22
Ohne die Rückfahrkamera im Armaturenbrett ihres Volvo hätte Rosemary Dempsey vielleicht die Papiertonne gerammt, die nach der wöchentlichen Leerung etwas nachlässig auf dem Bürgersteig abgestellt worden war.
Sie war froh über die technischen Errungenschaften, die sie im Alltagsleben umgaben, und fragte sich oft, was Susan und Jack dazu gesagt hätten.
Als sie den Vorwärtsgang einlegte, entdeckte sie aus den Augenwinkeln heraus Lydia, die mit einem Gartenschlauch ihre Hortensien goss. Ihre Nachbarin trug leuchtend orangefarbene Gummistiefel und Handschuhe in der gleichen Farbe, in denen sie ihr nun hinterherwinkte. Rosemary winkte zurück und ließ noch ein freundliches Hupen folgen. Außerdem behielt sie sorgsam den Tacho im Blick. Wie sie Lydia kannte, könnte eine überhöhte Geschwindigkeit zu einer ernsthaften Bedrohung ihrer soeben aufblühenden Freundschaft werden.
Lächelnd fuhr Rosemary durch Castle Crossings und versuchte sich Lydia Levitt vierzig Jahre jünger vorzustellen, mit Schlaghose und Plateau-Schuhen statt ihres Garten-Outfits.
Und sie lächelte immer noch, als das Navi ihr mitteilte, dass ihr Ziel rechts vor ihr liege. Die geschätzte Fahrzeit hatte fast bis auf die Minute gestimmt: zweiundvierzig Minuten bis nach San Anselmo.
Sie fuhr an Einfahrten vorbei, in denen einige Porsches, Mercedes und einmal sogar ein Bentley standen. Ihr Volvo schien das billigste Auto im ganzen Viertel zu sein. Doch dann, zwei Grundstücke vor Nicoles Haus, entdeckte sie einen beigen Pick-up. Er stand vor einem hässlichen Gebäudeungetüm mit wuchernden Giebeln und Erkern, das die gesamte Breite des Grundstücks einnahm. Der Wagen gehörte ganz offensichtlich dem Gärtner.
»Sie haben Ihr Ziel erreicht«, verkündete das Navi.
Rosemary hatte Nicole früher schon einmal besucht, trotzdem nahm sie sich auch jetzt wieder Zeit, das herrliche Haus zu bewundern. Es handelte sich um ein aufwendig restauriertes Gebäude im Tudor-Stil mit einem wunderbaren Blick über das gesamte Ross Valley. Rosemarys Meinung nach war es eigentlich viel zu groß für ein kinderloses Paar, aber Nicoles Mann Gavin konnte es sich leisten. Außerdem arbeitete er oft zu Hause, soweit Rosemary wusste, und ersparte sich somit die Pendelei in den Finanzdistrikt von San Francisco.
Die Dreiviertelstunde Fahrt war ein kleiner Preis dafür, ihr die Neuigkeiten persönlich mitteilen zu können.
Nicole war bereits an der Tür, bevor Rosemary die Klingel drücken konnte. Kurz umarmte sie Rosemary. »Alles in Ordnung?«, fragte sie. »Sie haben sich am Telefon ja so geheimnisvoll gegeben.«
»Alles ist in bester Ordnung. Ich wollte Sie nicht beunruhigen.« Rosemary war so sehr mit ihrem mütterlichen Kummer beschäftigt, dass sie manchmal vergaß, welches Leid Susans Tod bei den anderen hinterlassen haben musste. Wenn man im Teenageralter seine beste Freundin verliert, ist man vielleicht für den Rest seines Lebens von Grund auf misstrauisch und vorsichtig.
»Ah, Gott sei Dank«, erwiderte Nicole. »Kommen Sie rein. Kann ich Ihnen etwas anbieten?«
Im Haus war es sehr ruhig.
»Ist Gavin da?«, fragte Rosemary.
»Nein, bei ihm steht heute ein Geschäftsessen an, deshalb arbeitet er im Büro.«
Rosemary, die mit vier Geschwistern aufgewachsen war, hatte sich selbst immer eine große Familie gewünscht. Doch dann hatte es mehr als zehn Jahre gedauert, bis zu ihrer unendlichen Freude Susan gekommen war.
Ihre Tochter war immer umtriebig gewesen, immer waren Nachbarskinder und Schulkameradinnen bei ihnen ein und aus gegangen. Und auch später, als sie das College besuchte, war es im Haus nie still gewesen. Irgendwie hatte immer alles vor ihrer Energie vibriert – Rosemary hatte es gespürt, wenn Susan anrief, selbst ihre überall im Haus verstreuten Kleidungsstücke, ihre CDs, die losdröhnten, wenn Rosemary versehentlich die Stereoanlage einschaltete, hatten diese Energie ausgestrahlt.
