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Rosemary Dempsey balancierte zwei bis über den Rand gefüllte braune Lebensmitteltüten auf den Armen und versuchte gleichzeitig mit dem rechten Ellbogen die Hecktür ihres Volvo C30 zu schließen. Als sie auf der anderen Straßenseite Lydia Levitt sah, drehte sie sich schnell weg und hoffte, sich unbemerkt ins Haus stehlen zu können.
Aber so viel Glück war ihr nicht beschieden.
»Rosemary! Ach du meine Güte. Wie kann ein einzelner Mensch bloß so viel essen? Lass mich dir helfen!«
Wie konnte ein einzelner Mensch nur so ungehobelt sein?, dachte sich Rosemary. Ungehobelt und gleichzeitig so freundlich.
Höflich lächelte sie, und bevor sie sichs versah, war ihre Nachbarin von gegenüber auch schon bei ihr und nahm ihr eine Tüte ab.
»Mehrkornbrot, was? Oh, und Bio-Eier. Und Blaubeeren – die haben ja so viele Antioxydantien! Wie schön für dich. Wir füllen uns ja ständig nur mit schlechtem Zeugs ab. Meine ganz persönliche Schwäche sind Geleebonbons. Kaum zu glauben, was?«
Rosemary nickte und lächelte Lydia betont höflich an. Wenn Rosemary raten sollte, hätte sie die Frau auf etwa Mitte sechzig geschätzt, aber das war ihr weiß Gott ziemlich egal.
»Danke für deine Hilfe, Lydia. Und ich würde sagen, Geleebonbons sind ein relativ harmloses Laster.«
Mit ihrer jetzt freien Hand sperrte sie die Eingangstür zu ihrem Haus auf.
»Was, du schließt die Tür ab? Wir machen das so gut wie nie.« Lydia stellte ihre Tüte neben die von Rosemary auf die Kücheninsel. »Und das mit den Geleebonbons, das sag mal Don. Der meint immer, er würde mit einer Fünfjährigen zusammenleben, die überall ihre Ostereier verteilt, wenn er unter einem Sofakissen mal wieder eine rote oder grüne Überraschung findet. Meine Adern seien schon wie Brausestäbchen, voller Zucker.«
Rosemary bemerkte das blinkende Licht am Telefon auf der Küchentheke. War das der erwartete Anruf?
»Wie auch immer, ich danke dir für deine Hilfe, Lydia.«
»Du solltest am Dienstagabend mal mit zum Buchclub kommen. Oder am Donnerstag zum Filmegucken. Wir haben hier alles, was du willst, wirklich: Stricken, einen Brunch-Club, Yoga.«
Ungerührt plauderte Lydia von den vielen Dingen, die man mit den Nachbarn hier machen konnte, während Rosemary an die lange Geschichte denken musste, die sie hierhergeführt hatte. Sie hatte gedacht, sie würde für immer in dem Haus bleiben, in dem sie ihre Tochter aufgezogen und insgesamt siebenunddreißig Jahre mit ihrem Mann zusammengelebt hatte. Aber wie sie schon vor langer Zeit herausgefunden hatte, funktionierte die Welt nicht immer so, wie man es gern hätte. Manchmal musste man auf die Schicksalsschläge, die einen trafen, reagieren.
Nach Susans Tod bot Jack an, seine Arbeit aufzugeben und nach Wisconsin zurückzukehren. Sein Aktienanteil am Unternehmen, der sich im Lauf der Zeit angesammelt hatte, sowie die großzügige Altersvorsorge und Rente würden ausreichen, um sie für den Rest ihres Lebens finanziell abzusichern. Aber Rosemary erkannte, dass sie sich in Kalifornien ein Leben aufgebaut hatten. Sie selbst hatte ihre Kirche und die Suppenküche, in der sie ehrenamtlich tätig war. Sie hatte Freunde, die sich so sehr um sie kümmerten, dass ihr Kühlschrank über Monate hinweg voll war mit Kasserollen, als sie erst von Susan und dann von Jack Abschied nehmen musste.
