28
Leo machte sich sehr wohl Sorgen während des kurzen Spaziergangs zu seinem nur einen Block von Lauries Wohnung entfernten Apartment. Erst sah er eine Frau, die sich mit dem Rücken zum Bürgersteig über den Beifahrersitz eines Mercedes beugte, weil sie dort anscheinend etwas suchte, während der Fahrzeugschlüssel unbeaufsichtigt in der offen stehenden Fahrertür steckte. Ein unvermittelter Stoß – ein Schlag auf die Schulter –, und ein Autodieb könnte sich mit dem Wagen auf und davon machen, bevor sie auch nur um Hilfe rufen konnte. Zehn Meter weiter lag ein Müllbeutel am Straßenrand, durch dessen dünnes Plastik deutlich ein weggeworfener Kontoauszug zu erkennen war. Jeder halbwegs versierte Kriminelle, der es auf Identitätsdiebstahl abgesehen hatte, könnte noch vor dem Morgengrauen das Konto leer räumen.
Und dann direkt vor seinem Gebäude sammelte ein Typ auf dem Bürgersteig verstreute Tabletten auf und gab sie in ein Döschen. Der Typ war um die Mitte zwanzig und hatte sich am rasierten Hinterkopf das Wort FURCHTLOS eintätowieren lassen.
Jeder würde annehmen, dass ihm ein Missgeschick passiert wäre, aber nicht Leo. Er wollte den Inhalt seiner Brieftasche darauf verwetten, dass der Tätowierte gerade einen unschuldigen Passanten ausgenommen hatte und bereits nach dem nächsten Opfer Ausschau hielt.
Es war einer der ältesten Abzocktricks der Welt. Manchmal handelte es sich bei dem zu Boden »gefallenen« Gegenstand um eine schon vorher zerbrochene Flasche. Manchmal um eine bereits gesplitterte Sonnenbrille. Hier war es ein wahrscheinlich mit Aspirin gefülltes Tablettendöschen. Die Masche bestand darin, jemanden anzurempeln, den Gegenstand zu Boden fallen zu lassen und so zu tun, als wäre der andere schuld daran gewesen. Mann, ich kann es mir nicht leisten, mir neue Tabletten zu besorgen. Großzügige Passanten boten dann eine Art Schadensersatz an.
Wo andere Leute eine Frau in ihrem Auto, einen Müllbeutel oder einen Typen sahen, der zu Boden gefallene Tabletten aufsammelte, sah Leo potenzielle Verbrechen. Er konnte nicht anders – so wie andere die Buchstaben, die sie irgendwo sahen, automatisch zu Wörtern verbanden oder an die Zahl vier dachten, wenn sie zwei mal zwei hörten. Im tiefsten Inneren seines Wesens dachte und handelte er immer noch wie ein Polizist.
Zu Hause fuhr er in dem Zimmer, das als sein Büro und als Schlafzimmer für Timmy diente, wenn dieser bei ihm übernachtete, den Computer hoch. Es war nicht das neueste, schnellste Modell, nicht mit Lauries Gerät zu vergleichen, aber für seine Bedürfnisse genügte es allemal.
Er googelte nach Rosemary Dempsey. Er überflog den Blog, der seine Tochter überhaupt erst auf den Cinderella-Mord aufmerksam gemacht hatte. Laurie hatte ihn ihm gezeigt. Die Autorin erwähnte, dass Rosemary nicht mehr in dem Haus lebte, in dem sie mit Susan und ihrem Mann gewohnt hatte, sondern in eine bewachte Wohnanlage außerhalb von Oakland gezogen war. Bingo.
Er gab als Suchbegriffe »Oakland Mord bewachte Wohnanlage« ein und begrenzte die Suche auf die letzten vierundzwanzig Stunden. Er stieß auf zwei Nachrichtenmeldungen, beide stammten von den Lokalmedien im nördlichen Kalifornien. Lydia Levitt, einundsiebzig Jahre alt, war an diesem Nachmittag in Castle Crossings ermordet worden.
Er suchte nach Castle Crossings, recherchierte die Postleitzahl und gab diese auf der Website für Verbrechensfälle ein. Im letzten Monat wurden in dem Postleitzahlenbereich lediglich dreizehn Vorfälle gemeldet, es handelte sich fast ausschließlich um Ladendiebstahl. Auf der Karte zoomte er direkt in die Gegend der Wohnanlage, in der das Opfer gewohnt hatte. Null Vorfälle. Er dehnte die Suche auf das vergangene Jahr aus. Zehn Vorfälle, keine Gewalttaten. Nur ein Wohnungseinbruch im ganzen Jahr.
Und jetzt, als Unter Verdacht den Mord an Susan Dempsey groß herausbringen wollte, wurde eine einundsiebzigjährige Frau im Garten von Susan Dempseys Mutter ermordet.
Leo wusste, dass er dazu neigte, sich ständig um seine Tochter Sorgen zu machen, und das nicht nur als ihr Vater, sondern auch als Polizist. Und das ungute Gefühl, das sich jetzt bei ihm einstellte, kam unmittelbar aus dem Polizistenbereich seines Gehirns.
Leo hielt sich nicht unbedingt für einen paranoiden Vater, aber er war überzeugt, dass der Mord an Lydia Levitt in irgendeinem Zusammenhang mit Unter Verdacht stand.
Erst als am nächsten Morgen das Sonnenlicht durch die Schlafzimmerrollos fiel, wurde Leo bewusst, dass er gar nicht geschlafen, sondern eine Entscheidung getroffen hatte. Er griff zum Telefon auf dem Nachtkästchen und rief Laurie an.
»Dad? Alles in Ordnung?«
Das fragte sie immer, wenn er noch mal spätabends, früh am Morgen oder zu oft hintereinander anrief.
»Du hast gesagt, du machst dir wegen der Produktion in Kalifornien Sorgen um Timmy.«
»Natürlich mach ich mir Sorgen. Aber ich werde mir was einfallen lassen. So wie immer. Ich kann an den Wochenenden nach Hause fliegen. Vielleicht vereinbaren wir eine bestimmte Zeit zum Skypen – auch wenn eine Videokonferenz den persönlichen Kontakt natürlich nicht ersetzen kann.«
Es war ihr anzuhören, dass er nicht der Einzige gewesen war, der sich in dieser Nacht so einiges durch den Kopf hatte gehen lassen.
»Das alles wird nicht nötig sein«, sagte Leo. »Wir kommen einfach mit. Timmy und ich, wir beide.«
»Dad …«
»Keine Widerrede. Wir sind eine Familie. Ich werde mit der Schule reden. Es geht nur um zwei Wochen. Wenn nötig, können wir auch einen Privatlehrer anstellen. Er muss bei seiner Mutter sein.«
»Okay«, sagte Laurie nach einer kurzen Pause. Leo hörte die Dankbarkeit in ihrer Stimme. »Das wäre fantastisch. Danke, Dad.«
Natürlich hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er ihr sein wahres Motiv verschwieg. Aber was hätte er denn erreicht, wenn er ihr erzählte, was ihn wirklich beunruhigte. Laurie würde zum jetzigen Zeitpunkt die Sendung über den Cinderella-Mord auf keinen Fall mehr absagen. Zumindest würde er jetzt also in ihrer Nähe sein und sie beschützen können, falls etwas schieflaufen sollte.
Aber nicht zum ersten Mal hoffte er, dass der Polizist in ihm umsonst Alarm schlug.