24
Während wir auf das Eintreffen der Männer der anderen Yaki-Stämme warteten, nutzten Machíhuiz, Acocótli und ich die Zeit, um den Mayo-Kriegern von Bakúm eine Art Ausbildung zu geben. Das heißt, wir griffen sie mit unseren Schwertern und Spießen, die Obsidianspitzen hatten, an, damit sie lernten, solche Attacken mit ihren primitiven Waffen abzuwehren. Ich rechnete nicht damit, daß die Yaki jemals gegen die Männer meines Heeres kämpfen würden. Doch ich war ziemlich sicher, wenn mein Heer einen großen Angriff gegen die Spanier führte, würden die Weißen ihre Reihen durch viele ihrer Verbündeten verstärken, etwa der Texcaltéca, welche die spanischen Soldaten bei der Einnahme von Tenochtitlan unterstützt hatten. Diese Verbündeten würden keine Arkebusen tragen, sondern Maquáhuime, Speere, Spieße und Pfeile, mit Klingen oder Spitzen aus Obsidian.
Es war langwierig und mühsam, die Yoem’sontáom ohne jemanden auszubilden, der meine Befehle, Anweisungen und Ratschläge übersetzte. Doch Krieger aller Völker, vermutlich sogar die der Weißen verstehen instinktiv die Bewegungen und Gesten der anderen. Deshalb fiel es den Mayo nicht allzu schwer, die Kriegskunst der Azteca mit ihren Stößen und Hieben, Finten und Rückzügen zu erlernen. Sie lernten schließlich sogar so gut, daß wir drei immer wieder blaue Flecken von ihren schweren Holzkeulen davontrugen und sie uns mit ihren Dreizackspeeren mit den Feuersteinspitzen Stiche und Kratzer beibrachten. Natürlich standen wir ihnen in nichts nach. Deshalb bat ich den Tícitl Ualíztli, bei unseren Übungen immer anwesend zu sein, damit er notfalls seine Künste anwendete.
Währenddessen verschwendete ich keinen Gedanken an G’nda Ké, bis eines Tages eine Frau zu mir kam und mich schüchtern am Arm zupfte.
Sie führte mich und Ualíztli zu der kleinen Schilfhütte, die man G’nda Ké überlassen hatte. Ich trat als erster ein. Doch bei dem Anblick, der sich mir bot, wich ich sofort wieder zurück und bedeutete dem Ticitl, er möge vorausgehen. G’nda Kés Krankheit war eindeutig nicht vorgetäuscht. Sie schien dem Tode so nahe, wie es die Dorfbewohner vorausgesehen hatten.
Sie lag nackt und schweißbedeckt auf einem Binsenlager. Ihr Körper war seltsam aufgebläht, aber nicht nur an den Stellen, wo gut genährte Frauen oft dick sind, sondern überall – Nase, Lippen, Finger, Zehen. Selbst ihre Augenlider waren so geschwollen, daß sie die Augen praktisch verschlossen. So wie sie es mir einmal gesagt hatte, war G’nda Ké überall mit Sommersprossen bedeckt. Auf dem geblähten Körper waren diese Flecken jetzt so groß und deutlich sichtbar, daß die Haut wie das Fell eines Jaguars wirkte. Bei meinem ersten kurzen Blick war mir aufgefallen, daß der Mayo-Ticitl neben ihr hockte. Ich hatte das Gesicht des Mannes noch nie gesehen, doch selbst die grimmige Maske, die er trug, schien einen verwirrten und ratlosen Ausdruck angenommen zu haben. Er schüttelte seine Heilrassel nur langsam und teilnahmslos.
