26
Mein Paddel war geschnitten und geschnitzt. Ixinatsi hatte mein Acáli mit getrocknetem Fisch und Kokosnußfleisch beladen und auch an eine Leine mit einem Knochenhaken gedacht, damit ich frischen Fisch angeln konnte. Sie legte fünf oder sechs frische Kokosnüsse dazu, deren hartes Ende sie weggeschnitten hatte, so daß nur eine dünne Haut sie verschloß. Die dicke Schale würde den Inhalt selbst in der heißen Sonne kühl halten. Ich mußte nur die Haut durchstechen, um die süße, erfrischende Kokosnußmilch trinken zu können. Sie gab mir die Anweisungen, die alle Frauen auswendig kannten, obwohl keine von ihnen jemals einen Grund oder den Wunsch hatte, die EINE WELT zu besuchen. Die Gezeitenströmungen zwischen den Inseln und dem Festland, so sagte sie, verliefen sanft und beständig in südliche Richtung. Ich sollte jeden Tag mit gleichbleibender, aber nicht zu großer Geschwindigkeit geradewegs nach Osten paddeln. Sie setzte voraus, daß ich einen östlichen Kurs halten konnte, und sagte, in den Anweisungen sei berücksichtigt, daß das Acáli nach Süden abtreibe, während ich nachts schlafe. Am vierten Tag komme ein Dorf an der Küste in Sicht. Grille kannte den Namen nicht, aber ich zweifelte nicht daran, daß es Yakóreke sein mußte. Am Abend, der nach dem Willen der Kuku mein letzter sein sollte, saßen Grille und ich nebeneinander an den umgestürzten Baumstamm gelehnt, unter dem sich zwei Lager befanden, und ich fragte sie: »Ixinatsi, wer war dein Vater?«
Sie erwiderte: »Wir haben keine Väter. Wir haben nur Mütter und Töchter. Meine Mutter ist tot, und meine Tochter kennst du.«
»Aber deine Mutter kann dich nicht gezeugt haben. So wenig wie du deine Tiripetsi. Irgendwann und irgendwie muß in beiden Fällen ein Mann beteiligt gewesen sein. Ohne einen Mann kann eine Frau kein Kind empfangen.«
»Ach das«, sagte sie wegwerfend. »Akuáreni. Ja, die Männer kommen einmal im Jahr und tun das.«
Ich sagte: »Das war also mit den ersten Worten gemeint, die du an mich gerichtet hast. Du hast gesagt, ich sei zu früh gekommen.«
Sie nickte. »Ja. Die Männer stammen aus dem Dorf auf dem Festland, zu dem du fährst. Sie kommen im achtzehnten Monat des Jahres für einen einzigen Tag. Ihre Kanus sind mit Fracht vollgeladen. Wir nehmen uns alles, was wir brauchen, und tauschen es gegen Kinucha ein. Eine Kinu für einen guten Kamm aus Schildpatt oder Knochen, zwei Kinucha für ein Obsidianmesser oder eine geflochtene Angelschnur …«
»Ayya!« unterbrach ich sie. »Ihr werdet schamlos betrogen! Die Männer tauschen diese Perlen für einen unzählige Male höheren Wert ein, und der nächste, der übernächste und der überübernächste Verkäufer machen ebenfalls hohe Gewinne. Wenn die Perlen durch die vielen Hände zwischen hier und den Märkten in den Städten gewandert sind, dann …«
Grille zuckte die im Mondlicht bezaubernd und verführerisch schimmernden nackten Schultern. »Die Männer könnten die Kinúcha haben, ohne überhaupt etwas dafür zu bezahlen, wenn Xarátanga erlauben würde, daß sie tauchen lernen. Durch den Tauschhandel bekommen wir, was wir brauchen und wollen. Was können wir mehr verlangen? Nachdem alles getauscht worden ist, versammelt Kukú die Frauen, die eine Tochter haben wollen, und ruft auch jene, die sich nicht danach drängen, wenn sie entscheidet, sie seien an der Reihe. Dann wählt Kukú die kräftigeren Männer aus. Die Frauen warten am Strand, und die Männer machen dieses Akuáreni, das wir über uns ergehen lassen müssen, wenn wir Töchter haben wollen.«
»Du sagst immer Töchter. Ihr könnt doch nicht verhindern, daß auch Knaben geboren werden.«
»Ja, ein paar …« Sie schüttelte den Kopf. »Die Göttin Neumond hat entschieden, daß dies die Inseln der Frauen sind, und es gibt nur einen Weg, um sicherzustellen, daß das auch so bleibt. Alle von der Göttin nicht geduldeten Knaben werden sofort nach der Geburt ertränkt.«
Sie mußte selbst im Dunkeln meinen Gesichtsausdruck gesehen haben. Doch sie deutete ihn falsch und fügte hastig hinzu: »Das ist keine Verschwendung, wie du vielleicht glaubst. Ihre Körper dienen den Austern als Nahrung, und damit finden sie eine sehr nützliche Verwendung.«
Als Mann konnte ich der unbarmherzigen Säuberung unter den Neugeborenen kaum Beifall zollen. Andererseits hatte diese Regel wie die meisten von den Göttern befohlenen Dinge die Reinheit und Klarheit des Schlichten. Die Inseln bleiben das Reich der Frauen, indem man die Austern füttert, von deren Herzen die Inselbewohnerinnen abhängig sind.
