Taub, stumm und blind

C. M. Eddy jr. und H. P. Lovecraft

Am 28. Juni 1924, kurz nach Mittag, hielt Dr. Morehouse mit seinem Wagen vor dem Tanner-Besitz, und vier Männer stiegen aus. Das Steingebäude, perfekt wie neu instand gesetzt, stand gleich neben der Straße, und ohne Sumpf auf der Hinterseite hätte es keine Spur einer düsteren Andeutung gegeben.

Der makellos weiße Hauseingang über dem gepflegten Rasen war schon in einiger Entfernung von der Straße her sichtbar, und als sich die Gesellschaft des Arztes näherte, war zu erkennen, daß die schwere Eingangstür sperrangelweit offen stand. Nur die Fliegentür war geschlossen. Die Nähe des Hauses hatte den vier Männern ein nervöses Schweigen aufgezwungen, denn was darin lauerte, konnte man sich nur mit unbestimmtem Grauen ausmalen. Dieses Grauen nahm deutlich ab, als die Neugierigen das eindeutige Geräusch von Richard Blakes Schreibmaschine vernahmen.

Vor weniger als einer Stunde war ein erwachsener Mann aus dem Haus geflohen, schreiend und ohne Hut und Mantel, und war auf der Schwelle des nächsten Nachbarhauses, eine halbe Meile entfernt, zusammengebrochen. Er hatte zusammenhanglos etwas von »Haus«, »Dunkel«, »Sumpf« und »Zimmer«

gebrabbelt. Dr. Morehouse bedurfte keines weiteren Antriebs zu aufgeregtem Handeln, als er erfuhr, daß aus dem alten Tanner-Haus am Rand der Sümpfe ein Verrückter mit Schaum vor dem Mund herausgerannt war. Er hatte gewußt, daß etwas passieren würde, schon als die zwei Männer in dem verfluchten Steinhaus eingezogen waren der Mann, der geflüchtet war, und sein Herr, Richard Blake, der Schriftsteller aus Boston, das Genie, das mit wachen Nerven und Sinnen in den Krieg gezogen und in dem jetzigen Zustand zurückgekehrt war, noch immer weltmännisch, wenn auch halb gelähmt, noch immer mit voller Melodie unter den Anblicken und Tönen einer lebhaften Phantasie wandernd, wenn auch für immer von der Körperwelt ausgeschlossen, taub, stumm und blind.

Blake hatte sich in die unheimlichen Überlieferungen und grauenvollen Andeutungen über das Haus und seine früheren Bewohner versenkt. Derartige Gespenstersagen waren ein Vorzug der Phantasie, von deren Genuß ihn sein körperlicher Zustand nicht abhalten konnte. Er hatte über die Voraussagen der abergläubischen Einheimischen gelächelt. Jetzt, da sein einziger Gefährte in einer verrückten Ekstase panisch die Flucht ergriffen und ihn hilflos dem, was dieses Entsetzen ausgelöst haben mochte, zurückgelassen hatte, hatte Blake vielleicht weniger Anlaß zu schwelgen und zu lächeln! Das war zumindest Dr. Morehouses Überlegung gewesen, als er sich mit dem Problem des Davongelaufenen konfrontiert sah und sich bei der Verfolgung der Sache an die verwunderten Dorfbewohner um Hilfe wandte. Die Familie Morehouse war ein alteingesessenes Geschlecht aus Fenham, und der Großvater des Arztes hatte zu denen gehört, die die Leiche des Einsiedlers Simeon Tanner 1819 verbrannten. Selbst nach so langer Zeit konnte der ausgebildete Arzt nicht verhindern, daß es ihm kalt den Rücken hinunterlief, wenn er daran dachte, was man sich über diese Verbrennung erzählte - über die naiven Schlußfolgerungen, die ungebildete Landbewohner aus einer winzigen und

bedeutungslosen Entstellung des Toten zogen. Er wußte, daß das Gruseln närrisch war, denn leicht hervortretende Knochen auf der Stirnseite des Schädels haben nichts zu bedeuten und sind bei Glatzköpfigen ziemlich häufig zu beobachten.

Unter den vier Männern, die schließlich mit entschlossenen Mienen im Wagen des Arztes zu dem verhaßten Haus

aufbrachen, wurden besonders ehrfürchtig vage Sagen und ziemlich hinterhältige Bruchstücke von Dorfklatsch, die von neugierigen Großmüttern überliefert worden waren,

ausgetauscht - Sagen und Gerüchte, die selten wiederholt und beinahe nie systematisch verglichen wurden. Sie reichten bis in das Jahr 1692 zurück, als ein Tanner auf dem Galgenberg in Salem nach einem Hexenprozeß hingerichtet worden war, wurden aber erst ausführlicher zu jener Zeit, da das Haus errichtet wurde - 1747 -, doch war der querliegende Anbau jüngeren Datums. Selbst dann waren die Geschichten nicht sehr zahlreich, denn so seltsam die Tanners auch alle waren, erst der letzte von ihnen, der alte Simeon, wurde von den Leuten sehr gefürchtet. Er trug zu dem Ererbten bei - etwas Entsetzliches, flüsterten alle - und mauerte die Fenster des südöstlichen Zimmers zu, dessen Ostwand auf den Sumpf hinausschaute.