Ualíztli tauchte wieder aus der Hütte auf. Auch er schien fassungslos. Ich fragte ihn: »Was können sie ihr nur zu essen gegeben haben, daß sie so ungeheuer dick geworden ist? Bei den Yaki habe ich noch keine Frau gesehen, die auch nur halb so gut genährt gewesen wäre.«
»Sie ist nicht dick, Tenamáxtzin«, erwiderte er. »Sie ist von giftigen Säften aufgedunsen.«
Ich rief ungläubig: »Kann das der Biß einer kleinen Spinne bewirken?«
Er sah mich schief an. »Sie behauptet, Ihr hättet sie gebissen, Herr.«
»Wie?!«
»Sie leidet entsetzliche Qualen. Auch wenn wir alle diese Frau gehaßt haben, so zweifle ich nicht daran, daß Ihr jetzt ein wenig Mitleid zeigen werdet. Wenn Ihr mir sagt, was für ein Gift Ihr auf Eure Zähne aufgetragen hattet, bin ich vielleicht in der Lage, ihr das Sterben zu erleichtern.«
»Bei allen Götternl« rief ich empört. »G’nda Ké ist mehr als verrückt, das weiß ich schon lange! Aber hast du auch den Verstand verloren?«
Er wich ängstlich zurück und stammelte. »Sie hat eine große klaffende und eiternde Wunde am Fußgelenk …« Ich sagte mit zusammengebissenen Zähnen: »Ich gebe zu, ich habe oft darüber nachgedacht, wie ich G’nda Ké umbringen könnte, wenn sie nicht mehr von Nutzen für mich sein würde. Aber sie beißen, damit sie stirbt? Kannst du dir in deinen kühnsten Vorstellungen ausmalen, daß ich diese Schlange mit dem Mund berühren würde? Sollte ich das jemals getan haben, wäre ich jetzt vergiftet! Ich würde leiden, ich hätte eine eiternde Wunde und würde sterben!« Ich schüttelte energisch den Kopf. »Sie ist beim Holzsammeln von einer Spinne gebissen worden. Da kannst du alle diese Weiber fragen, die sich zuerst um sie gekümmert haben.« Ich wollte die Hand nach der Mayo-Frau ausstrecken, die uns geholt hatte und mich jetzt unentwegt angsterfüllt anstarrte. Aber ich unterließ es, denn mir wurde klar, daß sie meine Frage weder verstehen noch beantworten konnte. Statt dessen ließ ich die Arme sinken, während Ualiztli sich beeilte, mir zu versichern: »Ja, ja, Tenamáxtzin, eine Spinne. Ich glaube Euch. Ich hätte es wissen müssen, daß die Hexe selbst auf dem Totenbett schamlos lügt.«
Ich holte mehrere Male tief Luft, um mich zu beruhigen, bevor ich erwiderte: »Sie will bestimmt, daß diese Anschuldigung den Yo’otui zu Ohren kommen. Sie mögen alle Frauen für wertlos halten, aber G’nda Ké ist eine Mayo. Wenn sie ihrer Lüge Glauben schenken, könnten sie mir als Rache die zugesagte Unterstützung verweigern. Lassen wir sie sterben.«
Er nickte und verschwand wieder in der Hütte. Ich folgte ihm. Doch ich schauderte bei ihrem Anblick und ekelte mich vor dem Verwesungsgestank, der von ihr ausging und den ich jetzt wahrnahm.
Ualiztli kniete neben dem Lager und fragte: »War die Spinne, die dich gebissen hat, groß und behaart?« Sie schüttelte den dicken gefleckten Kopf, wies mit dem wulstigen Finger auf mich und krächzte: »Er …« Sogar der Mayo-Ticitl mit der Holzmaske schüttelte ungläubig den Kopf.
»Dann sag mir, wo du Schmerzen hast«, wollte Ualiztli wissen.
»G’nda Ké hat überall Schmerzen«, murmelte sie undeutlich. »Wo sind die Schmerzen am schlimmsten?«
»Im Bauch«, keuchte sie. In diesem Augenblick wurden die Schmerzen noch heftiger. Sie verzog das Gesicht, schrie laut auf, warf sich zur Seite und krümmte sich zusammen, so gut es ihr gelang, wobei der geblähte Bauch in dicken Wülsten an ihr hing.
