Wentworths Tag

H. P. Lovecraft und August Derleth

Nördlich von Dunwich liegt ein fast verlassener Landstrich, der weitgehend - nachdem er nacheinander von alteingesessenen Neu-Engländern, den Frankokanadiern, die nach ihnen kamen, den Italienern und den Polen, die zuletzt kamen, bewohnt gewesen war - in einen Zustand zurückgekehrt ist, der dem wildnatürlichen gefährlich nahekommt. Die ersten Siedler rangen der steinigen Erde und den Wäldern, die einst das ganze Land bedeckten, den Lebensunterhalt ab, doch waren sie nicht sehr erfahren in der Bewahrung weder der fruchtbaren Scholle noch ihrer natürlichen Ressourcen, und nachfolgende Generationen laugten das Land noch weiter aus. Die nach ihnen kamen, streckten bald die Waffen und zogen woanders hin. Der Landstrich zählt nicht zu den Gebieten von Massachusetts, die gern von Menschen bewohnt werden. Die Häuser, die einst stolz dastanden, sind so heruntergekommen, daß in den meisten von ihnen kein bequemes Wohnen mehr möglich ist. Auf den weniger steilen Hängen stehen noch immer Farmhäuser mit Walmdächern, uralte Gebäude, die oft im Windschatten felsiger Abhänge den Geheimnissen vieler Generationen in Neu-England nachzuhängen scheinen; doch sind die Zeichen des Verfalls allenthalben erkennbar - an den zerbröckelnden Schornsteinen, den ausgebeulten Seitenmauern, den

zerbrochenen Fenstern der verlassenen Scheunen und Häuser.

Straßen führen kreuz und quer durch das Gebiet, aber sobald man einmal die Staatsautostraße verlassen hat, die durch das langgezogene Tal nördlich von Dunwich führt, findet man sich auf Seitenstraßen, die aus wenig mehr als Wagenspuren bestehen und die so wenig benutzt werden wie die meisten Häuser auf dem Land.

Auch liegt über dem Landstrich weitgehend eine Stimmung nicht allein des Alters und der Verlassenheit, sondern auch des Bösen. Es gibt Waldgebiete, in denen nie eine Axt gefallen ist, düstere, weinbewachsene Täler, wo Bächlein in einer Dunkelheit daherrieseln, die selbst am strahlendsten Tag von keinem Sonnenstrahl durchbrochen wird. Im ganzen Tal gibt es kaum ein Anzeichen von Leben, obwohl auf einigen der heruntergekommenen Farmen einsiedlerische Bewohner leben; selbst die Habichte, die hoch oben am Himmel ihre Kreise ziehen, scheinen nie lange zu verweilen, und die schwarzen Krähenschwärme überqueren bloß das Tal und lassen sich niemals nieder, um Aas oder Futter zu suchen. Einst, vor langer Zeit, stand es in dem Ruf, ein Land zu sein, in dem Hexerei - der Hexenglauben des abergläubischen Volkes - praktiziert wurde, und etwas von diesem wenig beneidenswerten Ruf hängt ihm noch immer nach.

Es ist keine Landschaft, in der man sich allzu lange aufhalten, und gewiß kein Ort, wo man des Nachts angetroffen werden möchte. Und doch war es Nacht in jenem Sommer 1927, als ich meine letzte Reise in das Tal unternahm, um einen Ofen in die Nähe von Dunwich zu liefern. Ich hätte mich nie dazu entschließen sollen, das Gebiet nördlich jener verfallenen Stadt zu durchqueren, aber ich hatte noch etwas zu erledigen, und anstatt meinem Impuls zu folgen, das Tal zu umfahren und vom anderen Ende zurückzukommen, fuhr ich am späten Nachmittag in das Tal. Dort hatte die Dämmerung, die in Dunwich noch immer vorherrschte, einer Dunkelheit Platz gemacht, die bald undurchdringlich war, denn der Himmel hatte sich völlig zugezogen, und die Wolken hingen so niedrig, daß sie beinahe die umliegenden Berge berührten, so daß ich sozusagen in einer Art Tunnel dahinfuhr. Auf der Autostraße war wenig Verkehr.

