beruf mit sich brachte, daß meine empfängliche Jugend von der entsetzlichen Atmosphäre meiner Umwelt zu sehr in Mitleidenschaft gezogen sei. Wie wenig wußte er von dem dämonischen Verlangen, das mich zu meinem abscheulichen Tun antrieb! Ich war klug genug zu erkennen, daß dieses Argument bloß seinen Glauben an meine potentielle Verrücktheit stärken würde - es war weit besser fortzugehen, als die Entdekkung des Motives, das meinem Handeln zugrunde lag, herauszufordern.
Nach diesem Vorfall wagte ich es nicht mehr, lange an ein und derselben Stelle zu bleiben, aus Furcht, eine unvorsichtige Handlung würde mein Geheimnis vor einer mißbilligenden Welt offenlegen. Ich ließ mich von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf treiben. Ich arbeitete in Leichenschauhäusern, in der Nähe von Friedhöfen, einmal in einem Krematorium - überall, wo mir die Möglichkeit offenstand, den Toten nahe zu sein, nach denen ich so lechzte.
Dann brach der Weltkrieg aus. Ich war einer der ersten, der über den Ozean fuhr, einer der letzten, der zurückkehrte. Vier Jahre blutroter Schlachthofhölle... krankmachender Regenmorast und faulige Schützengräben... das
ohrenbetäubende Detonieren heulender Granaten... das monotone Schwirren teuflischer Gewehrkugeln... der rauchende Wahnsinn der Brunnen Phlegethons... die erstickenden Dämpfe mörderischer Gase... groteske Überreste zerschmetterter und zerfetzter Körper... vier Jahre transzendenter Befriedigung.
In jedem Wanderer steckt der latente Drang, an die Stätten seiner Kindheit zurückzukehren. Einige Monate später wanderte ich über die vertrauten Nebenstraßen von Fenham.
Leerstehende, heruntergekommene Farmhäuser säumten die Straßenränder, und die Jahre hatten für den Ort selbst einen ähnlichen Rückschritt gebracht. Nur noch eine Handvoll Häuser waren bewohnt, darunter auch das eine, das ich mein Heim genannt hatte. Die von Unkraut überwucherte, verstopfte Einfahrt, die zerbrochenen Fensterscheiben, die verwilderten Äcker, die sich hinter dem Haus erstreckten, alles bestätigte stumm das, was vorsichtige Nachforschungen zutage gefördert hatten - daß dort jetzt ein verkommener Trunkenbold wohnte, der eine kümmerliche Existenz von den wenigen Aufträgen fristete, die ihm die paar Nachbarn aus Mitgefühl für die unterdrückte Frau und das unterernährte Kind zukommen ließen, die sein Los teilten. Alles in allem war der Glanz, den meine Umgebung in der Jugend hatte, völlig verflogen. Daher lenkte ich meine Schritte, durch einen abirrenden närrischen Gedanken ausgelöst, nach Bayboro.
Auch hier hatten die Jahre Veränderungen bewirkt, aber in umgekehrter Richtung. Die Kleinstadt, an die ich mich erinnerte, hatte sich trotz ihrer Entvölkerung in der Kriegszeit beinahe verdoppelt.
Instinktiv suchte ich den früheren Ort meiner Beschäftigung auf, den ich noch immer vorfand, aber mit einem unbekannten Namen und der Bezeichnung »Nachfolger von« über der Tür, denn die Grippeepidemie hatte Mr. Gresham hinweggerafft, während die jungen Leute in Übersee waren. Eine
schicksalshafte Laune trieb mich, um Arbeit zu bitten. Ich verwies mit leichtem Zittern auf meine Ausbildung bei Mr.
Gresham, doch waren meine Befürchtungen unbegründet - mein verstorbener Arbeitgeber hatte das Geheimnis meines dem Berufsethos widersprechenden Verhaltens mit ins Grab genommen. Eine glücklicherweise offene Stelle ermöglichte es, daß ich unverzüglich eingestellt wurde.
Dann folgten flüchtige, alptraumartige Erinnerungen an Nächte unfrommer Pilgerfahrten und das unüberwindliche Verlangen, diese gesetzeswidrigen Wonnen zu erneuern. Ich ließ jede Vorsicht fahren und startete eine neue Reihe
verdammenswerter Ausschweifungen. Wieder einmal lieferten die teuflischen Einzelheiten meiner Verbrechen der Sensationspresse willkommenes Material, sie wurden mit den blutigen Wochen des Schreckens verglichen, welche die Stadt vor Jahren in Panik versetzt hatten. Wieder einmal warf die Polizei ihr Fangnetz aus und barg in den sich
zusammenziehenden Schlingen - nichts!
Mein Verlangen nach dem giftigen Nektar der Toten wuchs sich zu einem verzehrenden Feuer aus, und ich begann, die Pausen zwischen meinen abscheulichen Streifzügen zu verkürzen. Ich erkannte, daß ich mich auf gefährlichem Boden bewegte, aber eine dämonische Begierde hielt mich mit ihren quälenden Fangarmen umfaßt und trieb mich an zu weiteren Taten.