Ualiztli wartete, bis der Anfall abgeklungen war, bevor er fragte: »Hast du Schmerzen an den Fußsohlen?« Sie hatte sich noch nicht so weit erholt, daß sie sprechen konnte, doch sie nickte mit dem Kopf. »Aha!« Der Ualiztli schien zufrieden und stand auf. Ich fragte staunend: »Das sagt dir etwas? Die Fußsohlen?«
»Ja. Diese Art Schmerzen kommen vom Biß einer bestimmten Spinne. Bei uns im Süden begegnen wir diesem Tier selten. Wir sind mehr an die große, haarige Spinne gewöhnt, die bedrohlicher aussieht, als sie in Wahrheit ist. Doch in den nördlicheren Regionen findet man eine tödliche Spinne, die nicht groß ist und auch nicht besonders gefährlich aussieht. Sie ist schwarz und hat eine rote Zeichnung auf der Unterseite.«
»Dein Wissen erstaunt mich immer wieder, Ualiztli.«
»Man versucht, auf seinem Gebiet gut unterrichtet zu sein«, erwiderte er bescheiden, »indem man sich über seine Kenntnisse mit anderen Ticiltin austauscht. Ich habe gehört, daß das Gift dieser schwarzen Spinne das Fleisch ihres Opfers zersetzt, damit sie es leichter fressen kann. Das erklärt die klaffende Wunde am Bein. Inzwischen hat das Gift den ganzen Körper erfaßt. Das Gift verflüssigt im wahrsten Sinne des Wortes alles.« Er dachte nach und fügte dann hinzu: »Eigenartig, ich hätte eine so umfassende Zersetzung höchstens bei einem kleinen Kind oder bei einem alten, gebrechlichen Menschen erwartet.«
»Was kannst du dagegen tun?«
»Den Vorgang beschleunigen«, murmelte Ualiztli so leise, daß nur ich es hörte.
Auch G’nda Kés Augen richteten sich auf den Arzt, und ihr Blick fragte ängstlich durch die geschwollenen Lider: Gibt es Rettung?
Der Ualiztli antwortete laut: »Ich werde einige Medikamente holen.« Damit verließ er die Hütte. Ich stand neben dem Lager und blickte auf die aufgedunsene Frau hinunter. Sie war wieder so weit zu Atem gekommen, daß sie sprechen konnte. Ihre Worte waren abgehackt, und die Stimme klang krächzend und tonlos. »G’nda Ké darf nicht … hier sterben.«
»Hier ist es so gut wie überall sonst«, erwiderte ich kalt. »Es sieht aus, als habe dich dein Tonáli in diesem Dorf an das Ende deines Weges und deiner Tage gebracht. Die Götter sind sehr viel einfallsreicher, als ich es sein könnte, wenn es darum geht, jemanden auf die richtige Weise zu beseitigen, der im Leben immer nur Böses getan hat.«
Sie wiederholte noch einmal und betonte dabei ein Wort besonders: »G’nda Ké darf nicht … hier sterben … bei diesen Wilden.«
Ich erwiderte achselzuckend. »Es ist dein Volk. Das ist dein Land. Eine Spinne, die in diesem Land heimisch ist, hat dich vergiftet. Ich finde es passend, daß du nicht von der Hand eines wütenden Menschen niedergestreckt wirst, sondern von einem der winzigsten Geschöpfe, das die Erde bewohnt.«
»G’nda Ké darf nicht … hier sterben«, wiederholte sie noch einmal, obwohl sie mehr mit sich als mit mir zu sprechen schien. »Hier wird man sich nicht an G’nda Ké erinnern. G’nda Ké war dazu bestimmt, daß man sich an sie erinnern würde. Es war G’nda Ké bestimmt, daß sie … irgendwo … herrschen würde. Mit dem -tzin an ihrem Namen …«
»Du irrst dich. Du vergißt, daß ich Frauen gekannt habe, die das -tzin verdienten. Aber du hast dich bis zum Ende bemüht, dir nur dadurch einen Namen in der Welt zu machen, indem du Schaden anrichtest. Trotz all deiner großartigen und hochtrabenden Pläne, trotz all deiner Lügen, deiner Schändlichkeiten und deiner Falschheit hat dein Tonáli bestimmt, daß du nicht mehr sein würdest als das, was du warst und jetzt bist – klein und giftig wie eine Spinne.«