Es gab andere Straßen, die man einschlagen konnte, um Ziele zu beiden Seiten des Tals zu erreichen, und die Nebenstraßen waren hier so zugewachsen, man hatte sie buchstäblich aufgegeben, so daß sich wenige Autofahrer auf das Risiko einlassen wollten, sie zu benutzen.

Alles wäre gut gegangen, denn mein Weg führte geradewegs durch das Tal zum anderen Ausgang, und es bestand für mich keine Notwendigkeit, die Staatsstraße zu verlassen, wären nicht zwei unvorhergesehene Umstände eingetreten. Bald nachdem ich Dunwich verlassen hatte, begann es zu regnen. Der Regen hatte den ganzen Nachmittag über schwer über der Erde gehangen, und jetzt öffnete endlich der Himmel seine Schleusen, und die Flut kam herunter. Die Autostraße glitzerte im Licht meiner Scheinwerfer. Und dieser Schein fiel bald auch auf etwas anderes. Ich war vielleicht fünfzehn Meilen ins Tal hineingefahren, als mich plötzlich ein Hindernis auf der Autostraße und eine gut markierte Umleitung aufschreckten. Ich konnte erkennen, daß die Straße hinter der Absperrung so desolat war, daß man sie wahrlich nicht passieren konnte.

Ich fuhr voller düsterer Vorahnungen von der Autostraße ab.

Wenn ich bloß meinem Impuls gefolgt wäre, nach Dunwich zurückzukehren und eine andere Straße zu nehmen, wäre ich vielleicht frei von den verfluchten Alpträumen, die mir seit jener Nacht des Grauens den Schlaf verleiden! Ich tat es jedoch nicht.

Da ich schon so weit war, verspürte ich nicht den geringsten Wunsch, die Zeit zu verschwenden, welche die Rückkehr nach Dunwich kosten würde. Der Regen fiel noch immer wie ein dichter Vorhang hernieder, und das Lenken war keineswegs einfach. Nach dem Verlassen der Straße befand ich mich auf einem Weg, der nur teilweise einen Kiesbelag aufwies.

Straßenarbeiter waren hier tätig gewesen und hatten die Durchfahrt durch das Entfernen überhängender Zweige, die ein Passieren vorher fast unmöglich gemacht hatten, ein wenig erweitert, doch hatten sie wenig für die Straße selbst getan, und ich erkannte bereits nach kurzer Fahrt, daß ich in Schwierigkeiten steckte.

Der Zustand der Straße, auf der ich fuhr, verschlechterte sich in dem Regen rapid. Mein Wagen, obwohl eines der robustesten Ford-Modelle mit relativ hohen, schmalen Rädern, schnitt tiefe Rillen ein, und von Zeit zu Zeit fuhr ich spritzend durch zunehmend tiefer werdende Wasserpfützen, die den Motor zum Knattern und Stottern brachten. Ich wußte, daß es nur eine Frage der Zeit war, ehe das Wasser durch die Kühlerhaube sickern und mein Motor überhaupt absterben würde, und ich begann, nach Leben in der Gegend Ausschau zu halten oder nach einer Art von Unterstand, die mir und dem Wagen Schutz bieten konnten.

Da ich die Einsamkeit dieses abgelegenen Tals kannte, hätte ich fürwahr eine verlassene Scheune vorgezogen, doch war, um der Wahrheit die Ehre zu geben, ohne Führer unmöglich ein Gebäude auszumachen. So sah ich zu guter Letzt ein blasses Fensterquadrat aus Licht, das unweit der Straße schien, und durch eine glückliche Fügung fand ich im erlöschenden Strahl meiner Scheinwerfer die Zufahrt.

Ich bog ein, vorbei an einem Briefkasten, auf dem der Name des Besitzers unbeholfen aufgepinselt worden war. Er hob sich zunächst ab, verblaßte aber dann: Amos Stark. Der Scheinwerferkegel strich über die Fassade des Gebäudes, und ich merkte, daß es uralt war, in der Tat eines der Häuser, die aus einem Guß gemacht sind - Haus, rechtwinklig angebauter Flügel, Sommerküche, Scheune, alles in einem langen Bau unter Dächern von verschiedener Höhe. Zum Glück stand die Scheune weit offen, und da ich keinen anderen Unterstand erblickte, fuhr ich den Wagen unter dieses Dach in der Erwartung, Rinder und Pferde anzutreffen. Die Scheune sah jedoch aus, als stehe sie seit langem leer, denn es gab weder Rinder noch Pferde, und das Heu, mit dem sie gefüllt war, mußte nach seinem Geruch vergangener Sommer zu schließen mehrere Jahre alt sein.