Also blieb sie in Kalifornien. Nur wollte sie nach Jacks Tod nicht mehr in ihrem gemeinsamen Haus wohnen, das jetzt zu groß und zu leer geworden war. Daher erwarb sie ein Stadthaus in einer bewachten Wohnanlage außerhalb von Oakland.
Ihr war immer klar gewesen, dass sie entweder mit ihrer Trauer zurechtkommen musste oder in Depressionen versinken würde. Der tägliche Gottesdienstbesuch wurde ihr zur Gewohnheit. Sie widmete sich verstärkt ihrer ehrenamtlichen Arbeit und ließ sich in Trauerbegleitung fortbilden.
Im Nachhinein wäre es vielleicht besser gewesen, wenn sie sich eine Eigentumswohnung in San Francisco zugelegt hätte. Dort hätte sie ihre Anonymität gehabt. Dort hätte sie Mehrkornbrot und Bio-Eier kaufen und ihre Lebensmittel in die Küche schleppen und die eingetroffene Nachricht abhören können, ohne sich Lydia Levitts Anwerbeversuchen erwehren zu müssen.
Schließlich fasste ihre Nachbarin alles hübsch zusammen: »Das ist doch das Schöne hier bei uns. Hier in Castle Crossings sind wir alle eine einzige große Familie. Oh, das tut mir leid, das war vielleicht etwas unglücklich formuliert.«
Rosemary hatte Lydia Levitt vor eineinhalb Jahren kennengelernt, aber erst jetzt war es ihr möglich, sich selbst durch deren Augen zu sehen – sich selbst als Fünfundsiebzigjährige wahrzunehmen, die mittlerweile seit drei Jahren Witwe war und bereits zwanzig Jahre zuvor ihre einzige Tochter verloren hatte. Für Lydia war sie eine alte Frau, der man Mitleid entgegenbringen musste.
Rosemary wollte ihr bereits erklären, dass ihr Leben erfüllt sei von den unterschiedlichsten Tätigkeiten, die ihr Freude machten, aber im Grund wusste sie, dass Lydia recht hatte. Ihre Arbeit und ihre Freunde waren immer noch dieselben wie in San Mateo, als sie ihr Leben als Mutter und Ehefrau geführt hatte. Nur zögernd ließ sie neue Menschen in ihre Welt. Fast so, als wollte sie niemanden kennenlernen, der nicht auch Jack und Susan gekannt und geliebt hatte. Sie wollte niemanden kennenlernen, der sie wie Lydia als eine vom Schicksal schwer geschlagene Witwe sehen konnte.
»Danke, Lydia, ich weiß es zu schätzen.« Sie meinte es wirklich so. Ihre Nachbarin ließ es vielleicht manchmal an Takt fehlen, aber sie war aufmerksam und nett. Rosemary nahm sich vor, auf Lydias Vorschläge zurückzukommen, wenn sie etwas weniger um die Ohren hatte.
Als sie endlich allein war, eilte sie zum Anrufbeantworter. Sie hörte den Piepton, darauf eine klare Stimme, die eine gewisse Aufregung nicht verbergen konnte.
»Hallo, Mrs. Dempsey. Hier ist Laurie Moran von den Fisher Blake Studios. Vielen Dank für die Rücksendung Ihrer Teilnahmeerklärung. Wie gesagt, die Sendung hängt davon ab, wie viele der in den Fall involvierten Personen wir gewinnen können. Der Agent Ihrer Tochter ist leider schon verstorben, aber wir haben alle angeschrieben, die Sie uns genannt haben: den Regisseur Frank Parker, Susans damaligen Freund Keith Ratner und ihre Mitbewohnerinnen Madison und Nicole. Mein Chef wird sie allesamt noch einmal anrufen, aber Ihre Bereitschaft, mitzuwirken, dürfte ausschlaggebend sein. Ich hoffe sehr, dass die Sendung zustande kommt, und werde Sie umgehend informieren, sobald ich das endgültige Okay habe. Falls Sie mich in der Zwischenzeit zurückrufen wollen …«
Laurie gab ihre Kontaktdaten durch. Rosemary speicherte die Nachricht ab, wählte anschließend eine andere Nummer, die sie im Kopf hatte, während sie gleichzeitig die Lebensmittel auspackte. Es war die Nummer von Susans ehemaliger Mitbewohnerin Nicole.