Dieser Raum diente als Arbeitszimmer und Bibliothek, und er wies eine Tür von doppelter Dicke mit Verstärkungen auf. Man hatte sie in jenem schrecklichen Winter 1819 mit Äxten eingeschlagen, als stinkender Rauch aus dem Schornstein qualmte. Drinnen fand man Tanners Leiche - mit jenem Gesichtsausdruck. Wegen dieses Ausdrucks - und nicht wegen der zwei knospenden Knochen unter dem buschigen weißen Haar - hatte man die Leiche und die Bücher und Manuskripte, die in diesem Raum aufbewahrt worden waren, verbrannt.

Die kurze Entfernung zu dem Tanner-Haus war jedoch schon zurückgelegt, ehe noch wichtige historische Angelegenheiten geklärt werden konnten.

Als der Arzt, als Anführer der Gruppe, die Fliegentür öffnete und den gewölbten Eingang betrat, fiel auf, daß das Geräusch der Schreibmaschine plötzlich verstummte. An diesem Punkt glaubten zwei der Männer auch einen schwachen Hauch kalter Luft bemerkt zu haben - was sich mit der großen Hitze jenes Tages überhaupt nicht vereinbaren lassen wollte -, auch wenn sie sich später weigerten, es zu beschwören. Der Flur befand sich in vollkommener Ordnung, ebenso die verschiedenen Räume, die sie auf der Suche nach dem Arbeitszimmer betraten, in dem Blake vermutlich zu finden war. Der Schriftsteller hatte sein Haus mit erlesenem Geschmack im Kolonialstil

eingerichtet, und obwohl er außer einem Diener keine weiteren Bediensteten hatte, war es ihm gelungen, es in einem Zustand lobenswerter Sauberkeit zu halten.

Dr. Morehouse führte seine Männer von Zimmer zu Zimmer durch die weit offenen Türen und Durchgänge, bis er schließlich die Bibliothek oder das Arbeitszimmer fand, das er suchte -

einen prächtigen, nach Süden gelegenen Raum im Erdgeschoß, der an das einst gefürchtete Arbeitszimmer von Simeon Tanner anschloß, bis zur Decke mit Büchern vollgestellt, die der Diener nach einem einfallsreichen Tastsinn-Arrangement aufgestellt hatte, und die umfangreichen Braille-Bände, die der Schriftsteller selbst mit empfindsamen Fingerspitzen las.

Richard Blake war natürlich da, er saß wie gewöhnlich vor seiner Schreibmaschine, auf Tisch und Fußboden ein vom Luftzug verstreuter Stoß frischgeschriebener Seiten, ein Blatt noch immer in der Maschine eingespannt. Er hatte ziemlich plötzlich zu arbeiten aufgehört, schien es, vielleicht infolge eines kalten Luftzugs, der ihn veranlaßt hatte, den Kragen seines Schlafrocks hochzuziehen, und sein Kopf war dem Eingang des angrenzenden sonnigen Raums in einer Art und Weise zugewandt, die ganz der eines Menschen entsprach, dessen Mangel an Sehvermögen und Gehör jede Empfindung der Außenwelt ausschließt.

Als Dr. Morehouse sich dem Schriftsteller soweit genähert hatte, daß er ihm ins Gesicht sehen konnte, erbleichte er und bedeutete den anderen, stehenzubleiben. Er brauchte Zeit, um sich zu fassen und jede Möglichkeit einer entsetzlichen Illusion zu zerstreuen. Er brauchte keine Vermutungen mehr anzustellen, warum man die Leiche des alten Simeon Tanner in jener Winternacht wegen ihres Gesichtsausdruckes verbrannt hatte, denn da war etwas, dem sich nur ein gut diszipliniertes Gemüt stellen konnte. Der verstorbene Richard Blake, dessen Schreibmaschine ihr unbekümmertes Klappern erst eingestellt hatte, als die Männer das Haus betraten, hatte trotz seiner Blindheit etwas gesehen, und das hatte Auswirkungen auf ihn gehabt. Der Ausdruck in seinem Gesicht hatte nichts Menschliches an sich, und auch nicht die glasige, düstere Vision, die in den großen, blauen, blutunterlaufenen Augen brannte, die seit sechs Jahren für die Bilder der Welt verschlossen gewesen waren. Diese Augen waren in einer Ekstase klarsichtigen Grauens auf den Durchgang gerichtet, der in Simeon Tanners altes Arbeitszimmer führte, wo die Sonne auf Mauern brannte, die einst in eingemauerte Dunkelheit gehüllt waren. Und Dr. Morehouse wich schwindelnd zurück, als er erkannte, daß ungeachtet des blendenden Tageslichts die tintigen Pupillen dieser Augen so höhlenhaft erweitert waren wie die einer Katze im Dunkeln.