Ich hielt mich nicht weiter in der Scheune auf, sondern eilte durch den strömenden Regen zum Haus.

Von draußen hatte es, soviel ich sehen konnte, denselben Anschein von Verlassenheit wie die Scheune.

Es war ebenerdig, der Vorderfront war eine niedrige Veranda vorgelagert, und der Fußboden dieser Veranda war, wie ich gerade noch rechtzeitig entdeckte, hier und da kaputt, mit dunklen Löchern, die anzeigten, wo einst Bretter gewesen waren.

Ich fand die Tür und trommelte an die Füllung.

Lange Zeit gab es keinen anderen Laut als das Geräusch des Regens, der auf das Verandadach und in die Pfützen, die sich im Hof gesammelt hatten, fiel. Ich klopfte wieder und erhob meine Stimme zu dem Ruf: »Ist da jemand?«

Drinnen war eine zitternde Stimme zu hören: »Wer seid Ihr?«

Ich erklärte, ich sei ein Handlungsreisender, der Obdach suchte. Das Licht begann sich zu bewegen, eine Lampe wurde ergriffen. Das Fenster wurde trüber, und die gelbe Linie unter dem Türspalt verstärkte sich. Das Geräusch von Bolzen und Ketten, die zurückgezogen wurden, waren zu hören, dann wurde geöffnet, und jemand stand in der Tür und hielt eine Lampe in die Höhe. Es war ein verrunzelter alter Mann mit einem zerzausten schütteren Bart, der seinen hageren Hals halb bedeckte.

Er trug eine Brille, spähte jedoch über ihren Rand auf mich.

Sein Haar war weiß, die Augen schwarz, und als er mich erblickte, zog er die Lippen in einer Art Raubtiergrinsen zurück und zeigte seine Zahnstummel.

»Mr. Stark?« fragte ich.

»Vom Sturm hierhergetrieben, eh?« begrüßte er mich.

»Kommen Sie sofort ins Haus und trocknen Sie sich. Glaube nicht, daß der Regen noch lang anhalten wird.«

Ich folgte ihm ins Innere, von wo er gekommen war, doch zuerst schloß und versperrte er sorgfältig die Tür hinter uns, ein Vorgang, der mich mit leichtem Unbehagen erfüllte. Er mußte meinen fragenden Blick bemerkt haben, denn sobald er die Lampe auf einem dicken Band abgesetzt hatte, der auf einem runden Tisch in der Mitte des Raumes lag, zu dem er mich führte, wandte er sich um und erklärte mit heiserem Kichern:

»Heute ist Wentworths Tag. Ich hielt Sie für Nahum.«Sein Kichern steigerte sich zu einem gespenstischen Lachen.

»Nein, Sir. Mein Name ist Fred Hadley. Ich komme aus Boston.«

»War nie in Boston«, sagte Stark. »War noch nicht mal in Arkham. Habe meine Farmarbeit, die mich hier festhält.«

»Ich hoffe, es stört Sie nicht. Ich habe mir erlaubt, meinen Wagen in Ihre Scheune zu stellen.«

»Den Kühen macht das nichts aus.« Er gackerte vor Lachen über seinen schwachen Witz, denn er wußte ganz genau, daß es in der Scheune keine Kuh gab. »Ich würde selbst keine dieser neumodischen Vorrichtungen fahren, aber ihr Stadtleute seid alle gleich. Kommt ohne Autos nicht aus..

»Ich hätte kaum gedacht, daß ich wie ein Lackaffe aus der Stadt aussehe«, erwiderte ich in dem Versuch, es ihm an Laune gleichzutun.