Grille fuhr fort: »Meine Tochter ist beinahe alt genug, um mit dem Tauchen anzufangen. Deswegen erwarte ich, daß Kukú mir befehlen wird, mit einem der Männer Akuáreni zu machen, wenn sie das nächste Mal kommen.«
»Das klingt, als mache es dir ungefähr soviel Spaß, wie von einem Seeungeheuer angegriffen zu werden«, bemerkte ich leicht ungehalten. »Liegt denn keine von euch jemals zum reinen Vergnügen mit einem Mann zusammen?«
»Vergnügen?« rief sie. »Was für ein Vergnügen kann das sein? Es ist ein Gefühl, als hätte man an der falschen Stelle Verstopfung.«
»Ihr Frauen ladet euch ja reizende Männer ein«, murmelte ich vor mich hin und sagte dann laut: »Meine liebe Ixinatsi, was du beschreibst, ist nicht der liebevolle Vorgang, der es sein sollte. Wenn es mit Liebe geschieht, und du hast selbst von liebenden Herzen gesprochen, dann kann es der höchste Genuß sein.«
»Wenn was mit Liebe geschieht?« fragte sie nicht uninteressiert.
»Hör zu, du weißt, daß du ein liebendes Herz hast, aber vielleicht weißt du nicht, daß du auch eine Kinú besitzt. Sie eignet sich weit besser dazu, geliebt zu werden, als die der gefühlvollsten Auster. Sie ist da.« Ich wies auf die Stelle an ihrem Körper, und Grille schien augenblicklich das Interesse zu verlieren. »Ach das«, sagte sie noch einmal wegwerfend. Sie band das Schamtuch ab und bewegte sich, damit ein Mondstrahl auf ihren Unterleib schien. Dann schob sie mit den Fingern die Lippen ihres Tipíli auseinander, warf einen gleichgültigen Blick auf das perlenartige Xacapili und sagte: »Kinderspielzeug …«
»Was?«
»Ein Mädchen lernt sehr früh, daß dieses kleine Ding sehr empfindsam und erregbar ist, und sie benutzt es oft. Ja, so wie du es jetzt mit den Fingerspitzen machst, Tenamáxtli. Aber wenn das Mädchen reifer wird, langweilt sie diese kindliche Spielerei, und sie findet das unfraulich. Außerdem hat Kuku uns darauf aufmerksam gemacht, daß so etwas die Kräfte und die Ausdauer schwächt.« Sie seufzte leise. »O ja, eine erwachsene Frau macht es hin und wieder. Ich auch … genau wie du gerade bei mir.« Sie lächelte versonnen. »Aber ich mache es nur, um Erleichterung zu finden, wenn ich unter Spannung stehe oder schlecht gelaunt bin. Es ist so, als kratzt man sich an einer Stelle, die juckt.« Sie lachte.