Der Arzt schloß die starrenden blinden Augen, ehe er gestattete, daß die anderen das Gesicht des Leichnams betrachteten. Unterdessen untersuchte er den leblosen Körper mit fiebrigem Eifer, wobei er sich - trotz seiner vibrierenden Nerven und seiner beinahe zitternden Hände - einer peniblen ärztlichen Sorgfalt befleißigte. Einige seiner Ergebnisse teilte er von Zeit zu Zeit den drei beeindruckten und neugierigen Männern, die um ihn herum standen, mit. Andere Ergebnisse hielt er sorgsam zurück, damit sie nicht zu Spekulationen Anlaß gaben, die beunruhigender waren, als es menschliche Überlegungen sein sollten. Es war auch nicht auf ein Wort von ihm zurückzuführen, sondern auf intelligente unabhängige Beobachtung, daß sich einer der Männer über das zerzauste schwarze Haar der Leiche und die Art, wie die Papiere zerstreut waren, Gedanken zu machen begann.

Dieser Mann sagte, es wäre, als hätte eine starke Brise durch den offenen Eingang geblasen, zu dem der Tote geblickt hatte, wohingegen, auch wenn die einst zugemauerten Fenster die warme Juni-Luft völlig ungehindert hereinließen, sich während des ganzen Tages kaum ein Lüftchen geregt hatte. Als einer der Männer die Blätter des auf dem Tisch und dem Fußboden verstreuten frisch geschriebenen Manuskripts einsammeln wollte, gebot ihm Dr. Morehouse mit besorgter Geste Einhalt.

Er hatte das Blatt gesehen, das noch in der Maschine steckte, zog es hastig heraus und steckte es ein, nachdem ihn ein Satz oder zwei erneut hatten erblassen lassen. Dieser Vorfall veranlaßte ihn, die verstreuten Blätter selbst einzusammeln und sie, wie sie waren, in die Innentasche zu stopfen, ohne sich die Mühe zu machen, sie richtig zu ordnen. Und nicht einmal das Gelesene erschreckte ihn halb so sehr wie das, was.ihm aufgefallen war - der kaum merkliche Unterschied in Druck und Stärke der Schreibmaschinenschrift, durch die sich die Blätter, die er aufgelesen hatte, von dem unterschieden, das er in der Schreibmaschine gefunden hatte. Diese schattenhaften Eindrücke waren für ihn untrennbar verbunden mit jenem anderen entsetzlichen Umstand, den er so eifrig vor den Männern verbarg, die vor kaum zehn Minuten noch das Klappern der Schreibmaschine gehört hatten - jenem Umstand, den er selbst aus dem eigenen Geist zu verdrängen suchte, bis er allein sein und in den gnädigen Tiefen seines Morris-Stuhls ruhen konnte. Man mag die Furcht, die er über diesen Umstand empfand, abschätzen, wenn man bedenkt, was er riskierte, wenn er ihn unterdrückte. In seiner mehr als dreißigjährigen ärztlichen Praxis hatte er sich von der Ansicht leiten lassen, daß ein Amtsarzt keinerlei Tatsache unterdrücken dürfe. Und doch erfuhr bei all den Formalitäten der Folgezeit nie jemand, daß er, als er diesen starrenden, deformierten Leichnam des Blinden untersuchte, sofort erkannt hatte, daß der Tod mindestens eine halbe Stunde vor Entdeckung der Leiche eingetreten sein mußte, Schließlich schloß Dr. Morehouse die Außentür und führte die Gruppe durch jeden Winkel des uralten Gemäuers auf der Suche nach Beweisen, welche die Tragödie erhellen mochten. Aber niemals war ein Ergebnis negativer als dieses. Er wußte, daß man die Falltür des alten Simeon Tanner entfernt hatte, sobald die Bücher und die Leiche dieses Einsiedlers verbrannt und der Keller darunter und der gewundene Tunnel unter dem Sumpf gleich nach ihrer Entdeckung, rund fünfunddreißig Jahre später, zugeschüttet worden waren. Jetzt erkannte er, daß keine neuen Abnormitäten an ihre Stelle getreten waren. Das ganze Gebäude zeigte bloß den normalen Zustand einer modernen, mit Geschmack und Sorgfalt durchgeführten Restaurierung.