»Ich erkenne einen Stadtfritzen auf der Stelle - ab und zu zieht jemand in diese Gegend, aber sie ziehen auch schnell wieder fort; vermute, es gefällt ihnen hier nicht. War niemals in einer großen Stadt; glaube auch kaum, daß ich gehen möchte.«

Er brabbelte auf diese Weise eine Weile vor sich hin, daß ich imstande war, mich umzusehen und eine Bestandsaufnahme des Raumes zu machen. In jenen Jahren verbrachte ich die Zeit, die ich nicht unterwegs war, in dem Kaufhaus in Boston, und es gab wenige Kollegen, die mich beim Inventarisieren übertrafen; daher erkannte ich im Nu, daß Amos Starks Wohnzimmer mit allen möglichen Sachen vollgerammelt war, für die

Antiquitätensammler gute Preise zahlen würden. Da gab es Möbelstücke, die fast zweihundert Jahre alt waren, sofern ich etwas davon verstand, und prächtige Nippsachen, Etageren, wunderbar geblasenes Glas und auf den Borden und Etageren Haviland- Porzellan. Und es gab eine Menge alter

handgearbeiteter Werkzeuge der Neuengland-Farm vor einigen Jahrzehnten - Lichtputzscheren, Tintenfässer aus Kork auf Holzständern, Kerzenformen, eine Buchstütze, eine lederne Truthahnlockpfeife, Pechkiefer und Baumharz, Kalebassen, Stickmustertücher -, so daß eindeutig zu erkennen war, daß das Haus viele Jahre alt war.

»Wohnen Sie allein, Mr. Stark?« fragte ich, als ich ein Wort einwerfen konnte.

»Jetzt schon. Einst gab es noch Molly und Dewey. Abel lief als Kind davon und Ella starb an Lungenfieber. Ich bin jetzt schon fast sieben Jahre allein..

Selbst beim Sprechen fiel mir an ihm seine abwartende, wachsame Haltung auf. Er schien fortwährend auf ein Geräusch zu lauschen, das durch das Trommeln des Regens drang.

Abgesehen von einem leisen Knirschen einer Maus, die irgendwo in dem alten Haus nagte, war aber nichts zu hören -

nichts außer diesem Geräusch und dem unaufhörlichen Regenfall. Noch immer lauschte er, den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Augen zusammengekniffen, als blicke er in den Lampenschein, und sein Kopf glänzte an der kahlen Krone, die von einer dünnen, strähnigen Tonsur aus weißem Haar umringt war.

Er mochte achtzig Jahre alt sein, er mochte aber auch erst sechzig sein, wenn ihn seine beengte, zurückgezogene Lebensweise vorzeitig hatte altern lassen. »Sie waren allein auf der Straße?« fragte er plötzlich. »Traf auf dieser Seite von Dunwich keine Menschenseele. Siebzehn Meilen, schätze ich.«

»Eine halbe mehr oder weniger«, stimmte er zu. Dann begann er zu gackern und zu kichern, als könnte er einen Ausbruch von Heiterkeit nicht mehr unterdrücken. »Heute ist Wentworths Tag.

Nahum Wentworth,« Seine Augen verengten sich einen Moment. »Sind Sie schon lange als Handlungsreisender in dieser Gegend unterwegs? Sie müssen Nahum Wentworth gekannt haben?«

»Nein, Sir. Ich habe ihn nicht gekannt. Ich verkaufe meist in den Städten. Nur ab und zu auf dem Land..

»Beinahe jeder kannte Nahum«, fuhr er fort. »Aber keiner kannte ihn so gut wie ich. Sehen Sie das Buch?« Er deutete auf ein abgegriffenes Buch, das ich in dem schlecht beleuchteten Zimmer gerade noch ausmachen konnte. »Das da ist das Siebente Buch Mosis - darin gibt es mehr Gelehrsamkeit als in jedem anderen Buch, das ich je gesehen habe. Das dort war Nahums Buch..

Er kicherte über irgendeine Erinnerung. »Ah, dieser Nahum war schon ein merkwürdiger Kauz, kein Zweifel. Aber auch gemein und geizig. Verstehe nicht, wie Sie ihn verpassen konnten..

Ich versicherte ihm, daß ich von Nahum Wentworth nie zuvor gehört hatte, obwohl sich bei mir innerlich einige Neugierde für das Objekt, dem die Gedanken meines Gastgebers galten, regte, insofern als er häufig im Siebenten Buch Mosis gelesen hatte, das eine Art Hexenbibel war, da es angeblich alle Arten von Zaubersprüchen, Beschwörungen und Verhexungen für jene Leser enthielt, die leichtgläubig genug waren, daran zu glauben.

