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Guten Tag, Jennifer. Ist er da?«
Brett Youngs Sekretärin blickte vom Schreibtisch auf. »Ja, er ist vom Essen zurück.«
Laurie arbeitete schon so lange mit Brett zusammen, dass sie seine Gewohnheiten mittlerweile in- und auswendig kannte: Anrufe, E-Mails und andere Korrespondenz am Morgen; Geschäftsessen zu Mittag (vorzugsweise von zwölf bis zwei); dann zurück an den Schreibtisch zur kreativen Arbeit. Bis vor wenigen Monaten hatte Laurie sich bei ihrem Chef einen Termin geben lassen müssen, wenn sie ihn sehen wollte. Nachdem sie aber mit Unter Verdacht einen so großen Erfolg gelandet hatte, gehörte sie zu den wenigen Auserwählten, die unangekündigt bei ihm reinplatzen durften. Und wenn sie ganz großes Glück hatte, dann hatte er sich beim Essen ein oder zwei Gläschen Wein gegönnt, was seine Laune merklich hob.
Nachdem sie von der Sekretärin das Okay bekommen hatte, klopfte Laurie kurz an und öffnete die Tür zu Bretts Büro.
»Hast du einen Moment Zeit?«, fragte sie.
»Klar, besonders dann, wenn du mir erzählen willst, dass du dich doch für den Fall unserer Schönheitskönigin entschieden hast.«
Er sah zu ihr auf. Er war einundsechzig Jahre alt, ein in jeder Hinsicht attraktiver Mann, nur seine Miene war so mürrisch wie eh und je.
Sie nahm auf dem Sessel mit der verstellbaren Rückenlehne Platz. Brett saß auf dem Sofa daneben, wo er ein Drehbuch gelesen hatte. Laurie fand ihr eigenes Büro ausgesprochen schön, verglichen mit dem von Brett aber war es ein winziges Kabuff.
»Brett, wir haben das doch alles schon besprochen. Zu den Ermittlungen in diesem Fall gibt es nichts Neues mehr zu sagen. Es geht doch darum, Aussagen von Leuten zu bekommen, die das alles damals aus erster Hand erlebt haben. Die möglicherweise sogar selbst beteiligt waren.«
»Und genau dafür wirst du sorgen. Hetz ihnen Alex Buckley auf den Leib und sieh zu, wie sich die Augenzeugen winden.«
Der renommierte Strafverteidiger Alex Buckley hatte in der ersten Sendung als eine Art Moderator fungiert. Seine Zeugenbefragungen, von der einfühlsamen Vernehmung bis zum zermürbenden Kreuzverhör, waren brillant gewesen.
Seitdem hatte sich Laurie mit ihm regelmäßig getroffen. Im Herbst hatte er sie, Timmy und ihren Vater zu den Football-Spielen der Giants eingeladen, im Sommer zu den Baseball-Partien der Yankees. Alle vier waren sie glühende Fans der beiden Mannschaften. Fast nie ging er mit ihr allein aus, wahrscheinlich spürte er, dass sie für den nächsten Schritt in ihrer Beziehung noch nicht bereit war. Erst musste sie ihre Trauer aufarbeiten und in ihrem Leben das Kapitel mit Greg abschließen.
Natürlich wusste sie, dass er häufig in den Klatschspalten der Zeitungen erwähnt wurde, wenn er bei gesellschaftlichen Ereignissen wieder mal eine Berühmtheit über den roten Teppich führte. Er war ein äußerst begehrenswerter Mann in der Stadt.
»Noch nicht mal Alex Buckley könnte diesen Fall lösen«, beharrte Laurie, »weil wir nicht den geringsten Anhaltspunkt haben, wen wir überhaupt befragen sollen. Die gesamte Familie des Mädchens ist durch einen DNA-Abgleich entlastet worden, und andere Verdächtige konnten von der Polizei nie ausgemacht werden. Ende der Geschichte.«
»Und wen interessiert das? Grab die alten Aufnahmen von dem Schönheitswettbewerb aus, und du kannst zusehen, wie die Einschaltquoten nach oben schnellen.« Es war nicht das erste Mal, dass Brett sie über die Bedeutung der Quoten belehrte, und es würde bestimmt nicht das letzte Mal sein. »Du brauchst etwas Neues? Hol dir einen Wissenschaftler, der das Gesicht des Mordopfers rekonstruiert und es so zeigt, wie es heute aussehen würde.«
»Es würde nicht funktionieren. Ein per Computer bearbeitetes Foto kann nie die Geschichte eines verlorenen Lebens erzählen. Wer weiß denn schon, was die Zukunft für dieses Mädchen bereitgehalten hätte?«
»Hör zu, Laurie. Zufällig bin ich ein erfolgreicher Mann. Ich weiß, wovon ich rede. Ich will dir nur helfen, deine Sendung am Laufen zu halten. Manche sagen vielleicht, du hättest beim ersten Mal bloß einen Glückstreffer gelandet, von dem du bis heute zehrst.« Es war fast ein Jahr her, dass die erste Folge von Unter Verdacht ausgestrahlt worden war. Seitdem hatte Laurie als Produktionsleiterin an mehreren der vom Studio betreuten Serien mitgewirkt, aber Brett konnte es gar nicht erwarten, das Unter Verdacht-Konzept weiter auszubauen. »Du musst versuchen, den Zauber der ersten Folge wieder aufleben zu lassen.«
»Vertrau mir. Ich bin auf einen großartigen Fall gestoßen. Er eignet sich perfekt für Unter Verdacht. Der Cinderella-Mord.«
Sie reichte ihm ein Foto von Susan Dempsey, eine professionelle Porträtaufnahme, die sie sich für ihre Engagements hatte machen lassen. Laurie hatte sich sofort angesprochen gefühlt, als sie das Bild zum ersten Mal gesehen hatte. Susan hatte nahezu vollkommene Gesichtszüge – hohe Wangenknochen, volle Lippen, strahlend blaue Augen –, die wahre Schönheit aber lag in ihrem Blick, der vor Energie sprühte.