Nachdem er den Sheriff in Fenham angerufen hatte, daß der Amtsarzt des Bezirkes Bayboro kommen möge, wartete er auf das Erscheinen des Sheriffs, der nach seiner Ankunft darauf bestand, zwei der Männer als Hilfssheriffs zu vereidigen, bis der Arzt gekommen war. In Kenntnis des Rätsels und der vergeblichen Anstrengungen, die auf die Beamten warteten, mußte Dr. Morehouse unwillkürlich trocken lächeln, als er mit dem Dorfbewohner aufbrach, in dessen Haus der Geflüchtete Zuflucht gefunden hatte.

Sie fanden den Patienten außerordentlich schwach, aber bei Bewußtsein und ziemlich gefaßt. Da er dem Sheriff versprochen hatte, dem Flüchtling jede mögliche Auskunft zu entlocken und sie an ihn weiterzuleiten, begann Dr. Morehouse mit einem ruhigen und taktvollen Verhör, das in einem rationalen und entgegenkommenden Geist aufgenommen und nur durch die Schwäche der Erinnerung beeinträchtigt wurde. Die Ruhe des Mannes mußte zum Großteil von der gnadenvollen Unfähigkeit stammen, sich zu erinnern, denn er konnte jetzt nur berichten, daß er mit seinem Herrn im Arbeitszimmer gewesen war und gesehen zu haben glaubte, daß es im Nebenzimmer plötzlich dunkel geworden war, in dem Raum, in dem seit mehr als hundert Jahren das Sonnenlicht die Düsternis der vermauerten Fenster ersetzt hatte. Und selbst diese Erinnerung, die er wirklich halb in Zweifel stellte, wühlte die überreizten Nerven des Patienten im höchsten Maße auf. Mit größtmöglicher Freundlichkeit und Behutsamkeit teilte ihm Dr. Morehouse mit, daß sein Herr tot war - ein natürliches Opfer der Herzschwäche, die seine entsetzlichen Kriegsverletzungen verursacht haben mußten. Der Mann grämte sich darüber, denn er war dem behinderten Schriftsteller sehr ergeben gewesen; aber er versprach mit innerer Stärke, die Leiche nach Abschluß der amtlichen Totenbeschau zur Familie nach Boston zu begleiten.

Der Arzt fuhr mit ständig wachsender Erregung nach Hause, nachdem er die Neugier des Hausbewohners und seiner Frau so beiläufig wie nur möglich befriedigt und sie gedrängt hatte, dem Patienten Obdach zu gewähren und ihn vom Tanner-Haus bis zu seiner Abreise mit der Leiche fernzuhalten. Endlich hatte er Zeit, das maschinenschriftliche Manuskript des Toten zu lesen und zumindest eine Ahnung davon zu gewinnen, welch höllisches Wesen den zerschmetterten Sinnen von Sicht und Gehör getrotzt hatte und auf so katastrophale Weise zu der zarten Intelligenz vorgedrungen war, die in ewiger Dunkelheit und ewigem Schweigen vor sich hinbrütete. Er wußte, es würde eine groteske und entsetzliche Lektüre werden, und beeilte sich nicht, damit zu beginnen. Vielmehr stellte er den Wagen in die Garage, machte es sich im Schlafrock bequem und stellte ein Tischchen mit Beruhigungs- und Belebungsmitteln neben den gewaltigen Stuhl, den er einzunehmen gedachte. Selbst dann noch verschwendete er die Zeit, indem er die numerierten Seiten langsam ordnete und es sorgfältig vermied, einen genauen Blick auf den Text zu werfen.

Wir wissen alle, wie das Manuskript auf Dr. Morehouse wirkte. Keine andere Seele hätte es gelesen, wenn nicht seine Frau es in die Hand genommen hätte, als er eine Stunde später bewegungslos in seinem Sessel lag, schwer atmete und nicht auf ein Klopfen reagierte, das man für heftig genug halten konnte, einen mumifizierten Pharao zu erwecken. So entsetzlich das Dokument ist, besonders, was den offensichtlichen Stilbruch gegen Ende betrifft, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es für den volksvertrauten Arzt ein zusätzliches höchstes Grauen bedeutete, das zum Glück keinem anderen je zuteil werden wird. Gewiß meint man in Fenham allgemein, daß die tiefe Vertrautheit des Arztes mit dem Gebrabbel alter Leute und den Geschichten, die ihm sein Großvater in der Jugend erzählte, ihm eine besondere Kenntnis vermittelte, in deren Licht Richard Blakes entsetzliche Chronik eine neue, klare und erschütternde Bedeutung erlangt, die für das normale Menschengemüt beinahe unerträglich ist. Das erklärt Morehouses langsame Wiederherstellung an jenem Juni-Abend, den Widerwillen, mit dem er seiner Frau und seinem Sohn gestattete, das Manuskript zu lesen, die besondere Übellaunigkeit, mit der er sich ihrer Entschlossenheit fügte, dieses Dokument, das so bemerkenswert war, nicht zu verbrennen. Und es erklärt vor allem die eigentümliche Eile, mit der er sich anschickte, den alten Tanner-Besitz zu erwerben, das Haus mit Dynamit in die Luft zu sprengen und die Bäume des Sumpfes bis in beträchtliche Entfernung zur Straße fällen zu lassen. Der ganzen Sache gegenüber bewahrt er jetzt eine unbeugsame Zurückhaltung, und es ist ziemlich sicher, daß mit ihm ein Wissen stirbt, ohne das die Welt besser dasteht.

