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Auf der Rückfahrt nach Bel Air ließ Laurie Grace ans Steuer. In New York hatte Grace nie Gelegenheit zum Fahren, weshalb sie es jetzt, trotz des fürchterlichen Verkehrs in Los Angeles, sehr genoss.
»Also, was denkt ihr euch?«, fragte Laurie unterwegs. Alex hatte auf der Rückbank des SUV Platz genommen, bevor Laurie Protest einlegen konnte.
»Das kauf ich ihr nie im Leben ab«, legte Grace als Erste los. »Sie und Susan sollen befreundet gewesen sein? Vielleicht. Aber dann hat sie nichts Besseres auf Lager, als sofort nachzuschieben: ›Mir ist der Spirit Award verliehen worden‹, und sie habe sich die Auszeichnung ›verdient‹. Tut mir leid, aber das ist gefühllos.« Dabei fuchtelte sie so energisch mit dem Finger, dass der Wagen gefährlich ins Schlingern geriet.
»Grace, bitte beide Hände ans Lenkrad.«
»Sorry, aber die Frau nervt. Und dann die jeweiligen Zeitpunkte, das klang doch wie einstudiert. Neunzehn Uhr fünfundvierzig, halb neun, halb zehn, Mitternacht – sie klang wie ein Automat.«
Laurie musste ihr zustimmen. Madison hielt an ihrem Alibi für Frank Parker fest, aber das alles hörte sich einfach zu gut an. Jedes Detail ihrer Erinnerung an diesen Abend stimmte exakt mit der Version überein, die sie zwanzig Jahre zuvor der Polizei erzählt hatte. Nur, so funktionierte das Gedächtnis nicht. Erinnerungen verändern sich im Lauf der Zeit, manches verblasst, anderes zeichnet sich klarer ab. Einzelheiten geraten durcheinander oder wandeln sich. Madison jedoch trug ihre Aussage vor, als würde sie auf der Bühne stehen.
»Mir ist nur eine Unstimmigkeit aufgefallen«, bemerkte Laurie. »Erst sagt sie, sie sei zu Hause geblieben, weil ihr angeblich unwohl war. Aber auf die Frage, warum sie so schnell zum Vorsprechen konnte, erfahren wir plötzlich, dass sie auf eine Party der Studentenverbindung wollte, sich aber nicht wohlfühlte. Deshalb war sie schon zurechtgemacht, als später Frank anrief. Für mich klingt das, als hätte sie sich das alles auf die Schnelle zusammengereimt.«
»Und zur Party einer Studentenverbindung!«, warf Grace ein. »Ich bitte euch. Ich habe Madison Meyer vor zwanzig Jahren zwar nicht gekannt, aber irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass sie mit diesen Typen irgendwas zu schaffen hatte. Da stimmt was nicht.«
Lauries Gedanken wurden von ihrem summenden Handy unterbrochen. Zwei Anrufe waren während der Dreharbeiten, als sie das Gerät ausgestellt hatte, eingetroffen.
»Hallo, hier ist Tammy von den Fürsprechern Gottes. Sie haben letzten Abend eine Nachricht für Reverend Collins hinterlassen. Es geht um Polizeiermittlungen. Der Reverend möchte sich entschuldigen, sein Terminplan lässt es leider nicht zu, Sie persönlich anzurufen. Deswegen hat er mich gebeten, ihn in dieser Sache zu vertreten. Ich soll Ihnen ausrichten, dass damals mehrere unserer Mitglieder von der Polizei befragt wurden, und soweit er sich erinnere, haben sie alle das Alibi der von Ihnen erwähnten Person bestätigt. Mehr gebe es von seiner Seite dazu nicht zu sagen, für weitere Einzelheiten möchte er Ihnen daher raten, sich direkt an die zuständige Polizeidienststelle zu wenden.«
Laurie rief die nächste Nachricht auf. »Ms. Moran, hier ist Keith Ratner. Ich möchte mich für mein gestriges Verhalten entschuldigen. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie belastend es ist, nach so vielen Jahren immer noch zu diesem Fall befragt zu werden. Aber ich wäre nach wie vor bereit, Ihnen zu helfen, vorausgesetzt, Sie wollen mich überhaupt noch in der Sendung haben. Falls dem so ist, rufen Sie doch bitte zurück.«
Sie drückte auf die Rückruftaste. Keith meldete sich sofort. »Sie haben meine Nachricht bekommen?«, fragte er.
»Ja, und mir scheint, ich muss mich ebenfalls entschuldigen. Mein Ton war schärfer als beabsichtigt. Und ich möchte Ihnen versichern, dass wir uns in der Sendung sehr um Objektivität bemühen. Nach unserer Begegnung im Buchladen habe ich mich mit Ihrem Alibi befasst. Ebenso gewissenhaft beschäftigen wir uns aber auch mit allen anderen Theorien. Nur zu Ihrer Information: Sowohl Susans Mutter als auch die beiden Mitbewohnerinnen meinten, Susan sei so sehr in Sie verliebt gewesen, dass für einen anderen kein Platz geblieben sei.«
Sie musste ihm ja nicht unbedingt auf die Nase binden, dass Rosemary noch gesagt hatte: »Ach, was wäre ich froh gewesen, wenn Susan ihm endlich den Laufpass gegeben hätte.«
Keith bestätigte die Adresse für das Gipfeltreffen in Bel Air und legte auf. Grace bog soeben in die Einfahrt zu ihrem Haus ein.
