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Entschlossen, auch im Haus in Bel Air am abendlichen Familienritual festzuhalten, trommelte Laurie die Crew zusammen, um im Aufenthaltsraum einige Runden Bananagrams zu spielen – eine Art Hochgeschwindigkeits-Scrabble. Timmy fand es toll, lauthals die Befehle zu rufen: »Umdrehen«, womit das Spiel in Gang gesetzt wurde, und »Nehmen«, wenn ein weiterer Buchstabe zu ziehen war. Grace hatte die letzten drei Runden gewonnen und Timmy jedes Mal gesagt, dass sie vielleicht nicht die Schlauste sei, aber die, die sich am meisten reinhänge, und »das zahlt sich auf lange Sicht aus«.
Timmy und Leo waren mit ihr sichtlich einer Meinung.
Alle spielten mit, nur Jerry kauerte in einem Sessel am offenen Kamin und arbeitete Pläne für das Gipfeltreffen aus, das nächste Woche anstand.
»Lassen Sie es doch mal gut sein«, sagte ihm Leo. »Ihnen muss ja schon alles vor den Augen verschwimmen.«
»Ich kann es nicht gut sein lassen, wenn ich mit dem Boss zusammenwohne.« Jerry sah von den Notizen auf und zwinkerte Timmy zu, der darüber lachen musste.
Wenn hier noch jemand arbeiten sollte, dachte sich Laurie, dann sie selbst. Sie hatte das Treffen mit Keith Ratner verbockt. Er war ja vielleicht ein arroganter Typ, aber er hatte nicht ganz unrecht. Rosemary war felsenfest davon überzeugt, dass er an Susans Tod beteiligt gewesen war, aber gründeten ihre Verdachtsmomente nicht ausschließlich auf der Vermutung, dass Susan ohne ihren Freund nie zum Studieren nach Los Angeles gegangen wäre? Und wäre sein Alibi überhaupt jemals angezweifelt worden, wenn nicht sechs Mitglieder der Fürsprecher Gottes für ihn eingetreten wären, sondern die Mitglieder eines Buchclubs oder einer anderen seriösen Gruppe?
Eigentlich sollte sie Wörter bilden, aber ihr wollte Keith nicht aus dem Sinn: Sie sagten, Sie wollen objektiv sein. Objektiv zu sein hieß, dass sie sein Alibi nachprüfte.
Also entschuldigte sie sich, um noch ein Telefonat zu führen. Sie recherchierte die Nummer der Kirche der Fürsprecher Gottes, wählte und gelangte an einen Anrufbeantworter. »Hier ist Laurie Moran, ich hätte gern Reverend Collins gesprochen.« Martin Collins, hatte sie gelesen, war Gründer und Prediger der FG. Sie ging davon aus, dass Collins wahrscheinlich kaum die einzelnen Mitglieder kannte, die damals Keith Ratners Alibi bezeugt hatten, aber er sollte dennoch Bescheid wissen – die Gruppe war noch relativ überschaubar gewesen, und die Ermittlungen der Polizei hatten doch einige Wellen geschlagen. »Es geht um Keith Ratner, ein Mitglied Ihrer Kirche, sowie um die Polizeiermittlungen im Jahr 1994. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie mich zurückrufen könnten.«
Laurie wollte schon in das improvisierte Spielzimmer zurück, als Jerry sie zu sich heranwinkte.
»Du solltest jetzt aber wirklich Feierabend machen«, sagte sie zu ihm. »Sonst bekomme ich noch ein schlechtes Gewissen.«
»Dann hast du keine Ahnung, wie lange ich manchmal in New York arbeite. Außerdem macht es ja Spaß. Ich gehe gerade alte Ausgaben der UCLA-Zeitung durch, die man online abrufen kann. Ich dachte mir, wir könnten uns mal ansehen, wie die Universität auf den Mord an Susan reagiert hat. Hatten die Studenten Angst? Wurden zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen ergriffen? Solche Sachen eben.«
»Keine schlechte Idee.«
»Danke. Und da bin ich auf Folgendes gestoßen.«
Er drehte ihr seinen Laptop hin. Die Überschrift lautete: IT-PROFESSOR – ABSCHIED IN DIE PRIVATWIRTSCHAFT, ERSTE STELLE UNTER UCLA-STUDENT.
Der Artikel war im September 1994 veröffentlicht worden, in der ersten Ausgabe nach Susans Tod. Er berichtete von Richard Hathaways Ausscheiden aus dem Lehrkörper; der beliebte Professor übernahm eine Stelle in der boomenden Internet-Industrie.
Laut dem Artikel könnte eine UCLA-Verordnung, derzufolge sämtliche Forschungs- und Entwicklungsergebnisse Eigentum der Universität bleiben mussten, eine Rolle bei Hathaways Abschied gespielt haben. Der Autor gab zu bedenken, dass es aufgrund dieser Verordnung schwierig sein könne, Professoren an die Fakultät zu binden, die auf diesen höchst innovativen und profitablen Gebieten forschten. Professor Hathaway, war zu erfahren, werde bei seinem ersten Engagement in der Privatwirtschaft als Consultant für den UCLA-Studenten Dwight Cook arbeiten, der im Moment Geldgeber für seine Internet-Suchtechnologie zu gewinnen versuche.