Das Manuskript, das hier folgt, wurde freundlicherweise von Floyd Morehouse, Esq., dem Sohn des Arztes, abgeschrieben.

Einige durch Sternchen markierte Auslassungen sind im Interesse des öffentlichen Seelenfriedens vorgenommen worden; an anderen Stellen ergeben sich Lücken infolge der Unbestimmtheit des Textes, dort wo das blitzschnelle Blindschreiben des betroffenen Autors Unzusammenhängendes oder Mißverständliches hervorgebracht hat. An drei Stellen, wo die Lücken durch den Zusammenhang ziemlich gut erhellt werden, hat man versucht, sie zu ergänzen. Was den Stilbruch gegen Schluß angeht, bewahrt man darüber besser

Stillschweigen. Gewiß erscheint es glaubhaft genug, diese Erscheinung, sowohl was den Gehalt und den physischen Aspekt des Tippens angeht, dem gemarterten und verfallenden Geist eines Opfers zuzuschreiben, dessen frühere

Behinderungen angesichts der neuen Herausforderung zu Nichts verblaßten. Kühnere Geister mögen nach Belieben ihre eigenen Schlüsse ziehen.

Hier also ist das Dokument, geschrieben in einem verfluchten Haus von einem Gehirn, dem der Anblick und die Töne der Welt verschlossen waren - ein Gehirn, das allein und ungewarnt dem Mitleid und dem Spott der Mächte ausgeliefert war, denen kein sehender und hörender Mensch sich je ausgesetzt fand. Da es allem widerspricht, was wir mittels Physik, Chemie und Biologie vom Universum wissen, wird es der logische Verstand als ein eigentümliches Produkt von Dementia halten - eine Demenz, die sich auf gnädige Weise dem Manne bemerkbar machte, der rechtzeitig aus dem Haus fliehen konnte. Und dafür mag man es durchaus halten, solange Dr. Morehouse nicht sein Schweigen bricht.

Vage Befürchtungen über die letzte Viertelstunde werden jetzt zu konkreten Ängsten. Um damit anzufangen, ich bin fest davon überzeugt, daß mit Dobbs etwas passiert sein muß. Zum ersten Mal, seit wir zusammen sind, ist er auf meinen Ruf nicht gekommen. Als er auf mein wiederholtes Läuten nicht reagierte, kam ich zu dem Schluß daß die Glocke defekt sein muß, doch habe ich so heftig auf den Tisch getrommelt, daß auch ein Schutzbefohlener Charons wach geworden wäre. Zunächst glaubte ich, er habe sich aus dem Haus geschlichen, um frische Luft zu schnappen, denn es war den ganzen Vormittag heiß und schwül, aber es sieht Dobbs überhaupt nicht ähnlich, so lange fortzubleiben, ohne sich zuerst zu vergewissern, daß ich nichts brauche. Der ungewöhnliche Vorfall in den letzten Minuten bestätigt jedoch meinen Verdacht, daß Dobbs nicht aus freiem Willen unauffindbar ist. Dasselbe Ereignis veranlaßt mich auch, meine Eindrücke und Vermutungen dem Papier anzuvertrauen in der Hoffnung, daß der bloße Akt des Aufzeichnens die düstere Ahnung einer bevorstehenden Tragödie zerstreut. So sehr ich mich auch bemühe, ich komme nicht von den Sagen los, die mit diesem alten Haus verknüpft sind - reiner

abergläubischer Firlefanz, in dem Pygmäenhirne schwelgen mögen, und auf den ich keine Gedanken verschwenden würde, wäre Dobbs hier.