Ich seufzte. »Was für schreckliche Worte du benutzt, um ein Gefühl zu beschreiben, welches das höchste aller Gefühle sein kann. Eure Kuku hat unrecht. Das Lieben kann belebend wirken, so daß du bei allem anderen, was du tust, sehr viel mehr Kraft und Befriedigung hast. Aber lassen wir das. Sag mir nur eins. Wenn ich dich hier berühre, ist es dann so, als wenn du dich kratzt, weil es juckt?«
»N … nein«, hauchte sie. »Ich spüre … was ich auch spüre … es ist ganz anders …«
Ich versuchte, meine eigene Erregung zu unterdrücken, damit ich so nüchtern klang wie ein Ticitl bei einer Untersuchung, und fragte: »Aber ist es ein schönes Gefühl?« Sie erwiderte kaum hörbar: »Ja …« Ich küßte sie dort, wo sich meine Hand befand, und zog dann die Hand weg. Sie zuckte zusammen und keuchte: »Nein! Du kannst nicht … so wird es nicht …o doch, so! Doch, du kannst. Und ich … ich kann!« Es dauerte eine Weile, bis Grille sich wieder gefangen hatte. Sie atmete so schwer, als sei sie gerade vom Meeresgrund aufgetaucht, als sie stöhnte: »Uiikíiki! Nie … wenn ich selbst … ist es nie so gewesen!«
»Dann laß uns das lange Versäumte jetzt richtig und in aller Ruhe nachholen«, schlug ich vor, und ich tat Dinge, die sie noch zweimal in diese Tiefen stürzten oder Höhen katapultierten, bevor ich sie spüren ließ, daß auch ich, falls es gewünscht wurde, bereit wäre. Und als es erwünscht war, wurde ich von einem Geschöpf umarmt, umschlossen und verschlungen, das so geschmeidig und wendig, so beweglich und gelenkig war wie ein Seelöwe, der in seinem Element ist. Als es vorüber war, kam sie mit ihrer unerschöpflichen Lunge natürlich vor mir wieder zu Atem. Ich lag immer noch kraftlos da, als Ixinatsi in ihren Unterschlupf kroch, wieder daraus hervorkam und mir etwas in die Hand drückte. Es schimmerte im silbernen Mondlicht wie ein Stück Mond.
»Eine Kinú bedeutet ein liebendes Herz«, flüsterte sie mir ins Ohr und küßte mich.
»Mit dieser Perle«, erwiderte ich schwach, »könntest du dir vieles kaufen … zum Beispiel ein richtiges Haus. Ich meine, ein sehr gutes und stabiles, das nicht vom Sturm davongeweht wird.«
»Ich wüßte nicht, was ich mit einem Haus anfangen sollte. Aber ich weiß jetzt, wie ich Akuáreni genießen kann. Die Kinú ist mein Dank dafür, daß du es mir gezeigt hast.«
Bevor ich Luft holen konnte, um etwas zu erwidern, war sie aufgesprungen und rief über den Baumstamm hinweg: »Maruuani!«
Das war die junge Frau in dem Unterschlupf auf der anderen Seite. Ich dachte, Grille wolle sich wegen der zweifellos unvertrauten Geräusche entschuldigen, die wir von uns gegeben hatten.
Statt dessen rief sie: »Komm herüber! Ich habe etwas ganz Wunderbares entdeckt!«
Maruuani kam um die Baumwurzeln herum und kämmte sich scheinbar gelangweilt die Haare. Sie tat, als sei sie überhaupt nicht neugierig, doch als sie uns beide nackt sah, zog sie die Augenbrauen hoch. Sie sagte zu Ixinatsi: »Es hat geklungen, als hättet ihr euch vergnügt.« Dabei sah sie jedoch mich an.
»Genauso ist es!« erwiderte Grille fröhlich. »Wir haben uns … miteinander vergnügt. Hör zu!« Sie rückte näher und flüsterte der anderen Frau etwas zu, die mich immer noch ansah und deren Augen immer größer wurden. Ich lag da, wurde beschrieben und erörtert, und ich kam mir beinahe vor wie ein bisher unbekanntes Meereswesen, das gerade an den Strand getrieben worden war und eine Sensation hervorrief.
Ich wiederhole, ich liebte Ixinatsi von ganzem Herzen, schon bevor wir uns körperlich liebten. Ich hatte an diesem Abend bereits beschlossen, sie und ihre kleine Tochter mitzunehmen, wenn ich die Insel verließ. Ich würde sie dazu überreden, wenn das möglich war. Nun hatte ich festgestellt, daß Grille für die körperliche Liebe war, und das hatte mich in meinem Entschluß noch bestärkt.