Ich sah im Kreis des Lampenlichts auch gewisse andere Bücher, die ich erkannte - eine Bibel, so abgenutzt wie das Lehrbuch der Magie, eine umfangreiche Ausgabe der Werke des Cotton Mather und einen gebundenen Jahrgang des Arkham Advertiser.

Vielleicht hatten auch diese Dinge einst Nahum Wentworth gehört.

»Ich sehe, daß Ihr Blick auf seinen Büchern ruht«, sagte mein Gastgeber, als hätte er wirklich meine Gedanken gelesen. »Er sagte, daß ich sie haben könne; also nahm ich sie. Wirklich gute Bücher. Ich würde sie lesen, wenn ich keine Brille brauchte. Sie dürfen sie sich jedoch gern ansehen..

Ich dankte ihm in gesetzten Worten und erinnerte ihn daran, daß er von Nahum Wentworth gesprochen hatte.

»Ach ja, dieser Nahum!« erwiderte er sofort und begann wieder zu kichern. »Ich glaube kaum, daß er mir all das Geld geborgt hätte, wenn er gewußt hätte, was mit ihm passieren würde. Nein, Sir, das glaube ich nicht. Und er hat auch nie eine schriftliche Bestätigung dafür haben wollen. Es waren fünftausend. Und er hat mir noch gesagt, er brauchte keinen Schuldschein und keine schriftliche Quittung, so gab es keinen Beweis, daß er mir das Geld je gegeben hatte, überhaupt keinen, nur wir zwei wissen es, und er hat einen Tag in fünf Jahren festgelegt, da wollte er seines Geldes und seiner Zinsen wegen kommen. Fünf Jahre, und heute ist dieser Tag, heute ist Wentworths Tag.«

Er hielt inne und warf mir einen verschlagenen Blick zu, aus Augen, die zugleich vor unterdrückter Heiterkeit tanzten und vor unterdrückter Furcht dunkel waren. »Er kann nur nicht kommen, denn in weniger als zwei Monaten nach diesem Tag wurde er auf der Jagd erschossen. Eine Schrotladung in den Hinterkopf.

Reiner Zufall. Natürlich gab es welche, die behaupteten, ich hätte es absichtlich getan, aber ich zeigte ihnen, daß sie den Mund halten sollten, denn ich fuhr nach Dunwich und ging geradewegs zur Bank und setzte mein Testament auf, so daß seiner Tochter - das ist Miss Genie - bei meinem Tod alles zufallen sollte, was ich schuldig bin. Habe auch nie ein Geheimnis daraus gemacht. Ich ließ es alle wissen, damit sie sich die Dummköpfe heißreden konnten. «

»Und das geliehene Geld?« konnte ich mich nicht enthalten zu fragen.

»Die Zeit läuft erst heute um Mitternacht ab.« Er grinste und gackerte vor Lachen. »Und es sieht nicht so aus, als könnte Nahum die Verabredung einhalten, nicht wahr? Ich denke, wenn er nicht kommt, gehört es mir. Und er kann nicht kommen. Und es ist gut, daß er nicht kommen kann, denn ich habe es nicht.«

Ich fragte nicht nach Wentworths Tochter und wie es ihr erging. Um die Wahrheit zu sagen, ich begann die Strapazen des Tages und die abendliche Fahrt im strömenden Regen zu spüren.

Und das muß für meinen Gastgeber offenkundig gewesen sein, denn er hörte zu reden auf und saß da, mich beobachtend, und sprach erst nach einer, wie es schien, sehr langen Zeit.

»Sie sehen kränklich aus. Sind Sie müde?.

»Ich denke schon. Aber ich fahre weiter, sobald sich der Sturm ein bißchen gelegt hat..

»Wissen Sie was? Nicht notwendig, daß Sie hier drinnen sitzen und meinem Geschnatter zuhören. Ich gebe Ihnen eine Lampe, und Sie können sich auf die Couch im Nebenzimmer legen. Wenn es zu regnen aufhört, rufe ich Sie..