In all den Jahren, da ich von der mir vertrauten Welt abgeschnitten war, war Dobbs mein sechster Sinn. Nunmehr, zum ersten Mal seit meiner Krankheit, erkenne ich das volle Ausmaß meiner Ohnmacht. Dobbs hatte meine blinden Augen, meine nutzlosen Ohren, meine stimmlose Kehle und meine verkrüppelten Beine wettgemacht. Auf meinem

Schreibmaschinentischchen steht ein Glas Wasser. Ohne Dobbs, der es füllt, sobald es geleert ist, wird meine Qual der des Tantalus gleich.

Wenige sind zu diesem Haus gekommen, seit wir hier leben -

es gibt kaum Berührungspunkte zwischen händelsüchtigen Landbewohnern und einem Gelähmten, der nicht sehen, nicht hören und nicht zu ihnen sprechen kann -Tage mögen vergehen, ehe jemand erscheint. Allein... nur in Gesellschaft meiner Gedanken, beunruhigenden Gedanken, die die Wahrnehmungen der letzten Minuten in keiner Weise beschwichtigen können.

Mir gefallen diese Empfindungen auch nicht, denn immer stärker verwandeln sie reinen Dorfklatsch in phantastische Bilder, die meine Gefühle auf eigenartige und beinahe beispiellose Art und Weise beeinflussen.

Stunden scheinen vergangen zu sein, seit ich begonnen habe, das niederzuschreiben, aber ich weiß, daß es nur ein paar Minuten sein können, denn ich habe eben dieses neue Blatt in die Maschine eingespannt. Die mechanische Handlung, die Blätter auszutauschen, so kurz sie auch dauert, hat mir wieder Gewalt über mich selbst gegeben. Vielleicht kann ich dieses Gefühl einer näher kommenden Gefahr lang genug abschütteln, um zu schildern, was sich bisher ereignet hat.

Zunächst war es nichts weiter als ein Zittern, ähnlich etwa dem Erzittern eines billigen Wohnhausblocks, wenn ein schwerer Lastwagen in der Nähe vorbeidonnert - das hier ist jedoch kein schlampig errichteter Skelettbau. Vielleicht bin ich für derlei allzu empfänglich und möglicherweise spielt mir die Einbildung einen Streich, aber mir war so, als sei die Erschütterung unmittelbar vor mir weit ausgeprägter gewesen -

und mein Stuhl steht in Richtung des südöstlichen Flügels; von der Straße ausgehend in einer direkten Linie bis zum Sumpf am Ende des Grundstücks! Vielleicht war es nur eine Einbildung, aber das Folgende läßt sich nicht leugnen. Mich erinnerte es an Augenblicke, wo ich gespürt habe, wie der Boden unter meinen Füßen von der Explosion riesiger Granaten erzitterte, an Zeiten, da ich gesehen habe, daß Schiffe wie Strohhalme von der Gewalt eines Taifuns hin und her geworfen wurden. Das Haus wurde geschüttelt wie Zunder in den Sieben Niefelheims. Jedes Dielenbrett unter meinen Füßen erzitterte wie ein leidendes Wesen. Meine Schreibmaschine bebte, bis ich mir vorstellte, daß die Typen vor Furcht klapperten.

Ein kurzer Augenblick, und alles war vorüber. Alles ist so ruhig wie zuvor. Allzu ruhig! Es scheint unmöglich zu sein, daß sich so etwas ereignen kann und daß alles genauso bleibt wie zuvor. Nein, nicht genau - ich bin ganz sicher, daß Dobbs etwas zugestoßen ist. Es ist diese Gewißheit, gekoppelt mit einer unnatürlichen Ruhe, welche die ahnungsvolle Furcht verstärkt, die an mir hochkriecht.

Furcht? Ja - obwohl ich vernünftig zu überlegen suche, daß es nichts gibt, vor dem man sich fürchten müßte. Die Kritiker haben meine Dichtung wegen etwas, was sie eine lebhafte Phantasie nennen, sowohl gelobt wie verurteilt. In Zeiten wie jetzt stimme ich voll und ganz mit jenen überein, die »zu lebhaft« schreien. Nichts kann sehr aus dem Lot sein oder...

Rauch! Nur eine schwache Spur von Schwefel, aber eine, die für meine empfindlichen Nasenlöcher unverkennbar ist. So schwach, fürwahr, daß es mir unmöglich ist festzustellen, ob sie von einem Teil des Hauses ausgeht oder durch das Fenster des angrenzenden Raumes, der sich zum Sumpf hinaus öffnet, hereintreibt. Der Eindruck verstärkt sich. Ich bin mir jetzt sicher, daß sie nicht von außen kommt. Wechselnde Visionen der Vergangenheit, düstere Szenerien früherer Tage blitzen im dreidimensionalen Überblick vor meinem geistigen Auge auf.