So kam es, daß sich mein Aufenthalt auf den Inseln unbegrenzt verlängerte. Ixinatsi verbreitete die Neuigkeit, daß das Leben tatsächlich mehr bot als Arbeit, Schlaf und das gelegentliche Spielen mit sich selbst. Die anderen Frauen wollten unbedingt das Geheimnis ebenfalls ergründen.
Kukú erhob empört Einwände, doch sie wurde wahrscheinlich zum ersten Mal während ihrer Herrschaft überstimmt. Und sie fand sich mit der neuen Lage ab, als sie feststellte, daß die Frauen merklich besser gelaunt waren und produktiver arbeiteten. Kukú stellte nur eine Bedingung: Das Akuáreni mußte auf die Abende und Nächte beschränkt bleiben. Dagegen hatte ich nichts einzuwenden, denn so konnte ich tagsüber schlafen und wieder zu Kräften kommen.
Ich will hier feststellen, daß ich mich nicht dazu bereit gefunden hätte, wenn Grille auch nur andeutungsweise eifersüchtig oder besitzergreifend gewesen wäre. Ich stimmte hauptsächlich zu, weil sie so glücklich schien, ihre Schwestern aufgeklärt zu haben, und stolz darauf war, daß ›ihr Mann‹ es tat. Um die Wahrheit zu sagen, ich hätte meine ganze Aufmerksamkeit lieber auf sie beschränkt, denn sie war und ist die einzige Frau in meinem Leben, die ich aufrichtig geliebt habe. Und ich wußte, daß sie mich ebenfalls liebte. Selbst Tiripetsi, die anfangs schüchtern war und die die Anwesenheit eines Mannes beunruhigt hatte, mochte mich inzwischen sehr. Außerdem, und das ist wichtig, waren die anderen Frauen der Inseln nicht so wie Ixinatsi. Sie unterschieden sich in nichts von jeder anderen Frau, mit der ich in meinem Leben geschlafen habe. Kurz gesagt, ich war so vernarrt in Grille, daß keine Frau je den Maßstäben gerecht werden konnte, die sie gesetzt hatte. Ich ließ mich nur mit den Frauen ein, weil sie wünschte, daß ich allen zur Verfügung stehe. Das tat ich mehr aus Pflichtbewußtsein als aus heftigem Verlangen und machte sogar eine Art Plan – jede zweite Nacht stand ich für eine der Frauen zur Verfügung, die Nächte dazwischen blieben allein Grille vorbehalten. Und das waren nicht nur Nächte der körperlichen Liebe.
Was Grille anging, so bin ich sicher, sie ahnte nicht, daß sie den anderen Frauen überlegen war. Nichts hätte jemals in ihr die Vermutung wecken können, daß Xochiquétzal sie bei ihrer Geburt gesegnet hatte. Natürlich ist es möglich, daß sie nicht als einzige Frau in der Geschichte der Menschheit von einer Göttin so bevorzugt worden war.
Von nun an würde ich nie mehr eine andere Geliebte suchen oder wollen, und sei sie auch noch so außergewöhnlich, denn ich hatte die außergewöhnlichste von allen.
Ich hätte sehr wohl die Übersicht darüber verlieren können, wie vielen Frauen ich Unterricht gab, wenn ich für meine Dienste nicht entschädigt worden wäre. Ich besaß schließlich fünfundsechzig Perlen, die größten und vollkommensten aus der Ernte des Jahres. Das hatte ich Grille zu verdanken. Sie bestand darauf, weil sie fand, daß es nur gerecht sei, wenn meine Schülerinnen mich jeweils mit einer Perle belohnten.
Nachdem ich allen in Frage kommenden Mädchen und Frauen mindestens einmal zu Diensten gewesen war und kein so dringendes Bedürfnis mehr nach mir bestand, fuhren die Frauen selbständig fort, die zahlreichen Möglichkeiten zu erforschen, mit denen sie sich Genuß verschaffen konnten.