Rosemary hatte Nicole nie gefragt, warum sie und Gavin sich für ein so stilles Haus entschieden hatten, aber insgeheim taten sie ihr deswegen leid.
Sie folgte Nicole in ein Aufenthaltszimmer, dessen Wände vom Boden bis zur Decke mit Büchern vollgestellt waren. Eine Wand wurde von wirtschaftswissenschaftlichen und historischen Werken eingenommen. Die andere war voll mit allen möglichen Romanen – Liebesgeschichten, Krimis, Science-Fiction und dem, was man »Literatur« nannte. Es versetzte ihr einen Stich, als sie sich an Susans Anruf von der UCLA erinnerte, zwei Tage nach dem großen Umzug: »Meine Mitbewohnerin würdest du mögen. Sie hat einen fantastischen Büchergeschmack.« Die Romane mussten also von Nicole stammen.
Sie nahmen Platz. Nicole sah sie erwartungsvoll an.
»Sie haben es also noch nicht gehört?«, fragte Rosemary.
»Nein«, antwortete Nicole. »Nein, ich glaube nicht. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was Sie meinen, bin aber schon sehr gespannt.«
»Es ist durch. Laurie Moran hat mich angerufen. Das Studio hat Susans Fall für die nächste Unter Verdacht-Sendung abgesegnet. Und alle haben zugesagt: ich, Sie, Madison, Frank Parker und zu meinem Entsetzen auch Keith Ratner. Es sind sogar Leute dabei, die Susan vom Computerlabor kannten.«
»Das sind doch wunderbare Neuigkeiten«, entgegnete Nicole und berührte kurz Rosemarys Hände.
»Ja, das finde ich auch. Ich hatte den Eindruck, ich hätte Sie zur Teilnahme gezwungen, deswegen möchte ich Ihnen ganz persönlich danken.«
»Nein, Sie haben mich zu gar nichts gezwungen. Ich könnte nicht glücklicher sein.«
Seitdem Rosemary Laurie Morans Brief geöffnet hatte, befand sie sich auf einer emotionalen Achterbahnfahrt, aber jetzt konnte sie sich nicht des Gefühls erwehren, dass Nicole sich etwas seltsam benahm.
»Laurie sagt, bei der Vorproduktion würden mit allen Teilnehmern Interviews geführt. Meistens ohne Kamera. Damit wir unsere Sicht der Dinge darstellen können und sie wissen, was sie uns fragen sollen, wenn es so weit ist.«
»Klar, kein Problem.«
Bildete Rosemary es sich nur ein, oder hatte Nicole eben kurz und verstohlen zur Treppe gesehen? »Sie freuen sich doch darüber, oder, Nicole? Ich meine, Sie und Madison waren die Einzigen, die mit ihr zusammengewohnt haben – von mir und meinem Mann einmal abgesehen. Und Madison, na ja, war doch immer eher ein Anhängsel. Ob Sie es wollen oder nicht, Sie waren für Susan fast so etwas wie eine Schwester.«
Die Distanz, die Rosemary bei Nicole wahrgenommen hatte, war mit einem Mal verschwunden. Tränen traten Nicole in die Augen. »Für mich war es genauso. Sie war meine Freundin, und sie war … großartig. Ich verspreche Ihnen, Rosemary, ich werde Ihnen helfen. Ihnen, mir und der Sendung. Wenn wir irgendwie herausfinden können, was Susan zugestoßen ist, dann werden wir das tun.«
Rosemary kamen nun ebenfalls die Tränen, aber sie lächelte auch. »Wir werden Frank Parker und Keith Ratner zeigen, wozu zwei zu allem entschlossene Frauen imstande sind. Einer von den beiden muss es doch gewesen sein, oder?«
Als Rosemary aufbrach, kam Nicole mit an die Tür, legte der älteren Frau den Arm um die Schulter und begleitete sie den steilen Weg von der Veranda zur Straße hinunter.
Rosemary blieb stehen, ließ den Blick über das Tal, die grünen Bäume und die blauen Berge schweifen und bewunderte die atemberaubende Aussicht. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das jemals gesagt habe, Nicole, aber als Sie beschlossen haben, die Uni abzubrechen, habe ich mir große Sorgen um Sie gemacht. Oft habe ich mich gefragt, ob Sie auch eines der Opfer dieses schrecklichen Ereignisses werden. Es freut mich sehr, dass für Sie alles eine so glückliche Wendung genommen hat.«
Nicole umarmte sie fest und legte ihr dann die Hand auf die Schulter. »Fahren Sie vorsichtig, ja? Wir haben einiges vor uns.«
Als Rosemary einstieg und losfuhr, bemerkte keine der Frauen den Mann, der sie zwei Häuser weiter in seinem beigen Pick-up beobachtete.
Dann fuhr auch er los und folgte Rosemary nach Süden.