Während dieser Zeit stumpfte mein Gemüt immer mehr gegen jeden Einfluß ab, mit Ausnahme der Befriedigung meines wahnsinnigen Verlangens. Unbedeutende Einzelheiten, die für jemanden, der sich auf solche bösen Eskapaden einläßt, von lebenswichtiger Bedeutung sind, entgingen mir.
Irgendwie, irgendwo hinterließ ich eine unmerkliche Spur, einen flüchtigen Fingerzeig - nicht genug, um meine Verhaftung zu rechtfertigen, aber ausreichend, um die Flut der Verdächtigungen in meine Richtung zu lenken. Ich spürte dieses Belauern, war jedoch nicht fähig, dem wachsenden Verlangen nach mehr Toten zur Belebung meiner entkräfteten Seele Einhalt zu gebieten.
Und dann kam die Nacht, als mich der schrille Pfiff der Polizei aufschreckte, als ich mich gerade teuflisch an der Leiche meines letzten Opfers windete und ein blutiges Rasiermesser noch immer fest in der Hand hielt. Mit einer flinken Bewegung schloß ich das Rasiermesser und steckte es in die Manteltasche.
Gummiknüppel trommelten einen heftigen Rhythmus an der Tür. Ich schlug das Fenster mit einem Stuhl ein und dankte dem Schicksal, daß ich eine der billigeren Wohngegenden als Unterkunft gewählt hatte. Ich ließ mich in eine schäbige Gasse gleiten, als blauuniformierte Gestalten durch die eingeschlagene Tür drängten. Ich flüchtete über wackelige Zäune, durch schmutzige Hinterhöfe, vorbei an baufälligen Hütten, trübe beleuchtete enge Gassen entlang. Auf einmal fielen mir die bewaldeten Moore ein, die vor der Stadt lagen und sich an die fünfzig Meilen weit bis zu den Außenbezirken Fenhams erstreckten. Wenn ich dieses Ziel erreichte, war ich erstmal in Sicherheit. Vor der Morgendämmerung kämpfte ich mich hastig durch dieses abschreckende Ödland, stolperte über die verrottenden Wurzel halb abgestorbener Bäume, deren nackte Zweige sich wie groteske Arme ausstreckten und mich mit höhnischen Umarmungen zu umstricken suchten.
Die Geister der ruchlosen Götter, denen ich meine
inbrünstigen Gebete darbrachte, mußten meine Schritte durch den bedrohlichen Morast gelenkt haben. Eine Woche später -
erschöpft, durchnäßt und ausgemergelt - verbarg ich mich in den Wäldern eine Meile von Fenham entfernt. Bislang war ich meinen Verfolgern entkommen, doch wagte ich nicht, mich zu zeigen, denn ich wußte, daß die Fahndung auch im Rundfunk gelaufen sein mußte. Ich hoffte vage, daß es mir gelungen war, meine Spuren zu verwischen. Nach jener ersten Wahnsinnsnacht hörte ich keinen Klang fremder Stimmen mehr, kein Gespräch schwerer Körper, die sich durch das Unterholz kämpften.
Vielleicht war man zu dem Schluß gekommen, daß meine Leiche in irgendeinem stehenden Gewässer verborgen lag oder auf immer im Sumpf, der nichts mehr losließ, verschwunden war.
Hunger nagte schmerzhaft an meinen Eingeweiden, der Durst hatte meine Kehle ausgedörrt. Weit schlimmer jedoch war die unerträgliche Gier meiner hungrigen Seele nach dem Anreiz, den ich nur in der Nähe der Toten fand. Meine Nasenlöcher zuckten in süßer Erinnerung. Ich konnte mich nicht mehr mit dem Gedanken täuschen, daß dieses Verlangen eine bloße Laune der erhitzten Phantasie wäre. Ich wußte jetzt, daß es ein unabdingbarer Bestandteil des Lebens selbst war, daß ich ohne seine Befriedigung wie eine leere Lampe ausbrennen würde. Ich sammelte alle verbliebene Energie, um mich für die Aufgabe zu rüsten, meinen verfluchten Appetit zu befriedigen. Trotz der damit verbundenen Gefahr machte ich mich zu einer
Erkundigung auf, ich huschte wie ein abstoßendes Gespenst durch die schützenden Schatten. Wieder einmal hatte ich das seltsame Gefühl, ich würde von einem unsichtbaren
Gefolgsmann des Satans geleitet. Doch selbst meine von Sünde durchdrungene Seele revoltierte für einen Augenblick, als ich vor meiner heimatlichen Bleibe, wo ich in meiner Jugend gewohnt hatte, stand.
Dann verschwammen diese schmerzlichen Erinnerungen. An ihre Stelle trat ein überwältigendes, lusterfülltes Verlangen.
Hinter den verfallenen Wänden dieses alten Gemäuers lag meine Beute. Einen Augenblick später hatte ich eines der zerbrochenen Fenster hochgeschoben und kletterte über die Brüstung. Ich horchte einen Augenblick, alle Sinne wachsam, alle Muskeln zur Tat gespannt. Das Schweigen gab mir wieder Sicherheit.