In all dieser Zeit bemühte ich mich eifrig um Ixinatsi – nicht um ihre Liebe, denn wir wußten, daß wir uns liebten. Ich versuchte, sie zu überreden, mich in die EINE WELT zu begleiten und ihre Tochter, die ich inzwischen als meine eigene betrachtete, mitzunehmen. Ich bestürmte sie mit allen guten Gründen, die mir einfielen. Ich sagte ihr ehrlich, daß ich in meinem Reich das Gegenstück zu ihrer Kukú war und daß sie und Tiripetsi in einem richtigen Palast leben und Diener haben würden. Ich versicherte ihr, es werde ihnen an nichts fehlen, was sie brauchten oder wollten, und ich versprach ihr, sie müsse nie mehr nach Austern tauchen oder Seelöwen der Felle wegen enthäuten, sie müsse nie mehr fürchten, daß Stürme die Inseln verwüsteten, und sich auch nie mehr von Fremden am Strand vergewaltigen lassen.
»Ach, Tenamáxtli«, sagte sie mit einem bezaubernden Lächeln und einer Geste in Richtung des Lagers, »das hier genügt als Palast, solange du es mit uns teilst.« Ich war nicht ganz so ehrlich, denn ich unterließ es zu erwähnen, daß die Spanier den größten Teil der EINEN WELT besetzt hielten. Die Frauen der Inseln wußten noch nicht, daß es Weiße gab. Offensichtlich hatten auch die Männer aus Yakoreke nicht von den Spaniern gesprochen. Möglicherweise fürchteten sie, die Frauen könnten in der Hoffnung auf neue Geschäfte mit reicheren Händlern ihre Kinucha zurückhalten. Ich konnte nicht sicher sein, daß die Spanier Aztlan nicht bereits unterworfen hatten und mir sozusagen kein Kukudum geblieben war, mit dem ich Grille in die EINE WELT locken konnte. Doch ich war fest davon überzeugt, daß sie und Tiripetsi und ich irgendwo ein neues Leben beginnen konnten. Ich erzählte ihr Geschichten von den vielen schönen, üppig grünen und friedlichen Orten, die ich auf meinen Reisen gesehen hatte und wo wir drei uns niederlassen könnten.
»Aber Tenamáxtli, die Inseln sind mein Zuhause. Mach sie auch zu deinem Zuhause. Großmutter ist inzwischen an deine Anwesenheit gewöhnt. Sie wird nicht mehr verlangen, daß du gehst. Ist das nicht ein ebenso angenehmes Leben, wie wir es anderswo finden könnten? Die Stürme und die Fremden müssen wir nicht fürchten. Tiripetsi und ich haben bisher alle Unwetter überlebt, und das wirst du auch. Und die Fremden …« Sie lachte auf ihre unbeschreibliche Art. »Ach, du weißt, ich werde nie wieder mit einem von ihnen zusammensein. Ich gehöre dir.«
Ich versuchte vergeblich, ihr das abwechslungsreichere Leben auf dem Festland vor Augen zu führen – den Überfluß an Nahrung und Getränken, die Zerstreuungen, die Reisen, die Ausbildung unserer Tochter, die Möglichkeiten, neue Menschen kennenzulernen, die sich sehr von allen unterschieden, die sie kannte. »Grille«, sagte ich, »du und ich, wir können dort Kinder bekommen, damit die kleine Tiripetsi nicht allein ist. Sogar Brüder. Hier kann sie nie einen Bruder haben.« Ixinatsi seufzte, als sei sie meiner beharrlichen Bitten überdrüssig, und sagte: »Sie kann nichts vermissen, was sie nie gehabt hat.«
Ich fragte ängstlich: »Bist du böse auf mich?«
»Ja, ich bin böse«, sagte sie, aber sie lachte gleich wieder fröhlich und unbekümmert. »Paß auf, ich gebe dir alle deine Küsse zurück.« Sie begann, mich zu küssen, und küßte mich immer wieder, sobald ich versuchte, etwas zu sagen.
Mit süßem Eigensinn wischte sie jedes meiner Argumente beiseite oder widerlegte es. Eines Tages tat sie das mit dem Hinweis auf meine derzeitige beneidenswerte Lage.