Rosemary hatte Nicole von ihrer Entscheidung, an der Sendung teilzunehmen, bereits erzählt.
»Nicole, haben Sie sich schon entschieden, ob Sie in der Sendung mitmachen wollen?«
»Nein. Noch nicht.«
Rosemary ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. »Bei der ersten Sendung ist es gelungen, den Fall zu lösen«, sagte sie lediglich.
»Ich weiß nicht recht, ob ich dermaßen viel Aufmerksamkeit will.«
»Es geht nicht um die Aufmerksamkeit, die Sie bekommen.« Rosemary hoffte, sie würde nicht ganz so aufgebracht klingen, wie sie sich fühlte. »Es geht um meine Tochter. Es geht darum, den Mord aufzuklären. Sie haben damals Susan sehr nahegestanden. Sie sehen es doch selbst … wenn jemand auf Facebook oder Twitter dieses Thema anschlägt, werden sofort die unterschiedlichsten Meinungen geäußert. Viele bezeichnen Susan als ein Flittchen, das sich auf dem Campus auf alle möglichen Männer eingelassen hat. Sie könnten mit dazu beitragen, dieses Bild zu korrigieren.«
»Wie steht es mit den anderen? Haben Sie mit ihnen schon gesprochen?«
»Noch nicht«, antwortete Rosemary. »Aber die Produzenten machen ihre Entscheidung natürlich davon abhängig, wie viele Beteiligte zusagen. Sie waren fast zwei Jahre lang Susans Wohngenossin. Sie wissen, dass es welche gibt, die wahrscheinlich nicht teilnehmen wollen.«
Sie machte sich noch nicht einmal die Mühe, die Namen der einzelnen Personen aufzuzählen. Der Erste war natürlich Keith Ratner, dem Susan so oft verziehen hatte, wenn er mal wieder anderen Frauen nachgestiegen war. Die eigene Treulosigkeit hatte ihn jedoch nicht davon abgehalten, Besitzansprüche auf Susan anzumelden und ihr eine durch nichts zu rechtfertigende Eifersucht entgegenzubringen, weshalb er für Rosemary immer der Hauptverdächtige gewesen war. Dann gab es Frank Parker, der ungerührt seine Karriere weiterverfolgt und noch nicht einmal so viel Anstand besessen hatte, ihr und Jack einen Kondolenzbrief zu schreiben oder sie anzurufen – dabei war Susan allein seinetwegen in die Hollywood Hills gefahren. Und Rosemary hatte auch Madison Meyer nie getraut, Susans zweiter Mitbewohnerin, die nur allzu freudig die Filmrolle übernommen hatte, für die Susan an diesem Abend vorsprechen sollte.
»So wie ich Madison kenne, wird sie sich von ihrer schicksten Seite zeigen«, sagte Nicole.
Sie versuchte die Spannung zwischen ihnen mit Humor zu überspielen, aber Rosemary ließ sich davon nicht ablenken. »Sie sind wichtig für die Entscheidung des Produzenten, glauben Sie mir.«
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
»Es muss bald eine Entscheidung getroffen werden«, drängte Rosemary.
»Gut. Ich muss vorher nur noch ein paar Sachen nachprüfen.«
»Aber machen Sie bitte schnell. Die Zeit drängt, es ist wichtig. Sie sind wichtig.«
Rosemary legte auf und hoffte, Nicole würde sich tatsächlich zur Teilnahme durchringen. Je mehr Beteiligte Laurie Moran in der Sendung hatte, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sich einer von ihnen unabsichtlich verriet. Die Aussicht, die fürchterlichen Umstände von Susans Tod wieder durchleben zu müssen, schreckte sie sehr, aber sie glaubte auch die Stimme ihres geliebten Jack zu hören: Tu es, Rosie.
Ihr geliebter Jack.