Endlich kam Ualíztli zurück und streute Piciétl-Krümel in die offene Wunde am Bein. »Das wird den Schmerz an dieser Stelle betäuben. Und hier, trink das.« Er hielt ihr eine ausgehöhlte Kürbisschale an die geschwollenen Lippen. »Es wird schnell dafür sorgen, daß du die anderen Schmerzen nicht spürst.«
Als er sich aufrichtete und wieder neben mir stand, knurrte ich: »Ich habe dir nicht erlaubt, ihre Qualen zu lindern. Sie hat anderen Menschen genug Leid und Schmerzen zugefügt.«
»Ich habe Euch nicht um Erlaubnis gebeten, Tenamáxtzin, und ich werde Euch nicht um Verzeihung bitten. Ich bin Arzt. Die Treue zu meinem Beruf steht selbst über meiner Ergebenheit Euch gegenüber, Herr. Kein Tícitl kann den Tod verhindern, aber er kann es aus Gewissensgründen ablehnen, ihn hinauszuzögern. Die Frau wird einschlafen und im Schlaf sterben.« Also schwieg ich und beobachtete, wie sich G’nda Kés geschwollene Lider endgültig schlossen. Ich weiß, was als nächstes geschah, überraschte Ualíztli ebensosehr wie mich und den anderen Tícitl.
Aus der Wunde an G’nda Kés Bein begann plötzlich eine Flüssigkeit zu sickern. Es war kein Blut, sondern eine klare, wäßrige Flüssigkeit. Es folgte eine dickflüssigere Absonderung, immer noch klar, aber so übelriechend wie die Wunde. Aus dem Tropfen wurde ein Fließen, und bald darauf war der Gestank in der Hütte schlimmer als zuvor. Dann begann diese Flüssigkeit auch aus ihrem Mund, aus den Ohren und der Nase zu rinnen. Die Schwellung ihres Leibes ging langsam, aber sichtbar zurück. Während sich die straff gespannte Haut zusammenzog, wurden die Jaguarflecken wieder zu einer Unzahl gewöhnlicher Sommersprossen. Dann schienen sie zu verschwinden, während sich die Haut in Falten und Fältchen und Runzeln legte. Die Flüssigkeit floß inzwischen aus dem ganzen Körper. Ein Teil versickerte in der Erde des Hüttenbodens. Der Rest bildete eine dicke schleimige Schicht, vor der wir drei vorsichtig und angeekelt zurückwichen.
G’nda Kés Gesichtszüge schwanden, bis nur noch formlose Haut den Schädel umhüllte, dann lösten sich alle Haare davon ab. Aus dem Fließen wurde wieder ein Sickern, und schließlich war der ganze Hautsack leer, der einmal G’nda Ké gewesen war. Der Yaki-Ticitl stieß einen Schrei nackten Entsetzens aus und verschwand mit einem Satz aus der Hütte.
Ualiztli und ich beobachteten den Vorgang, bis es nichts mehr zu sehen gab, außer G’nda Kés Skelett, einigen Haarsträhnen und verstreuten Fingernägeln und Fußnägeln.
Betroffen sahen wir uns an.
»Sie wollte, daß man sich an sie erinnert«, sagte ich und bemühte mich, meiner Stimme einen festen Klang zu geben. »Dieser maskierte Mayo wird sich ganz bestimmt an sie erinnern. Was, im Namen Huitztlis, hast du ihr zu trinken gegeben?«
Ualiztlis Stimme klang ebenso unsicher wie meine, als er antwortete: »Das war nicht mein Werk oder das der Spinne. Es ist noch erstaunlicher als das, was dieser Pakápeti widerfahren ist. Ich wage zu behaupten, daß kein anderer Ticitl jemals etwas Ähnliches gesehen hat.« Er beugte sich vor und berührte eine Rippe des Skeletts. Sie brach sofort ab. Er hob sie vorsichtig hoch und betrachtete sie aufmerksam. Dann kam er zurück und zeigte sie mir.