»Begreifst du nicht, Tenamáxtli, daß jeder Mann vom Festland vor Freude Luftsprünge machen würde, wenn er mit dir tauschen könnte? Hier hast du nicht nur mich, die dich liebt und mit der du schlafen kannst.«
Ich war kaum geeignet, Moral zu predigen. Ich konnte nur in aller Aufrichtigkeit beteuern: »Aber ich will nur dich!«
Jetzt muß ich etwas Beschämendes gestehen. Ich begann, ernsthaft an meiner Sache zu zweifeln. Ich war verunsichert und verlor mich immer mehr in der unerschöpflichen Liebe zu dieser einzigartigen Frau. Als mir das eines Morgens bewußt wurde, zog ich mich den ganzen Tag in den Wald zurück, um nachzudenken. Und meine Gedanken zeigten zu meiner Schande, daß ich angesichts der Liebe, die ich gefunden hatte, zum ersten Mal in meinem Leben kapitulierte. Ich will nur sie. Ich bin ihr Gefangener, ich bin von ihr besessen, ich bin in sie vernarrt. Wenn ich sie gegen ihren Willen mitnehme, wird sie mich nicht mehr lieben. Wohin sollte ich sie überhaupt bringen? Was erwartet mich dort? Nur ein blutiger Krieg, nur töten oder getötet werden. Warum soll ich nicht tun, was sie sagt, und auf diesen schönen Inseln bleiben?
Hier hatte ich Frieden, Liebe und Glück. Die anderen Frauen beanspruchten mich immer weniger, nachdem der Reiz des Neuen verflogen war. Ixinatsi, Tiripetsi und ich konnten eine eigenständige, unabhängige Familie bilden. Da ich mit einer der geheiligten Traditionen der Inseln gebrochen hatte und hier lebte, was noch keinem Mann zuvor gestattet worden war, glaubte ich, auch andere Regeln brechen zu können. In meinem Fall hatte niemand auf die alte Kuku gehört, und sie würde ohnehin nicht ewig leben. Ich hatte die große Hoffnung, die Frauen von ihrer männerhassenden Göttin Neumond abzubringen und sie zur Verehrung der freundlicheren Coyolxaúqui, der Göttin des großherzigen Vollmondes, zu bekehren. Ich schwor, daß Knaben nach der Geburt nicht länger den Austern gefüttert würden. Grille und ich und all die anderen durften Söhne haben. Ich würde schließlich der Patriarch eines Inselreiches und sein gütiger Herrscher sein.
Die Spanier mochten inzwischen sehr wohl die gesamte EINE WELT überrannt haben, und ich konnte nicht hoffen, etwas zu erreichen, wenn ich dorthin zurückkehrte. Hier würde ich meine eigene EINE WELT haben, und es konnten viele Jahre vergehen, bis Spanier, die weiter ins Unbekannte vorstießen, die Inseln zufällig entdeckten. Selbst wenn die Weißen so weite Teile des Festlands unterworfen hatten oder irgendwann unterwarfen, daß es den Fischern von Yakóreke nicht mehr möglich war, zu den Inseln zu fahren, würden sie deren Lage bestimmt nicht verraten. Wenn sie nicht mehr kamen, nun, ich kannte den Weg zur Küste. Ich und später meine Söhne konnten verstohlen zur Küste paddeln, um die lebensnotwendigen Dinge wie Messer, Kämme und so weiter zu beschaffen, die mit Perlen bezahlt werden mußten … So schändlich dachte ich darüber nach, die Mission aufzugeben, die mich all die Jahre erfüllt hatte, seit ich Zeuge geworden war, wie man meinen Vater verbrannt hatte. Diese Mission hatte mich auf viele Straßen, in viele Gefahren und viele Abenteuer geführt. So verräterisch versuchte ich, mich zu rechtfertigen. Ja, ich gestehe, ich wollte meinen Plan aufgeben. Ich wollte darauf verzichten, meinen Vater zu rächen und alle anderen meines Volkes, die durch die Weißen gelitten hatten. So schändlich versuchte ich, mir Entschuldigungen dafür auszudenken, daß ich bereit war, die vielen Menschen zu vergessen. Citláli und ihr Kind Ehécatl, die tapfere Pakápeti, den Cuachic Comitl, den Tícitl Ualíztli und die vielen anderen, die das Leben verloren hatten, als sie mich dabei unterstützten, mein Ziel zu erreichen und Rache zu nehmen.
So verabscheuenswürdig suchte ich nach guten Gründen dafür, den Ritter Nochéztli und mein unter großen Mühen, Gefahren und Schwierigkeiten zusammengestelltes Heer, ja, alle Völker der EINEN WELT im Stich zu lassen …
Ich schäme mich seit diesem Tag, daß ich auch nur daran dachte, eine solche Schande über mich zu bringen. Ich hätte auf den Inseln der Frauen das Rennen verloren, das ich nie gelaufen war.