Eine in Flammen stehende Fabrik... hysterische Schreie erschrockener Frauen, die von Feuerwänden eingeschlossen sind; eine brennende Schule... mitleiderregendes Geschrei hilfloser Kinder, die von eingestürzten Treppen gefangen sind, ein Theaterbrand... ein rasendes Babel panikerfüllter Leute, die sich über glühendheiße Fußböden ins Freie kämpfen und, vor allem, undurchdringliche Wolken schwarzen, giftigen, bösartigen Rauchs, der den friedlichen Himmel vergiftet. Die Luft im Zimmer ist mit dicken, schweren, erstickenden Wellen gesättigt... jeden Augenblick erwarte ich zu spüren, wie heiße Flammenzungen begierig an meinen nutzlosen Beinen lecken...

die Augen schmerzen... die Ohren sausen... Ich huste und spucke, um meine Lungen von den erstickenden Dämpfen frei zu bekommen... ein derartiger Rauch entsteht nur im Gefolge entsetzlicher Katastrophen, stechender, stinkender, verpesteter Rauch, durchsetzt von widerlichem Geruch brennenden Fleisches.

Wieder einmal bin ich allein mit dieser unheilverkündenden Ruhe. Die willkommene Brise, die über meine Wangen streicht, stellt meinen dahingeschwundenen Mut sehr rasch wieder her.

Das Haus kann eindeutig nicht in Flammen stehen, denn auch der letzte Rest des marternden Rauchs hat sich verzogen. Ich merke nicht mehr die geringste Spur davon, obwohl ich die Luft wie ein Bluthund geschnüffelt habe. Ich frage mich allmählich, ob ich verrückt werde, ob die Jahre der Einsamkeit in meinem Gemüt eine Schraube haben locker werden lassen - aber die Erscheinung war zu bestimmt, als daß ich sie als bloße Halluzination abtun könnte. Geistig gesund oder verrückt, ich kann mir diese Dinge nicht anders als konkret vorstellen - und in dem Augenblick, da ich sie einordne, bleibt mir nur eine einzige logische Schlußfolgerung. Die Indizien an sich reichten aus, um die geistige Stabilität zu gefährden. Räumt man das ein, so heißt das, die Wahrheit der abergläubischen Gerüchte einzubekennen, die Dobbs unter den Dorfbewohnern gesammelt und in Blindenschrift aufgezeichnet hat, so daß ich sie mit den empfindsamen Fingerspitzen lesen kann - immaterielles Hörensagen, das mein materialistischer Verstand instinktiv als Dummheit abtut!

Ich wünschte, das Dröhnen in meinen Ohren hörte auf! Es ist, als würden verrückte Gespensterspieler ein Duett auf den schmerzenden Trommelfellen schlagen. Ich vermute, es handelt sich bloß um eine Reaktion auf das Gefühl des Erstickens, das ich gerade durchgemacht habe. Noch ein paar Züge dieser erfrischenden Luft...

Etwas - jemand ist im Zimmer! Ich bin mir so sicher, daß ich nicht mehr allein bin, als könnte ich die Anwesenheit sehen, die ich so unmißverständlich verspüre. Es ist ein Eindruck, der sehr dem ähnelt, den ich hatte, als ich mir mit den Ellbogen den Weg durch eine bevölkerte Straße bahnte - die entschiedene Vorstellung, daß Augen mich vom übrigen Getriebe mit einem Blick aussonderten, der intensiv genug war, um meine unbewußte Aufmerksamkeit zu erregen - dieselbe Empfindung, nur tausendfach vergrößert. Wer was - kann das sein? Meine Befürchtungen sind vielleicht grundlos, vielleicht bedeutet es nur, daß Dobbs zurückgekehrt ist. Nein... es ist nicht Dobbs.

Wie erwartet, hat das Trommeln in meinen Ohren aufgehört und ein leises Flüstern erregt meine Aufmerksamkeit... die überwältigende Bedeutung des Wesens ist gerade zu meinem verblüfften Gehirn durchgedrungen... Ich kann hören!

Es handelt sich nicht um eine einzelne flüsternde Stimme, sondern um viele...! Ein wollüstiges Summen bestialischer Schmeißfliegen... satanisches Schwirren geiler Bienen...

zischendes Spukken obszöner Reptilien... ein flüsternder Chor, wie ihn keine Menschenseele singen könnte! Er nimmt an Lautstärke zu... der Raum hallt wider von dämonischem Singsang; unmelodiös, tonlos und grotesk, grimmig... ein teuflischer Chor, der unheilige Litaneien einübt... Lobgesänge mephistophelischen Unglücks, in die Musik klagender Seelen gesetzt... ein entsetzliches Crescendo heidnischen Pandämoniums...

Die Stimmen, die mich umgeben, nähern sich meinem Stuhl.