»Das hier«, sagte er, »habe ich schon einmal erlebt. Seht her.« Er zerbrach die Rippe mühelos zwischen seinen Fingern. »Vielleicht erinnert Ihr Euch. Als die Krieger und Arbeiter der Mexica mit Eurem Onkel Mixtzin aus Tenochtitlan kamen, legten sie die großen Sümpfe um Aztlan trocken. Dabei gruben sie die Reste menschlicher und tierischer Skelette aus. Man zog den klügsten und ältesten Ticitl von Aztlan hinzu. Er untersuchte die Knochen und erklärte, sie seien alt, unglaublich alt, viele, viele Jahre alt. Er vermutete, daß es sich um die Überreste von Menschen und Tieren handelte, die vom Treibsand verschlungen worden waren, den es in längst vergessenen Zeiten an diesem Ort gegeben hatte. Ich lernte diesen Ticitl vor seinem Tod kennen. Er besaß immer noch einige der Knochen. Sie waren so spröde und mürbe wie diese Rippe.«
Wir blickten beide wieder auf G’nda Kés Skelett, das auf dem Boden lag und vor unseren Augen zerfiel. Ualiztlis Stimme klang ehrfurchtsvoll, als er flüsterte: »Weder ich noch die Spinne haben diese Frau getötet. Sie war seit vielen Jahren tot, Tenamáxtzin. Sie war schon lange gestorben, bevor wir beide, Ihr und ich, geboren wurden.«
Wir traten aus der Hütte und sahen, daß der Mayo-Ticitl laut schreiend durch das Dorf rannte. Er sah eher komisch aus mit der riesigen Maske, die würdevoll wirken sollte. Die anderen Mayo starrten ihn ungläubig an. Mir wurde bewußt, falls das ganze Dorf wegen der ungewöhnlichen Art von G’nda Kés Auflösung in Aufregung geraten sollte, hatten die Ältesten vielleicht doch noch einen Grund, mir zu mißtrauen. Deshalb beschloß ich, alle Spuren dieser Frau zu beseitigen. Ihr Tod sollte ein noch größeres Rätsel darstellen, damit es für den unglaublichen Bericht ihres Heilers keine Beweise gab. Ich wandte mich an Ualiztli: »Du hast gesagt, du hättest in deinem Sack eine brennbare Flüssigkeit.« Er nickte und zog einen gefüllten Lederbeutel hervor. »Das verteilst du überall in der Hütte.« Ich holte keinen glühenden Ast vom Kochfeuer, das ständig in der Mitte des Dorfes brannte, sondern zog verstohlen mein Brennglas hervor. Nach wenigen Augenblicken stand die Hütte aus Schilf und Rohr in Flammen.
Die Leute starrten voll Staunen auf die Hütte – ich und Ualiztli taten ebenfalls erstaunt, als die Hütte zusammen mit ihrem Inhalt zu Asche verbrannte. Ich habe möglicherweise den Ruf des Ticitl der Mayo, ein ehrlicher Mann zu sein, für immer zerstört. Doch die Dorfältesten ließen mich nicht rufen, um von mir eine Erklärung für die merkwürdigen Ereignisse zu verlangen. Und im Laufe der nächsten Tage trafen aus allen Richtungen die Krieger anderer Dörfer einzeln oder in kleinen Gruppen ein. Sie waren gut bewaffnet und wollten offenbar nichts anderes, als möglichst schnell in meinen Krieg zu ziehen.