Brett beachtete das Foto kaum. »Nie davon gehört. Was hast du noch in petto? Im Ernst, Laurie, hast du die Flops schon vergessen, die du vor dieser Sendung produziert hast? Vor allem solltest du eines wissen: Erfolg ist etwas sehr Flüchtiges.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber du hast von diesem Fall gehört, Brett. Das Opfer war eine Studentin an der UCLA, ihre Leiche ist in den Hollywood Hills gefunden worden. Nachdem sie nicht zu dem Vorsprechen erschienen ist, zu dem sie eigentlich wollte.«
Jetzt machte er sich doch die Mühe, einen Blick auf das Foto zu werfen. »Wow! Ist das etwa diese Frank-Parker-Geschichte?«
Wäre Frank Parker nicht berühmt geworden, wäre der Cinderella-Mord völlig in Vergessenheit geraten. Aber hin und wieder, meistens dann, wenn Parker einen neuen Film herausbrachte oder für einen Preis nominiert wurde, erwähnte irgendjemand den Skandal aus den frühen Jahren des Regisseurs.
»Das Opfer hieß Susan Dempsey«, begann Laurie. »Sie war in jeder Hinsicht eine bemerkenswerte junge Frau. Intelligent, attraktiv, begabt, und sie sprühte vor Arbeitseifer.«
Mit einer ungeduldigen Handbewegung forderte er sie auf, zum Kern der Sache zu kommen. »Wir verleihen keine Medaillen. Warum soll das gutes Fernsehen sein?«
Dass Brett Young niemals verstehen würde, warum sie Susans Mutter helfen wollte, war Laurie vollkommen klar. Also zählte sie sämtliche Faktoren auf, die den Fall in Graces und Jerrys Augen so reizvoll machten. »Als Erstes die fantastische Szenerie. Wir haben den Campus der UCLA. Den Glamour von Hollywood. Die Düsternis des Mulholland Drive.«
Brett war jetzt ganz Ohr. »Endlich mal das richtige Wort: ›Hollywood‹. Stars. Ruhm. Deswegen interessieren sich die Leute für diesen Fall. Hat man sie nicht in der Nähe von Parkers Haus gefunden?«
Laurie nickte. »In Gehweite, im Laurel Canyon Park. Laut seiner Aussage ist sie nie zum Vorsprechen bei ihm erschienen. Ihr Wagen war auf dem Campus geparkt. Die Polizei konnte nie rekonstruieren, wie sie von der UCLA in die Berge gekommen ist.«
»Parker hat gewusst, dass sie studiert. Wenn sie den Wagen bei ihm abgestellt und er irgendwas damit zu tun hatte, dann hätte er doch dafür sorgen können, dass der Wagen zurückgebracht wurde«, äußerte Brett nachdenklich.
Laurie runzelte die Stirn. »Brett, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass du dich langsam für den Fall erwärmst.«
»Wird Parker teilnehmen?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber ich habe die Zusage von Susans Mutter, und die ist einiges wert. Ihr ist sehr an der Sache gelegen. Sie wird Susans Freunde überreden, vor die Kamera zu treten.«
»Vergiss die Freunde. Familienangehörige und Freunde locken keine Zuschauer an. Aber ein für den Oscar nominierter Regisseur. Und schaff diese Schauspielerin ran, die, die an Susans Stelle die Rolle bekommen hat.«
»Madison Meyer«, half Laurie ihm auf die Sprünge. »Oft wird vergessen, dass sie nicht nur Susans Rolle bekommen hat, sondern auch eine von Susans Mitbewohnerinnen war.«
Laut Frank Parkers Aussage hatte er, nachdem Susan bei ihm nicht aufgetaucht war, Madison Meyer angerufen, die ebenfalls Schauspielunterricht an der UCLA hatte, und sie äußerst kurzfristig zum Vorsprechen zu sich bestellt. Gegenüber der Polizei bestätigte Madison Parkers Aussage und schwor, sich zum Zeitpunkt von Susans Tod in seinem Wohnzimmer aufgehalten zu haben.
»Schon seltsam, dass er die Rolle einer Nachwuchsschauspielerin gibt, die ihm gleich auch noch ein Alibi verschafft«, sagte Brett und rieb sich das Kinn – ein sicheres Zeichen, dass er angebissen hatte.
»Es ist ein hervorragender Fall für die Sendung, Brett. Ich spüre es. Ich weiß es einfach.«
»Du weißt, ich mag dich, Laurie, aber dein Bauchgefühl allein reicht nicht. Nicht, wenn so viel Geld auf dem Spiel steht. Die Sendung ist nicht billig. Ohne Frank Parker ist der Cinderella-Mord ein x-beliebiger Altfall. Hol ihn in die Sendung, und du bekommst von mir die Freigabe. Kommt er nicht, habe ich einen todsicheren Ersatz parat.«
»Sag mir nicht, dass du an den Kinder-Schönheitswettbewerb denkst!«
»Das hast du jetzt gesagt.«
Na, wie gut, dass wir nicht unter Druck stehen, dachte sich Laurie.