Heute bezweifle ich, daß ich lange mit meiner Schande hätte leben können, wenn ich mich tatsächlich Ixinatsis Liebe und den Annehmlichkeiten der Inseln überlassen hätte. Ich hätte mich zuerst selbst gehaßt. Dann hätte sich mein Haß auf Grille ausgedehnt, weil sie mich so weit gebracht hatte, daß ich mich haßte. Was ich vielleicht aus Liebe getan hätte, wäre der Tod dieser Liebe gewesen.
Zu meiner größten Schande kann ich nicht einmal voll Überzeugung behaupten, ich sei nicht bereit gewesen, auf meine Mission und auf meine Ehre zu verzichten, denn wie es das Schicksal wollte, trafen die Götter die Entscheidung an meiner Stelle.
Ich kehrte vor Einbruch der Dämmerung ans Meer zurück. Die Taucherinnen wateten gerade mit den letzten Körben des Tages an den Strand. Ixinatsi war unter ihnen, und als sie sah, daß ich sie erwartete, rief sie fröhlich und mutwillig und mit einem vielsagenden Lächeln: »Ich glaube, mein Liebling Tenamáxtli, ich schulde dir zumindest noch eine Kinú. Ich werde auf der Stelle tauchen und dir die Kukú aller Perlen bringen.«
Sie drehte sich um und schwamm zum nächsten Felsen, auf dem sich ein paar Seelöwen träge den glänzenden Pelz von den letzten schrägen Sonnenstrahlen wärmen ließen.
Ich rief ihr nach: »Komm zurück, Grille! Ich will mit dir reden.«
Sie hat mich nicht gehört. Golden glänzend wie die Tiere um sie herum stand sie strahlend und schön auf der Klippe, winkte mir fröhlich zu, tauchte ins Meer und kam nie wieder nach oben.
Als mir schließlich klar wurde, daß selbst die Frau mit der stärksten Lunge nicht so lange hätte unter Wasser bleiben können, stieß ich einen lauten Schrei aus. Alle anderen Taucherinnen, die noch an seichten Stellen am Ufer standen, wateten erschrocken durch das hoch aufspritzende Wasser an Land, weil sie vermutlich glaubten, ich hätte die Rückenflosse eines Hais gesehen. Nach einigem Zögern schwammen die Mutigen von ihnen wieder zurück zu der Stelle, auf die ich wies und wo Ixinatsi ins Wasser gesprungen war. Sie tauchten bis zur Erschöpfung immer und immer wieder, ohne sie zu finden oder einen Hinweis darauf, was ihr zugestoßen war. »Unsere Frauen«, sagte eine brüchige Stimme neben mir, »werden nicht alle so alt wie ich.«
Es war Kukú, die natürlich eilends herbeigekommen war. Sie hätte mir heftige Vorwürfe machen können, weil ich den Frieden in ihrem Reich gestört hatte und mitschuldig an Grilles Tod war. Doch die Worte der alten Frau klangen, als wollte sie mich trösten. »Kinu-Tauchen ist mehr als harte Arbeit«, sagte sie. »Es ist sehr gefährlich. Dort unten lauern räuberische Fische mit spitzen Zähnen oder Giftstacheln. Andere haben Tentakel, die sich um einen Menschen schlingen und ihn nicht mehr loslassen.« Sie stieß einen langen und tiefen Seufzer aus. »Ich glaube allerdings nicht, daß Ixinatsi einem solchen Fisch zum Opfer gefallen ist. Wenn sich Räuber in der Nähe befinden, warnen uns die Seelöwen durch ihr Bellen. Es ist leider wahrscheinlicher, daß sie verschlungen worden ist.«
»Verschlungen?« wiederholte ich, wie vom Donner gerührt. »Kukú, wie kann eine Frau vom Meer verschlungen werden, in dem sie ihr halbes Leben verbracht hat?«
»Nicht vom Meer … von der Kuchúnda.«
»Was ist die Kuchúnda?«