Schließlich gab man mir mit Gesten zu verstehen, alle verfügbaren Männer seien nun versammelt, und so schickte ich sie mit Machihuiz nach Süden. Acocótli ging mit einem Yaki in den Norden, um meine Botschaft unter dem Wüstenvolk zu verbreiten. Ich hatte bereits beschlossen, daß Ualiztli und ich nicht den beschwerlichen Weg durch die Berge nach Chicomóztotl nehmen, sondern eine leichtere und schnellere Strecke suchen würden. Wir verließen Bakúm und zogen am Fluß entlang in Richtung Westen. Wir kamen durch die Dörfer Torím, Vikám, Potám und so fort – die Namen bedeuteten in der einfallslosen Art der Yaki nur Ort, also Ort im Wald, Ort der Ratte, Ort der Pfeilspitzen, Ort der Taschenratte und ähnliches, bis wir das Küstendorf Be’ene, den Ort am Hang, erreichten. Unter anderen Umständen wäre es für zwei Fremde tödlich gewesen, diesen Weg zu nehmen, doch die Yaki wußten inzwischen natürlich alle, wer wir waren, was wir hier im Land taten und daß wir den Segen der Yo’otui von Bakúm hatten.
Ich habe bereits erwähnt, daß die Männer der Káhita in Be’ene am Ufer des Westmeeres fischten. Die meisten Männer hatten das Dorf jedoch verlassen, um sich meinem Heer anzuschließen, und es waren gerade genug Fischer zurückgeblieben, um die Bewohner zu ernähren. Deshalb lagen eine Reihe der seetüchtigen Acáltin unbenutzt am Strand. Mit Hilfe von Gesten gelang es mir, einen dieser Einbäume und zwei Paddel auszuleihen. Ich hatte nie vor, das Gefährt zurückzugeben, und das ist auch nie geschehen. Ualiztli und ich beluden das Kanu reichlich mit Vorräten – Atóli, getrocknetes Fleisch, Fisch und Lederbeutel mit frischem Wasser. Wir verstauten sogar einen Dreizack der Fischer, damit wir unterwegs frischen Fisch fangen konnten, und einen braunen Tontopf voller Holzkohle zum Kochen unseres Fangs.
Ich beabsichtigte, nach Aztlan zu paddeln, das nach meiner Berechnung mehr als zweihundert Lange Läufe entfernt lag, wenn man auf dem Wasser von Läufen sprechen kann. Ich brannte darauf zu erfahren, wie es Améyatl ging, und Ualiztli wollte den anderen Ärzten unbedingt von dem aus medizinischer Sicht wundersamen Todesfall berichten, dessen Zeuge er in meiner Begleitung geworden war. Von Aztlan aus wollten wir landeinwärts ziehen, um in Chicomóztotl zu Ritter Nochéztli und unserem Heer zu stoßen. Ich vermutete, daß wir etwa um die gleiche Zeit dort ankommen würden wie die Krieger der Yaki und der To’ono O’otam. Ich kannte das Westmeer so hoch im Norden an der Grenze des Yaki-Landes nicht. Ich wußte nur von Alonso de Molina, daß die Spanier es Mar de Cortés nannten, weil der Marqués del Valle das Meer, nachdem er als Herr von Neuspanien abgesetzt worden war, bei seinem müßigen Herumziehen in der EINEN WELT entdeckt hatte. Wie sich jemand zu der anmaßenden Behauptung versteigen konnte, etwas entdeckt zu haben, was es seit Anbeginn der Zeiten gab, überstieg mein Vorstellungsvermögen. Die Fischer von Be’ene erklärten mir mit unmißverständlichen Gesten, sie fischten nur in Ufernähe, weil das Meer weiter draußen wegen starker, unberechenbarer Gezeitenströmungen und launenhafter Winde gefährlich sei. Diese Mitteilung erschreckte mich nicht übermäßig, denn ich wollte mich selbstverständlich auf dem ganzen Weg nah der Brandungslinie halten. Und das taten ich und Ualiztli dann auch viele Tage und Nächte lang. Wir paddelten gemeinsam, abwechselnd schlief einer von uns, während der andere alleine weiter paddelte. Das Wetter blieb freundlich, das Meer war ruhig, und die Reise während dieser vielen Tage war mehr als angenehm. Wir fingen regelmäßig Fische, von denen manche uns beiden unbekannt waren, aber köstlich schmeckten, wenn sie über der Holzkohle gebraten wurden, die ich mit meiner Linse entzündete. Wir sahen andere Fische, sogar diese Riesen, die Yeyemichtin genannt werden. Aber selbst wenn es uns irgendwie gelungen wäre, einen zu erlegen, so hätten wir einen Topf von der Größe des Kraters auf dem Popocatépetl gebraucht, um ihn zu kochen.