»Ich nehme Ihnen doch nicht Ihr Bett weg, Mr. Stark?.

»Ich bleibe nachts lange auf«, sagte er.

Jeder Protest, den ich erhoben hätte, wäre vergeblich gewesen. Er war bereits aufgestanden und zündete eine Petroleumlampe an, und ein paar Augenblicke später führte er mich in das Nebenzimmer und zeigte mir die Couch. Im Vorbeigehen nahm ich das Siebente Buch Mosis, getrieben von einer Neugier, die durch Jahrzehnte beflügelt wurde, in denen ich von den mächtigen Wundern zwischen seinen Buchdeckeln hatte reden hören; obwohl er mir einen seltsamen Blick zuwarf, erhob mein Gastgeber keinen Einwand, kehrte in seinen Weiden-Schaukelstuhl im angrenzenden Zimmer zurück und ließ mich allein.

Draußen fiel der Regen noch immer in Strömen. Ich machte es mir auf der Couch bequem, einem altmodischen

lederüberzogenen Möbelstück mit hoher Kopflehne, zog die Lampe an mich heran - denn ihr Licht war äußerst schwach -

und begann im Siebenten Buch Mosis zu lesen, das, wie ich bald entdeckte, ein merkwürdiges Geschwafel von Liedern, Anrufungen und Beschwörungen solcher »Fürsten« der Jenseitswelt wie Aziel, Mephistopheles, Marbuel, Barbuel, Aniquel und anderer war.

Die Anrufungen waren von vielerlei Art: einige sollten Krankheiten heilen, andere Wünsche erfüllen, einige sollten den Erfolg von Unternehmungen herbeiführen, andere Rache auf Feinde lenken. Der Leser wurde im Text wiederholt gewarnt, wie entsetzlich einige der Worte wären, so sehr, daß ich mich, vielleicht wegen dieser Ermahnungen, gezwungen sah, die schlimmsten dieser Beschwörungen, die mir ins Auge stachen, abzuschreiben - Aila himel adonaij amara Zebaoth cadas yeseraije harlius - was nichts weniger als eine Beschwörung für die Versammlung von Teufeln oder Geistern oder die Erweckung der Toten sein sollte.

Und nachdem ich alles abgeschrieben hatte, schreckte ich nicht davor zurück, die Worte mehrmals laut auszusprechen. Ich erwartete keinen Augenblick, daß sich etwas nicht Geheures ereignen würde. Es geschah auch nichts. Daher legte ich das Buch beiseite und blickte auf meine Uhr. Elf. Es schien mir, als habe die Gewalt des Regens abgenommen, er fiel nicht mehr in Strömen; jenes Schwächerwerden, das immer das baldige Ende eines Regens ankündigt, hatte begonnen. Ich merkte mir die Einrichtung des Zimmers gut, damit ich beim Rückweg zu dem Zimmer, in dem mein Gastgeber wartete, nicht über irgendein Möbelstück stolperte, und löschte das Licht, um mich ein bißchen auszuruhen, ehe ich mich wieder auf die Straße begab.

Aber so müde ich auch war, es fiel mir schwer, Ruhe zu finden. Es lag nicht nur daran, daß die Couch, auf der ich ruhte, hart und kalt war, auch die Atmosphäre des Hauses schien bedrückend zu sein. Wie sein Besitzer verbreitete es eine Art Resignation, einen Hauch des Wartens auf das Unvermeidliche, als ob es wüßte, daß eher früher als später ihre vom Wetter zernagten Mauern sich nach außen wölben und das Dach nach innen fallen würde, um seinem zunehmend bedrohten Dasein ein Ende zu setzen.

Aber dieses hatte etwas mehr von der Atmosphäre vieler alter Häuser, eine Resignation mit einem Anflug von Vorahnung -

dieselbe Vorahnung, die den alten Amos Stark hatte zögern lassen, bevor er auf mein Klopfen reagierte. Und bald überraschte auch ich mich dabei, daß ich, wie Stark, auf das Geräusch fallender Regentropfen lauschte, das jetzt ständig abnahm, und auf das unaufhörliche Nagen von Mäusen.