Die Bildunterschrift unter Professor Hathaways Foto lautete: »Der Professor könnte bei dem erfolgreichen Start-up an einem Tag so viel verdienen wie an der UCLA im ganzen Jahr.«
Es war allerdings der letzte Absatz, auf den Jerry jetzt ausdrücklich hinwies:
Professor Hathaway ist den Studenten über die Informatik-Fakultät hinaus womöglich als der Professor bekannt, der in den vergangenen fünf Jahren von diesem Blatt insgesamt dreimal zum »beliebtesten« Dozenten gewählt wurde. Diese Auszeichnung gehört zu den vielen von der Redaktion vergebenen ironischen Ehrungen, die aber nicht jeder bzw. nicht jede lustig finden konnte. Im letzten Jahr reichte eine Studentin eine Beschwerde bei der Universitätsverwaltung ein, weil Professor Hathaway laut diversen Gerüchten Beziehungen zu Studentinnen unterhalten und ihnen auf dieser Basis Vorteile verschafft haben soll. Die Beschwerde wurde schließlich zurückgezogen, nachdem die Studentin keinerlei Namen von Kommilitoninnen nennen konnte, die sich auf den beliebten Dozenten eingelassen hatten, und sich auch niemand meldete, der die erhobenen Vorwürfe bestätigen wollte.
Jerry sah zu Laurie, um sich zu vergewissern, dass sie den Artikel zu Ende gelesen hatte. »Wir wissen, dass Susan zu seinen Lieblingsstudenten gehört hat. Und sie war eindeutig attraktiv.«
Erneut betrachtete Laurie das Foto neben dem Artikel. Hathaway musste damals etwa Ende dreißig gewesen sein. Ein gut aussehender Mann war er immer noch, wie sie bei ihrem Treffen in Dwight Cooks Büro festgestellt hatte, auch wenn sein Gesicht etwas voller und das Haar dünner geworden waren. Aber je länger sie die jüngere Version betrachtete, desto augenscheinlicher wurde die Ähnlichkeit mit Keith Ratner. Beide hatten dunkle Haare, ein markantes Gesicht und ein umwerfendes Lächeln. Sie konnte sich nur allzu gut vorstellen, dass sich eine Frau zu beiden hingezogen fühlte.
Susan und ihr Professor? Diese Theorie hatte die Polizei nie in Betracht gezogen.
»Ich frag mal bei Susans damaligen Mitbewohnerinnen nach, mal sehen, ob die etwas über eine mögliche Beziehung zwischen ihr und Hathaway sagen können. Dwight Cook jedenfalls scheint davon nichts gewusst zu haben. Nach dem Gespräch mit ihm kam es mir vor, als wäre er selbst in Susan verliebt gewesen, bei Keith klang es aber nach einer richtigen Obsession. Jedenfalls hätte er Hathaway nie und nimmer als Partner zu REACH geholt, wenn zwischen dem Dozenten und Susan etwas gelaufen wäre. Im Artikel wird Hathaway als Consultant bezeichnet. Wir wissen, dass Hathaway von Anfang an entscheidend zum Erfolg von REACH beigetragen hat. Das heißt, er hatte Aktienoptionen und verdiente das große Geld. Und Hathaway hat, wie du mir selbst gesagt hast, bestätigt, dass die Idee für REACH von Dwight stammt, nicht von Susan, trotzdem …«
»Du glaubst, Dwight Cook könnte Susan ermordet haben?«
»Ich weiß es nicht, Jerry. Wenn ich etwas gelernt habe, dann, dass oft diejenigen die Täter sind, von denen man es am wenigsten erwartet.«
Sie dachte an den Mörder ihres Mannes. Greg hatte als Arzt in der Notaufnahme gearbeitet, weshalb die Polizei davon ausgegangen war, er wäre Opfer eines verwirrten Patienten geworden, der ihn – aus welchen Gründen auch immer – ins Visier genommen hatte. Keiner hatte auch nur in Betracht gezogen, dass der soziopathische Täter vom Hass auf ihren Vater, den NYPD-Inspector Leo Farley, getrieben worden war.
Laurie musste an ihr morgendliches Gespräch mit Alex denken: Jerry hatte sich seit seiner Praktikantenzeit enorm entwickelt und war mittlerweile für sie fast so etwas wie ein Partner. Entsprechend sollte sie ihn also auch behandeln. »Ich werde noch mal Rosemary anrufen, damit wir nicht nur Hathaways und Dwights Aussagen zu Susans Arbeit im Computerlabor haben. Sie sollte wissen, woran Susan geforscht hat.«
Laurie hatte gehofft, vor dem Gipfeltreffen den Kreis der Verdächtigen eingrenzen zu können. Im Moment sah es aber eher so aus, als würde die Liste nur noch länger werden.