Der Singsang hat urplötzlich aufgehört und das Flüstern hat sich in verstehbare Töne aufgelöst. Ich strenge meine Ohren an, um die Wörter zu unterscheiden. Näher... und noch näher. Sie sind jetzt klar und deutlich - klar! Es wäre besser gewesen, meine Ohren wären auf ewig geschlossen geblieben als gezwungen, diesen höllischen Manifestationen zu lauschen...

Ruchlose Enthüllungen seelenzermürbender Saturnalien...

ghulische Vorstellungen von vernichtenden Ausschweifungen...

profane Bestechungen kabirianischer Orgien... böswillige Drohungen unvorstellbarer Strafen...

Es ist kalt. Kälter als es der Jahreszeit entspricht! Wie von den kakodämonischen Wesen befeuert, die mich belästigen, grollt die Brise, die vor wenigen Minuten so freundlich strich, mir zornig um die Ohren - ein eisiger Windstoß, der vom Sumpf hereinströmt und mich bis auf die Knochen frieren läßt.

Wenn mich Dobbs verlassen hat, bin ich ihm deswegen nicht böse. Ich breche keine Lanze für Feigheit oder ängstliche Furcht, aber es gibt Dinge... Ich hoffe, sein Schicksal war nicht schlimmer, als daß er sich rechtzeitig abgesetzt hat!

Mein letzter Zweifel wird hinweggeschwemmt. Ich bin jetzt doppelt froh, daß ich meinem Entschluß gefolgt bin, meine Eindrücke niederzuschreiben... nicht daß ich erwarte, daß mich jemand versteht... oder mir gar glaubt... es war eine Erholung von der in den Wahnsinn treibenden Belastung, müßig auf jede neue Ausprägung psychischer Abnormität zu warten. Wie ich es sehe, gibt es nur drei Wege, die man einschlagen kann: von diesem verfluchten Ort zu fliehen und die peinvollen Jahre, die in der Zukunft liegen, beim Versuch zuzubringen, alles zu vergessen - fliehen jedoch kann ich nicht; sich einer abscheulichen Verbindung mit Mächten auszuliefern, die so bösartig sind, daß für sie selbst der Tartarus nur als eine Nische des Paradieses erschiene - aber fügen will ich mich nicht; zu sterben - weit lieber wäre es mir, mein Leib würde von Kopf bis Fuß entzweigerissen, denn ich würde meine Seele im barbarischen Handel mit dem Gesandten Belials vergiften...

Ich mußte für einen Augenblick innehalten, um mir auf die Finger zu blasen. Der Raum ist kalt, von der stinkenden Eiseskälte des Grabens... eine friedliche Benommenheit überkommt mich... ich muß diese Lähmung bekämpfen; sie untergräbt meine Entschlossenheit, eher zu sterben als den hinterlistigen Einflüsterungen nachzugeben... Ich gelobe mir erneut, bis zum Ende Widerstand zu leisten... ein Ende, das nicht mehr fern sein kann, wie ich weiß...

Der Wind ist kälter als je zuvor, als wäre so etwas möglich...

ein Wind, beladen mit dem Gestank totlebendiger Wesen... 0

barmherziger Gott, der Du mir das Augenlicht genommen hast!... ein Wind, so kalt, daß er verbrennt, wo er erfrieren lassen sollte... er ist zum glühendheißen Schirokko geworden...

Unsichtbare Finger halten mich gefaßt... Geisterfinger, denen es an der körperlichen Kraft fehlt, mich von meiner Schreibmaschine wegzuzerren... Eisesfinger, die mich in einen faulen Wirbel des Lasters zwingen... Teufelsfinger, die mich hinunter in einen Strudel ewiger Niedertracht reißen... tote Finger, die mir den Atem abschneiden und meinen blinden Augen das Gefühl geben, daß sie vor Schmerz zerplatzen...

gefrorene Punkte drücken sich in meine Schläfen... harte, knochige Knöpfe, die Hörnern ähneln... der stürmische Atem eines seit langem toten Wesens küßt meine fiebrigen Lippen und versengt meine heiße Kehle mit einer gefrorenen Flamme.

Es ist dunkel... nicht die Dunkelheit, die Teil von Jahren der Blindheit ist... die undurchdringliche Dunkelheit

sündendurchtränkter Nacht... die pechschwarze Dunkelheit des Fegefeu... ich sehe... spes mea Christus!... es ist das Ende...

Dem sterblichen Geist ist es nicht gegeben, einer Macht zu widerstehen, die menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Dem unsterblichen Geist ist es nicht gegeben, das zu erobern, was die Tiefen ausgelotet und aus der Unsterblichkeit einen flüchtigen Augenblick gemacht hat. Das Ende? Nein, wahrhaftig nicht! Es ist bloß ein seliger Anfang...