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Eigentlich wollte ich den Notarius Alonso noch um einen anderen Gefallen bitten. Er sollte mir eine Arbeit empfehlen, mit der ich genug verdienen würde, um davon leben zu können. Doch als er mir anbot, im Colegio de San José spanisch zu lernen, beschloß ich, diese Frage nicht zu stellen. Ich würde so lange in der Mesón bleiben, wie die Mönche es erlaubten. Die Herberge befand sich neben dem Kollegium, und wenn ich für Essen und Unterkunft nicht arbeiten mußte, konnte ich alle Bildungsmöglichkeiten nutzen, die mir die Schule bot. Natürlich würde das kein Luxusleben sein. Zwei nicht gerade reichliche Mahlzeiten am Tag machten einen kräftigen jungen Mann meines Alters kaum satt. Ich würde mir etwas ausdenken müssen, um anständig gekleidet zu sein. Ich hatte außer dem, was ich auf dem Leib trug, nur zweimal Sachen zum Wechseln mitgebracht. Diese Sachen mußten immer wieder gewaschen werden. Doch ich mußte mich auch selbst täglich waschen können. Wenn ich die beiden Kundschafter aus Tépiz fand, würden sie mir vielleicht mit heißem Wasser und Amóli-Seife helfen können, selbst für den Fall, daß sie kein Dampfbad besaßen. Ich hatte eine beachtliche Zahl Kakaobohnen in meinem Beutel. Zumindest eine Zeitlang würde ich mir auf den einheimischen Märkten die lebensnotwendigen Dinge kaufen können und hin und wieder etwas, um die Mahlzeiten bei den Mönchen zu ergänzen.
»Wenn du willst, kannst du bis in alle Ewigkeit hier bleiben«, meinte Pochotl, der magere Mann, den ich wieder in der Herberge traf, als ich dorthin zurückkehrte und mich für das Abendessen anstellte. »Die Mönche werden nichts dagegen haben und es wahrscheinlich nicht einmal merken. Die Weißen betonen immer wieder, daß sie einen dreckigen Indio nicht vom anderen unterscheiden können. Ich schlafe hier, seit ich vor einigen Monaten mein letztes Gold und Silber verkauft habe, und lebe recht und schlecht von den beiden Mahlzeiten am Tag.« Wehmütig fügte er hinzu: »Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber ich war einmal beneidenswert dick.«
Ich fragte: »Was machst du mit der übrigen Zeit des Tages?«
»Manchmal habe ich Gewissensbisse, weil ich zu einem Schmarotzer geworden bin. Dann bleibe ich hier und helfe den Mönchen, die Kochtöpfe zu schrubben und den Schlafraum der Männer sauberzumachen. Die Frauenabteilung wird von ein paar Nonnen in Ordnung gehalten. Nonnen sind weibliche Mönche. Sie kommen vom Refugio de Santa Brígida, wie sie es nennen, zu uns herüber. Doch meistens laufe ich einfach durch die Stadt und erinnere mich daran, was in früherer Zeit gewesen ist, oder ich sehe mir auf dem Markt Dinge an, die ich gerne kaufen würde.« Er seufzte: »Mein Leben besteht nur noch aus Langeweile und Müßiggang.« Wir standen inzwischen vor den dampfenden Kesseln. Ein Mönch füllte gerade unsere Schalen – wieder mit Entensuppe – und gab jedem einen Bolillo, als, wie am Tag zuvor, im Osten fernes Donnergrollen ertönte.