»Der Schönling ist mit dabei?«, fragte sie.
»Vorsicht«, schaltete sich Alex dazwischen. »Sonst komme ich noch auf die Idee, dass Sie jeden x-Beliebigen für attraktiv halten, was meine Gefühle sehr verletzen könnte.«
Auf Letzteres ging Laurie nicht ein. »Ja. Keith Ratner – Schönling Nummer zwei – macht wieder mit. Aber ich frage mich, ob er nicht recht hat und Rosemary ihn grundlos verdächtigt. Sein Alibi ist mindestens so gut wie das von Frank Parker. Und es wird von mehreren Personen bezeugt, nicht nur von einer, für die noch dazu eine Menge auf dem Spiel stand, falls sie sich nicht für den Regisseur eingesetzt hätte.«
Der SUV kam zum Stehen. Alex löste den Sicherheitsgurt. »Aber man sollte nicht vergessen, dass die besagten mehreren Personen einer Kirche angehören, der Gehirnwäschemethoden unterstellt werden. Die Fürsprecher Gottes stehen nicht unbedingt im besten Ruf.«
Laurie stieg aus und spürte die warme Sonne auf dem Gesicht. Vielleicht könnte sie sich doch mit Kalifornien anfreunden. Außerdem war hier absolut nichts zu hören außer einem Rasenmäher in der Ferne – und Grace:
»Ihr habt gehört, was Madison über Susans unzuverlässigen Wagen gesagt habt. Wenn sie wirklich Angst hatte, ihre Karre könnte den Geist aufgeben, wen hätte sie dann gebeten, sie zum Vorsprechen zu fahren? Ihren Freund, wen sonst? Ihr Agent war auf dem Weg nach Arizona. Also hat sie Keith angerufen. Ich glaube nach wie vor, die beiden haben sich auf dem Weg zu Parker gestritten, sie ist aus dem Auto gesprungen, und dann ist die Sache eskaliert.«
Wieder kam es Laurie vor, als wate sie durch zähflüssigen Schlamm. Zweck dieser Vorabinterviews sollte es doch sein, sich ein klares Bild von dem Fall zu verschaffen, damit Alex beim Gipfeltreffen die entscheidenden Fragen stellen konnte. In zwei Tagen sollten sie mit dem Drehen beginnen, aber im Grunde waren sie nicht weiter als zu dem Zeitpunkt, als sie im Internet zum ersten Mal auf den Cinderella-Mord gestoßen war. Brett Young würde ihr nie wieder ein so hohes Budget anvertrauen. Schlimmer noch, die gesamte Sendung könnte zu einem Fiasko geraten, weil sie nichts Neues zu der Frage beisteuern konnten, wer Susan umgebracht hatte – dieser Punkt war der allein ausschlaggebende.
Sie war so sehr in Gedanken versunken, dass sie den Schlüssel ins Schloss steckte und, ohne vorher am Knauf zu probieren, sich und die anderen versehentlich aussperrte. Also drehte sie den Schlüssel in die andere Richtung und wollte die Tür aufdrücken. Diese aber ließ sich nur wenige Zentimeter bewegen. Irgendetwas musste sie blockieren.
»Hallo?«, rief sie. Vielleicht hatte Jerry für den Bühnenaufbau im Eingangsflur ein paar Möbel umgestellt. »Jerry! Wir können nicht rein! Hallo?«
»Lass mich mal.« Grace schob sich vor Laurie, ging etwas in die Knie und stemmte sich mit dem ganzen Gewicht gegen die Tür. Sie schnaufte vor Anstrengung, schaffte es aber, die Tür so weit zu öffnen, dass sie sich durch den schmalen Spalt zwängen konnte.
»Nein!«, rief sie von drinnen. Laurie sah nur, wie ihre Assistentin im Flur in die Hocke ging.
»Grace?«
Bevor Alex sie am Arm packen konnte, war Laurie schon hineingeschlüpft. Grace kauerte neben dem Hindernis, das die Tür blockiert hatte – es war Jerry. Sein Gesicht war übel zugerichtet. Rote Blutspuren markierten den Weg, den er vom Aufenthaltszimmer zur Eingangstür genommen hatte. In seiner ausgestreckten rechten Hand hielt er noch sein Handy umklammert. Laurie wurde schwarz vor Augen. Als sie sich gegen die Tür lehnte, spürte sie dort etwas Feuchtes, Klebriges.
Von draußen pochte Alex mit der Faust gegen die Tür, aber sie starrte bloß reglos vor sich hin.
Jerry war allein im Haus gewesen. Er hatte Hilfe holen und ins Freie kriechen wollen, aber niemand hatte ihm geholfen. Er war blutüberströmt.