»Eine riesige Molluske, wie eine Auster oder eine Muschel, nur sehr viel größer. Sie ist so groß wie der Felsen, auf dem die Seelöwen dösen, und groß genug, um einen Seelöwen zu verschlingen. Hier in der Nähe gibt es mehrere Kuchúndachas, und wir wissen nicht immer, wo sie sich aufhalten, denn sie können wie Schnecken kriechen. Aber sie sind sichtbar, und man kann sie erkennen. Die Kuchúnda hat die große obere Schale wie eine Falle immer weit geöffnet, um sie über einer unvorsichtigen Beute zuschnappen zu lassen. Deshalb halten unsere Frauen gebührenden Abstand zu ihnen. Ixinatsi muß ganz von ihrer Arbeit in Anspruch genommen gewesen sein. Vielleicht hat sie eine außergewöhnliche Kinu gesehen, denn das kommt manchmal vor, wenn eine Auster mit geöffneten Schalen daliegt. Deshalb war sie unvorsichtig und hat vermutlich in ihrer Wachsamkeit nachgelassen …«
Ich sagte niedergeschlagen: »Sie hat vorher versprochen, eine außergewöhnliche Perle für mich heraufzubringen.«
Die alte Frau zuckte die Schultern und seufzte: »Die Kuchúnda hat bestimmt ihre Schale geschlossen, als Ixinatsi sich ganz oder zum größten Teil in ihr befand. Da sie nicht kauen kann, verdaut sie das Opfer langsam mit ihren zersetzenden Säften.«
Mich schauderte bei der Vorstellung, und ich verließ unglücklich den Platz, von dem aus ich meine geliebte Grille zum letzten Mal gesehen hatte. Auch die Frauen wirkten traurig, doch sie klagten und weinten nicht. Sie schienen den Unglücksfall hinzunehmen, als sei er nichts Ungewöhnliches, sondern eher etwas Alltägliches.
Der kleinen Tiripetsi hatte man bereits gesagt, daß ihre Mutter nicht wiederkommen werde, aber auch sie weinte nicht, so wie ich nicht weinte. Ich trauerte schweigend und verfluchte stumm die Götter, die sich wieder einmal ungebeten in mein Leben eingemischt hatten. Wenn sie in entscheidenden Augenblicken eingreifen mußten, um mich mit Nachdruck und Strenge auf den Weg und die Tage meiner Zukunft hinzuweisen, so haderte ich, denn sie hätten es tun können, ohne das Leben der unschuldigen, lebenslustigen und wundervollen Grille auf so schreckliche Weise zu beenden. Ich nahm von Tiripetsi und Kukü Abschied, aber von keiner der anderen Frauen, damit sie nicht versuchen würden, mich zurückzuhalten. Dorthin, wo ich ging, konnte ich das Kind nicht mitnehmen, und ich wußte, alle seine Tanten und Cousinen auf den Inseln würden sich liebevoll seiner annehmen.
Im Morgengrauen legte ich den schönen Pelzmantel um, den Ixinatsi für mich gemacht hatte, nahm meinen Beutel mit Perlen und ging zur Südspitze der Insel. Dort erwartete mich mein Acali, beladen mit den Vorräten, mit denen Ixinatsi es versehen hatte.
Ich legte bei Sonnenaufgang ab und paddelte in Richtung Osten.
Deshalb sind die Inseln der Frauen immer noch die Inseln der Frauen, obwohl ich überzeugt bin, daß es in den Nächten dort jetzt lustiger zugeht. Keiner der Fischer aus Yakóreke, der nach mir kam, konnte Grund haben, wegen meines Aufenthalts böse zu sein. Die Männer, die kurz nach mir die Inseln besuchten, waren kaum in der Lage, Kinder zu zeugen, denn bestimmt war jede mögliche Mutter schon im Begriff, tatsächlich Mutter zu werden.
Die Frauen werden die Fischer bestimmt mit solcher Ausgelassenheit begrüßt und sie so leidenschaftlich und hingebungsvoll unterhalten haben, daß es undankbar von ihnen gewesen wäre, sich über einen geheimnisvollen Fremden zu beklagen, der vor ihnen auf den Inseln gewesen war.
Doch als ich die Inseln der Frauen verließ, dachte und hoffte ich, es werde nicht für immer sein. Irgendwann, wenn ich alles getan und überlebt haben würde, was ich tun mußte … irgendwann, wenn sich meine Tage ihrem Ende zuneigten …