Manchmal knoteten wir unsere Mäntel so zusammen, daß wir sie hinter uns durch das Wasser ziehen konnten, um Garnelen und Krebse zu fangen. Es gab sogar fliegende Fische, die man nicht fangen mußte, weil beinahe jeden zweiten Tag einer in unserem Acáli landete. Außerdem schwammen große und kleine Schildkröten im Wasser, deren harter Panzer sie natürlich davor bewahrte, daß wir sie mit dem Speer erlegten. Ab und zu, wenn keine Menschen am Strand zu sehen waren, denen wir hätten Erklärungen abgeben müssen, gingen wir an Land, um Früchte, Nüsse und eßbare Pflanzen zu sammeln, die es im Überfluß gab, und um unsere Wassersäcke aufzufüllen. Lange Zeit lebten wir gut und freuten uns des Lebens.
Bis zum heutigen Tag wünsche ich beinahe, die Reise wäre auch weiterhin so friedlich verlaufen. Doch wie ich an anderer Stelle gesagt habe, Ualiztli war nicht jung. Ich will dem guten alten Mann keine Schuld an dem geben, was geschah und unsere heitere Fahrt nach Süden störte. Ich erwachte mitten in der Nacht mit dem unbestimmten Gefühl, länger als die mir zustehende Zeit geschlafen zu haben. Ich überlegte, weshalb Ualiztli mich nicht geweckt hatte, damit ich das Paddeln übernahm. Dicke Wolken verbargen den Mond und die Sterne, und die Nacht war so schwarz, daß ich nichts sehen konnte. Ich sagte etwas zu Ualiztli, dann wiederholte ich es laut und immer lauter, und da er nicht antwortete, mußte ich mich das ganze Acáli entlangtasten, nur um festzustellen, daß er und sein Paddel verschwunden waren. Ich werde nie erfahren, was aus ihm geworden ist. Vielleicht war ein Seeungeheur aus dem nächtlichen Meer aufgetaucht und hatte ihn so leise, daß ich nicht davon erwachte, gepackt und in die Tiefe gezerrt. Vielleicht hatte er einen der Anfälle bekommen, die bei alten Männern nicht selten sind, denn selbst Ticiltin sterben, und er war über den Rand des Kanus gefallen. Doch wahrscheinlicher ist, daß Ualiztli einfach eingeschlafen war und mit dem Paddel in der Hand über Bord gegangen war. Er hatte womöglich den Mund voller Wasser, bevor er um Hilfe rufen konnte, und war ertrunken. Ich hatte keine Ahnung, wie lange vor meinem Aufwachen das gewesen sein mochte und wie weit das Kanu inzwischen von der Unglücksstelle entfernt war. Mir blieb nichts anderes übrig, als dazusitzen und auf das erste Tageslicht zu warten. Ich konnte nicht einmal das zweite Paddel benutzen, denn ich wußte nicht, wie lange das Boot auf dem Wasser getrieben war oder in welcher Richtung das Land lag.
Üblicherweise wehte nachts ein auflandiger Wind. Bisher hatten wir unseren Kurs in der Dunkelheit gehalten, indem wir darauf achteten, daß der Wind auf der rechten Wange des Paddelnden stand. Doch der Windgott Ehécatl schien ausgerechnet in dieser Nacht, die nicht schlimmer hätte sein können, launisch zu sein. Es wehte nur eine leichte Brise, die mich zuerst auf der einen Gesichtshälfte, dann auf der anderen streifte. Bei der sanften Luftbewegung hätte ich eigentlich das Rauschen der Brandung hören müssen. Aber ich hörte nichts. Das Kanu schaukelte stärker als üblich – vermutlich hatte mich das geweckt. Deshalb fürchtete ich, weit vom sicheren Ufer abgetrieben zu sein.
Der erste Schimmer Tageslicht zeigte mir, daß genau das geschehen war und in einem beunruhigenden Maß immer noch geschah. Nirgends war Land zu sehen. Der helle Schimmer am Himmel ermöglichte mir wenigstens festzustellen, wo Osten lag. Ich griff zum Paddel und begann, verzweifelt und wie rasend zu paddeln. Aber ich konnte das Kanu nicht auf Kurs halten. Ich war von einer der Gezeitenströmungen erfaßt worden, von denen die Fischer gesprochen hatten. Selbst wenn es mir gelang, den Bug nach Osten, in Richtung Land zu halten, trieb ich in der Strömung ab. Ich versuchte, mich damit zu trösten, daß ich nach Süden getragen wurde, nicht wieder in den Norden oder – es war zu erschreckend, darüber nachzudenken – nach Westen und noch weiter hinaus auf das Meer, von wo kein Mensch jemals zurückgekommen war.
Ich paddelte den ganzen Tag und den folgenden und den nächsten und kämpfte darum, nach Osten zu gelangen, ohne dabei nach Süden abgetrieben zu werden. Schließlich konnte ich die Tage nicht mehr zählen. Ich machte nur Pausen, um hin und wieder einen Schluck Wasser zu trinken und einen Bissen zu essen. Ich setzte nur dann längere Zeit aus, wenn ich völlig erschöpft war, Krämpfe hatte oder die Augen nicht mehr offenhalten konnte. Doch wie oft ich auch erwachte und wieder zum Paddel griff, am Horizont im Osten tauchte kein Land auf. Schließlich gingen meine Vorräte an Wasser und Nahrung zur Neige. Ich war leichtsinnig gewesen. Ich hätte Fische fangen sollen, die ich roh hätte essen und aus denen ich trinkbare Säfte hätte pressen können. Als meine Vorräte erschöpft waren, fehlten mir bereits die Kräfte zum Fischen. Ich verwendete meine ganze verbliebene Energie auf das vergebliche Paddeln. Meine Gedanken begannen zu wandern, und ich stellte fest, daß ich laut Selbstgespräche führte: »Die abscheuliche G’nda Ké ist nicht wirklich gestorben. Warum hätte sie gerade jetzt sterben sollen, wenn niemand sie in all diesen vielen Jahre hat töten können?« Und: »Sie hat einmal gedroht, ich würde sie nie loswerden. Da sie nur gelebt hat, um Böses zu tun, kann sie sehr wohl so lange wie das Böse leben, und das muß bis zum Ende der Zeit sein.«
Und: »Sie hat Rache an uns genommen, weil wir zugesehen haben, wie sie scheinbar gestorben ist. Bei Ualiztli ist es schnell gegangen, an mir rächt sie sich langsam. Was sie wohl dem armen unschuldigen Ticitl dort in Bakúm Entsetzliches angetan hat …?«
Und schließlich: »Irgendwo sitzt sie und freut sich hämisch über meine hoffnungslose Lage, über meinen jämmerlichen Versuch, am Leben zu bleiben. Sie soll in Mictlan schmachten! Ich flehe die Götter an, ich möge sie dort niemals treffen.«
Dann sagte ich, in mein Los ergeben: »Ich vertraue mein Geschick den Göttern von Wind und Wasser an, und ich hoffe, nach meinem Tod Tonatiucan würdig zu sein …« Damit warf ich mein Paddel beiseite und streckte mich im Acáli aus, um zu schlafen, während ich auf das unvermeidliche Ende wartete.
Ich habe gesagt, ich wünschte beinahe bis zum heutigen Tag, die Reise wäre weiterhin so ereignislos verlaufen, wie sie begonnen hatte. Ich hätte den guten Ticitl Ualíztli nicht verloren, ich hätte bald Aztlan und die liebe Améyatl wiedergesehen, und danach wären Nochéztli, mein Heer und ich in den Krieg gezogen. Doch wenn sich alles so ereignet hätte, wäre ich nicht in das außergewöhnlichste aller Abenteuer meines Lebens getrieben worden, und ich hätte nicht die außergewöhnliche junge Frau getroffen, die ich mehr geliebt habe als alle anderen in meinem gesamten Leben.