Katzengleich stahl ich mich durch die vertrauten Räume, bis mir ein röchelndes Schnarchen verkündete, an welcher Stelle ich Erleichterung von meiner Qual finden würde. Ich erlaubte mir ein Seufzen vorweggenommener Ekstase, als ich die Tür der Schlafkammer aufstieß. Panthergleich fand ich den Weg zu der ausgestreckten Gestalt, die in trunkener Benommenheit dalag.
Die Frau und das Kind - wo waren sie? - nun, sie konnten warten. Meine gekrallten Finger tasteten nach seiner Kehle.
Stunden später war ich erneut auf der Flucht, doch verfügte ich über eine neuerlangte gestohlene Stärke. Drei stumme Gestalten schliefen den ewigen Schlaf. Erst als das grelle Tageslicht in mein Versteck drang, wurden mir die
unausweichlichen Folgen meiner so unbedacht erlangten Erleichterung klar. Bis zu dieser Zeit mußte man die Leichen entdeckt haben. Selbst die dümmsten Landpolizisten mußten die Tragödie mit meiner Flucht aus der nahen Stadt in Verbindung bringen. Außerdem war ich zum ersten Mal sorglos genug gewesen, einen greifbaren Beweis meiner Identität zu hinterlassen - meine Fingerabdrücke auf den Kehlen der gerade Ermordeten. Den ganzen Tag über zitterte ich in nervöser Vorahnung. Schon das bloße Knacken eines trockenen Zweiges unter meinem Schritt beschwor Bilder herauf, die mich in Schrekken versetzten. In jener Nacht, im Schutz der Dunkelheit, umschlich ich Fenham und brach in die Wälder auf, die auf der anderen Seite lagen. Vor Morgenanbruch kam der erste definitive Hinweis, daß die Verfolgung wieder im Gange war -
fernes Hundegebell.
Während der langen Nacht quälte ich mich weiter, aber am Morgen konnte ich spüren, wie meine künstliche Kraft verebbte.
Gegen Mittag regte sich neuerlich der hartnäckige Ruf des vergiftenden Fluches, und ich wußte, daß ich unterwegs zusammenbrechen würde, wenn nicht wieder die exotische Trunkenheit, die nur mit der Nähe der geliebten Toten kam, eintrat. Ich war in einem weiten Halbkreis gewandert. Wenn ich mich stetig weiterkämpfte, würde ich gegen Mitternacht bei dem Friedhof sein, in dem ich vor vielen Jahren meine Eltern zur letzten Ruhe gebettet hatte. Meine einzige Hoffnung, davon war ich überzeugt, lag darin, dieses Ziel zu erreichen, ehe man mich überwältigte. Mit einem schweigenden Gebet zu den Teufeln, die mein Schicksal beherrschten, wandte ich mich mit bleiernen Füßen in die Richtung meines letzten Zufluchtsortes.
Großer Gott! Waren wirklich kaum zwölf Stunden vergangen, seit ich nach meinem gespenstischen Zufluchtsort aufgebrochen war? In jeder bleiernen Stunde habe ich eine Ewigkeit durchlebt.
Doch wurde mir eine reiche Belohnung zuteil. Der ungesunde Hauch dieses verrotteten Ortes ist Weihrauch für meine Seele.
Die ersten Strahlen der Morgendämmerung färben den Horizont grau. Sie kommen! Meine scharfen Ohren fangen das ferne Heulen der Hunde auf! Es kann nur Minuten dauern, bis sie mich gefunden haben werden und mich für immer von der übrigen Welt wegschließen, auf daß ich meine Tage in rasender Sehnsucht verbringe, bis ich zuletzt mit den Toten eins werde, die ich liebe!
Sie sollen mich nicht ergreifen! Ein Fluchtweg steht mir offen! Die Wahl eines Feiglings vielleicht, aber besser - weit besser - als die endlosen Monate namenlosen Unglücks. Ich werde diese Aufzeichnung zurücklassen, damit die eine oder andere Seele vielleicht versteht, warum ich diese Wahl treffe.
Das Rasiermesser! Ich hatte es seit meiner Flucht aus Bayboro in meiner Tasche vergessen. Seine blutbefleckte Klinge glitzert merkwürdig in dem abnehmenden Licht der dünnen
Mondsichel. Nur ein klaffender Schnitt quer über mein linkes Handgelenk, und die Erlösung ist gesichert.
Warmes, frisches Blut sprenkelt groteske Muster auf schmutzige, zerbrochene Platten... phantasmagorische Horden schwärmen über die faulenden Gräber... gespenstische Finger locken mich... ätherische Bruchstücke ungeschriebener Melodien steigen im himmlischen Crescendo auf... ferne Sterne tanzen trunken zu dämonischer Begleitmusik... tausend dünne Hämmer schlagen in meinem chaotischen Gehirn entsetzliche Dissonanzen auf Ambossen an... graue Gespenster
hingemordeter Seelen ziehen in höhnendem Schweigen an mir vorbei... verbrannte Zungen unsichtbarer Flammen drücken meiner siechen Seele das Brandzeichen der Hölle auf... Ich kann
- nicht mehr schreiben...