»Sie sind wieder am See«, murmelte Pochotl, »und jagen Enten. Die Vogelfänger sind so pünktlich wie diese blödsinnigen Kirchenglocken, die mit ihrem Gebimmel den Tag in Stunden einteilen.« Ohne die Miene zu verziehen, ließ er sich die gefüllte Schale reichen. »Ayya, wir dürfen uns nicht beklagen! Wir bekommen schließlich unseren Anteil vom Fleisch.«
Ich ging mit meiner Schale und dem Brot in den Eßsaal und nahm mir vor, bald einmal in der Abenddämmerung zur Ostseite der Insel zu gehen, um zu sehen, aufwelche Weise die spanischen Vogelfänger die Enten erlegten. Pochotl kam in den Saal nach und setzte sich zu mir. »Ich gebe zu, daß ich ein Bettler und Müßiggänger bin. Aber was ist mit dir, Tenamáxtli? Du bist noch jung und stark. Ich glaube, du scheust dich nicht zu arbeiten. Warum willst du hier bei uns, den Ärmsten der Armen, bleiben?« Ich deutete auf das Kollegium nebenan. »Ich werde dort zur Schule gehen und spanisch lernen.«
»Wozu?« fragte er überrascht. »Du sprichst nicht einmal deine eigene Sprache besonders gut.«
»Es stimmt, das moderne Náhuatl dieser Stadt beherrsche ich nicht. Mein Onkel sagt, daß wir in Aztlan so sprechen, wie es vor langer Zeit üblich war. Aber bisher hat mich jeder verstanden, den ich hier getroffen habe. Außerdem ist dir vielleicht aufgefallen, daß viele der Leute, die hier übernachten und von weit im Norden aus den Gebieten der Chichiméca kommen, unterschiedliche Náhuatl-Dialekte sprechen. Trotzdem verstehen sich alle ohne große Schwierigkeiten.«
»Ach! Wen interessiert schon, was diese Leute, die Hundemenschen, sagen?«
»›Hundemenschen‹? Da irrst du dich, Cuati Pochotl. Ich habe viele Mexica gehört, die alle Chichiméca ›Hundemenschen‹ nennen … und die Zácachichiméca die ›wilden Hundemenschen‹. Aber das stimmt nicht. Der Name leitet sich nicht von Chichine, dem Wort für Hund, ab, sondern von chichiltic, und das heißt rot. Sie alle gehören vielen verschiedenen Stämmen und Sippen an. Wenn sie sich Chichiméca nennen, meinen sie damit nur, daß sie Rothäute sind. Das heißt schlicht und einfach, sie sind mit uns, den Bewohnern der EINEN WELT, verwandt.«
Pochotl schnaubte. »Nicht mit mir! Die Chichiméca sind ein unwissendes, schmutziges und grausames Volk.«
»Das liegt doch nur daran, daß sie ihr Leben in der Wüste dort oben im Norden verbringen.«
Er zuckte die Schultern. »Trotzdem, weshalb willst du die Sprache der Spanier lernen?«
»So kann ich etwas über die Spanier erfahren, über ihr Wesen, ihren christlichen Aberglauben – alles.«
Pochotl tunkte mit dem letzten Stück seines Bolillo den letzten Rest Suppe auf und sagte: »Du hast den Mann gesehen, der gestern verbrannt worden ist. Dann weißt du alles, was jemand von uns über die Spanier und Christen wissen muß.«
»Ich weiß bereits etwas anderes. Mein Krug, den ich vor der Kathedrale abgestellt hatte, ist verschwunden. Ein Christ muß ihn gestohlen haben. Ich hatte ihn nur geliehen. Jetzt bin ich den Mönchen einen Krug schuldig.«
»Wovon im Namen aller Götter sprichst du?«
»Ach nichts«, erwiderte ich lachend und betrachtete nachdenklich den Bettler, Schmarotzer und Müßiggänger, wie er sich selbst nannte. Pochotl kannte die Stadt schon sein Leben lang. Ich beschloß, ihm zu vertrauen. »Ich möchte alles über die Spanier wissen, weil ich sie vernichten will.«
Er lachte rauh. »Wer will das nicht? Aber wer ist dazu in der Lage?«
»Vielleicht ich und du.«
»Ich?!« Er lachte schallend. »Du?!« Ich versuchte, meine Idee zu verteidigen. »Ich habe die gleiche militärische Ausbildung wie die Krieger der Mexica, die einmal der Stolz und der Schrecken aller Völker der EINEN WELT waren.«
»Die Ausbildung hat diesen stolzen Kriegern viel genutzt«, brummte er. »Wo sind sie jetzt? Die wenigen, die noch leben, laufen mit einem Brandzeichen im Gesicht durch die Straßen der Stadt. Und du rechnest dir aus, mehr Erfolg zu haben als sie?«
»Ich glaube, ein entschlossener Mann, der seine ganze Kraft aufbietet, kann alles erreichen, was er will.«
»Bestimmt nicht alles.« Er lachte wieder schallend. »Auch wir beide zusammen schaffen das nicht.«
»Wir müssen uns natürlich noch mit anderen verbünden, mit vielen anderen, mit den Chichiméca zum Beispiel, die du so verachtest!« