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Was nimmst du?«, fragte Lydia und ging die Speisekarte durch. »Ich wette, wieder irgendwas Gesundes. Ich staune immer noch über die Bio-Lebensmittel, die du neulich gekauft hast.«
Rosemary wäre es lieber gewesen, wenn ihre Nachbarin das Thema nicht erwähnt hätte. So musste sie jetzt bloß wieder daran denken, wie sehr sie sich über deren Neugier geärgert hatte. Schnell wischte sie ihre aufkeimende Gereiztheit beiseite und dachte daran, warum sie überhaupt hier saß: weil Lydia ihre Nachbarin war und ihr an jenem Tag wirklich uneigennützig und großzügig geholfen hatte. Seit ihrem Einzug in Castle Crossings eineinhalb Jahre zuvor hatte Rosemary hier keine Freundschaften geschlossen.
Gestern Morgen hatte sie den ersten Versuch unternommen, sich erkenntlich zu zeigen – sie hatte Lydia ein Glas mit Geleebonbons vorbeigebracht. Jetzt hatten sie sich zum ersten Mal verabredet. Es war ein wunderbarer Tag, daher hatten sie sich für das Lunch die Gartenterrasse der Rustic Tavern ausgesucht.
»Ich bin nicht so tugendhaft, wie man aufgrund der Lebensmittel denken könnte«, sagte Rosemary und klappte die Speisekarte zu. »Und zum Beweis nehme ich einen Cheeseburger mit Speck und Pommes.«
»Oh, das klingt ja köstlich. Ich schließe mich an. Und einen Salat für den Anfang, dann können wir sagen, wir haben auch was Grünes gegessen.«
»Wunderbar.«
Sie waren gerade mit dem Salat fertig und hatten sich jeweils ein zweites Glas Cabernet bringen lassen, als Rosemary Lydia fragte, warum sie denn in die bewachte Wohnanlage gezogen sei.
»Don hat irgendwann mehr Wert auf die erhöhte Sicherheit gelegt. Mir ist das komisch vorgekommen, die Kinder waren ja schon längst aus dem Haus. Aber an einem Wochenende im Monat nehmen wir die Enkelkinder, und man hört ja ständig diese schrecklichen Geschichten – von Kindesentführungen, wenn die Eltern nicht aufpassen. Oh, Rosemary, entschuldige, ich wollte nicht …«
Aber Rosemary schüttelte nur den Kopf. »Nein, bitte, erzähl ruhig weiter.«
»Wie auch immer, Don jedenfalls meint, für die Kinder wäre es in einer bewachten Wohnanlage sicherer. Nachdem er ja nicht mehr so hart zuschlagen kann wie früher.«
Hatte sie richtig gehört? Rosemary wunderte sich, sagte aber nichts. Aber Lydia entging keineswegs ihre Verwirrung.
»Ach, natürlich, das kannst du ja gar nicht verstehen. Don – das ist mein Mann – hat früher bei einem privaten Sicherheitsdienst gearbeitet. Beim Personenschutz – so nennt man das –, für Profisportler und Musiker. So haben wir uns kennengelernt.«
»Du warst mal Profisportlerin?«
»Nein, nein. Entschuldige. Meine Kinder sagen mir immer, ich wäre eine fürchterliche Geschichtenerzählerin. Ich würde nie der Reihe nach erzählen, sagen sie. Ich würde nicht mit den nötigen Informationen rausrücken. Nein, ich habe Don 1968 kennengelernt, da waren wir noch jung, das heißt, er war noch jung: erst zwanzig. Er hat bei Jimmy O’Hares erster Welttour als Ordner gearbeitet.« Vage erinnerte sich Rosemary an den Southern-Rock-Sänger aus jener Zeit. »Ich war fünfundzwanzig, aber ich hab immer allen erzählt, ich wäre erst einundzwanzig. Die Musiker haben es nicht so gemocht, wenn man recht viel älter war.«
»Dann warst du … Backgroundsängerin oder so was?«
»O nein. Ich kann keinen einzigen Ton halten. Vor ein paar Jahren hatten wir bei einer Einwohnerversammlung einen Karaoke-Wettbewerb, und meine Freunde haben mir gedroht, mich aus Castle Crossings zu werfen, wenn ich noch mal singen sollte. Glaub mir, das willst du nicht hören. Nein, ich habe mein richtiges Alter verschwiegen, weil ich die Band auf ihrer Tour begleitet habe. ›Groupie‹ sagt man wohl dazu.«
Beinahe hätte Rosemary den Schluck Wein, den sie gerade genommen hatte, über den ganzen Tisch geprustet. Beurteile die Leute nie nur nach dem ersten äußeren Eindruck, ermahnte sie sich im Stillen.
Aber damit war das Eis endgültig gebrochen, und ihr Gespräch verlief in sehr entspannter Atmosphäre. Sie hatten zwei völlig unterschiedliche Leben geführt, mussten aber feststellen, dass zwischen Lydias ständigem Unterwegssein und Rosemarys bereits als Abenteuer empfundenem Umzug von Wisconsin nach Kalifornien unvorhergesehene Parallelen bestanden.
»Und wie kam es dazu, dass du hier eingezogen bist?«, fragte Lydia. »Du wolltest nicht mehr in deinem alten Haus bleiben?«
Rosemary pickte lustlos an ihren Pommes herum.
»Tut mir leid. Hab ich wieder was Falsches gesagt?«, fragte Lydia.
»Nein, natürlich nicht. Es ist nur – na ja, die Antwort ist nicht einfach. In dem Haus ist Susan aufgewachsen. Ich habe dort um sie getrauert. Ich habe mit Jack dort gewohnt, länger als irgendwo anders oder mit irgendeinem anderen Menschen. Aber nach seinem Tod war das Haus für mich allein zu groß. Es fiel mir nicht leicht, das alles, meine Erinnerungen, hinter mir zu lassen, aber es war an der Zeit.«
»Oh, Rosemary. Ich wollte wirklich nichts ansprechen, das dich so aufwühlt.«
»Schon gut.«
Lydia tätschelte ihr das Handgelenk. In diesem Augenblick vibrierte Rosemarys Handy, das sie auf dem Tisch liegen hatte.
»Entschuldige«, sagte sie, nachdem sie einen Blick aufs Display geworfen hatte. »Ich muss rangehen.«
»Rosemary«, meldete sich die Anruferin, »hier ist Laurie Moran. Ich habe gute Neuigkeiten.«
Rosemary murmelte nur – »ja, verstehe, hmhmm« –, aber es fiel ihr während des gesamten Telefonats schwer, Lydias erwartungsvolle Blicke auszublenden.
Als sie das Gespräch schließlich beendet hatte, sagte Lydia: »Wer immer das war und was immer er wollte, du scheinst jedenfalls sehr glücklich darüber zu sein.«
»Ja, das kann man so sagen. Es war eine Fernsehproduzentin aus New York. Die Sendung Unter Verdacht will den Fall meiner Tochter aufgreifen. Natürlich kann die Produzentin nichts versprechen, aber ich hoffe sehr, dass sich etwas Neues in dem Fall ergeben wird. Es ist jetzt zwanzig Jahre her.«
»Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen.«
Das, wurde Rosemary bewusst, war das erste Mal, dass sie mit jemandem über Susan sprach, der sie weder gekannt noch in dem Mordfall ermittelt hatte. So wie es aussah, hatte sie eine neue Freundin gefunden.