Mein Gastgeber saß nicht ruhig da. Alle paar Augenblicke erhob er sich, und ich konnte ihn von einem Platz zum anderen umherschlurfen hören. Jetzt war es das Fenster, jetzt die Tür. Er ging hin, um zu überprüfen, ob sie wirklich verschlossen waren.

Dann kam er zurück und setzte sich wieder.

Manchmal murmelte er vor sich hin. Vielleicht hatte er zu lange gelebt und war in die Gewohnheit isolierter, zurückgezogener Leute verfallen, Selbstgespräche zu führen.

Was er sagte, war größtenteils unverständlich, beinahe unhörbar, aber gelegentlich drangen ein paar Worte durch, und es kam mir so vor, daß eines der Dinge, die seine Gedanken in Anspruch nahmen, die Zinsen betrafen, die für das Geld fällig waren, das er Nahum Wentworth schuldete, wenn es jetzt fällig wäre.

»Hundertfünfzig Dollar pro Jahr«, sagte er immer wieder, »läuft auf siebenfünfzig hinaus« - mit etwas wie Ehrfurcht gesprochen.

So ging es weiter, und da war noch etwas anderes, das mich mehr beunruhigte, als ich zugeben wollte.

Etwas, was der alte Mann sagte, war verstörend, wenn man es zusammenfügte; er sagte jedoch nichts davon in der richtigen Reihenfolge. »Ich fiel hin«, murmelte er, und es folgte ein Satz oder zwei voller Ungereimtheit. »Und sonst gab es da nichts.«

Wieder viele nicht unterscheidbare Worte. »Ging los - sehr rasch.« Wiederum eine Reihe sinnloser oder nicht verständlicher Wörter. »Wußte nicht, daß sie auf Nahum gerichtet war.«

Wiederum gefolgt von unverständlichem Gemurmel. Vielleicht plagte den Alten das Gewissen. Die auf dem Haus lastende Resignation reichte hin, um seine dunkelsten Gedanken auszulösen. Warum war er nicht den anderen Bewohnern des Steintals zu einer der Siedlungen gefolgt? Was war es, das ihn davon abhielt wegzugehen? Er behauptete, allein zu sein, und vermutlich war er in der Welt so allein wie in dem Haus, denn hatte er seinen irdischen Besitz nicht Nahum Wentworths Tochter vermacht? Seine Pantoffeln schlurften über die Dielen, in seinen Fingern raschelte Papier.

Draußen begannen die Ziegenmelker zu rufen, was ein Zeichen war, daß sich der Himmel teilweise aufzuklären begann, und bald betätigte sich ein ganzer Chor von ihnen, der ausgereicht hätte, einen Menschen taub zu machen. »Hört die Ziegenmelker«, vernahm ich das Murmeln meines Gastgebers.

»Sie rufen nach einer Seele. Clem Whateley liegt im Sterben.« Sowie die Stimme des Regens langsam verklang, nahmen die Stimmen der Ziegenmelker zu, und bald wurde ich schläfrig und döste ein.

Ich komme jetzt zu jenem Teil meiner Geschichte, der mich an den eigenen Sinnen zweifeln läßt, etwas, das sich, im Rückblick betrachtet, anscheinend unmöglich zugetragen haben kann. Und wirklich habe ich mich im Lauf der Jahre oftmals gefragt, ob ich nicht alles geträumt habe - und doch weiß ich, daß es kein Traum war, und ich besitze noch immer gewisse Zeitungsausschnitte, die ich als Beweis vorzeigen kann, daß ich nicht geträumt habe -Ausschnitte über Amos Stark, über seine testamentarische Verfügung an Genie Wentworth und - am merkwürdigsten von allem -über die höllische Verwüstung eines Grabes, das halbvergessen an einem Berghang in dem verfluchten Tal liegt.

Ich hatte nicht lange geschlafen, als ich aufwachte. Der Regen hatte aufgehört, aber die Stimmen der Ziegenmelker hatten sich dem Haus genähert und bildeten jetzt einen Donnerchor. Einige der Vögel saßen unmittelbar unter dem Fenster des Zimmers, in dem ich lag, und das Dach der wackligen Veranda muß mit den Nachtvögeln bedeckt gewesen sein. Ich bezweifle nicht, daß es ihr Lärmen war, das mich aus dem leichten Schlaf erweckt hatte, in den ich gesunken war. Ich lag einige Augenblicke da, um mich zu sammeln, und schickte mich dann an aufzustehen, denn da der Regen jetzt aufgehört hatte, war die Fahrt weniger gefährlich, und der Motor lief weniger Gefahr abzusterben.

Gerade aber als ich die Füße von der Couch schwang, ertönte an der Außentür ein Klopfen.

Ich saß regungslos und mucksmäuschenstill - und auch drüben im anderen Zimmer war es mucksmäuschenstill.

Wiederum klopfte es, diesmal ungeduldiger.

»Wer ist da?« rief Stark.

Es kam keine Antwort.

Ich bemerkte, daß sich das Licht bewegte, und ich hörte Starks Triumphgeschrei. »Mitternacht vorbei!« Er hatte auf seine Uhr geblickt, und zur selben Zeit blickte ich auf meine.

Seine Uhr ging zehn Minuten vor.

Er ging zur Tür.

Ich konnte feststellen, daß er die Lampe niederstellte, um die Tür zu öffnen. Ob er vorhatte, die Lampe wieder aufzunehmen, wie er es getan hatte, um mich zu mustern, kann ich nicht sagen.

Ich hörte, wie die Tür geöffnet wurde - sei es durch seine Hand oder die eines anderen.

Und dann erklang ein entsetzlicher Schrei, ein Schrei aus Amos' Kehle, in dem sich Zorn und Grauen mischten. »Nein!

Nein! Zurück! Ich habe es nicht - ich habe es nicht, ich sage es dir. Zurück!« Er stolperte nach hinten und fiel, und beinahe auf der Stelle ertönte danach ein entsetzlicher, erstickter Schrei, das Geräusch mühsamen Atemholens, ein gurgelndes Keuchen...

Ich raffte mich auf und stolperte durch den Durchgang in das Zimmer - und dann, für einen entsetzlichen Augenblick, stand ich wie angewurzelt, unfähig, mich zu bewegen, aufzuschreien, so grausig war der Anblick, der sich mir bot. Amos Stark lag auf dem Fußboden, und auf ihm saß rittlings ein verfaultes Skelett, die knochigen Arme um seinen Hals, die Finger in seine Kehle gekrallt. Und am Hinterkopf die zerschmetterten Knochen, wo eine Schrotladung hindurchgegangen war. Das alles erblickte ich in einem Augenblick des Grauens - und dann verlor ich gnädigerweise das Bewußtsein.

Als ich es ein paar Augenblicke später wiedergewann, war in dem Zimmer alles ruhig. Das Haus war mit dem frischen Moschusgeruch des Regens erfüllt, der durch die offene Eingangstür hereindrang.

Draußen schrien die Ziegenmelker noch immer, und das Licht des abnehmenden Mondes lag wie bleicher weißer Wein auf dem Boden. Die Lampe brannte noch immer im Flur, aber mein Gastgeber saß nicht in seinem Stuhl.

Er lag dort, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte, auf dem Fußboden ausgestreckt. Ich wollte nichts weiter als mich so rasch wie möglich von dem entsetzlichen Schauplatz entfernen, aber das Anstandsgefühl zwang mich, neben Amos Stark zu verharren, um mich zu vergewissern, daß ihm nicht mehr zu helfen war. Und in dieser schicksalhaften Pause kam es zur Krönung des ganzen Grauens, zu dem Grauen, das mich schreiend in die Nacht hinauslaufen ließ, um diesem Höllenpfuhl zu entkommen, als wären mir alle Dämonen der jenseitigen Gefilde auf den Fersen. Denn als ich mich über Amos Stark beugte, um mich zu vergewissern, daß er wirklich tot war, sah ich eingekrallt im verfärbten Fleisch seines Halses die gebleichten Fingerknochen eines menschlichen Skeletts, und während ich sie noch anschaute, lösten sich die einzelnen Knochen, sprangen hüpfend von der Leiche weg, den Flur entlang und hinaus in die Nacht, um sich wieder mit dem gespenstischen Besucher zu vereinen, der aus dem Grabe gekommen war, um seine Verabredung mit Amos Stark einzuhalten.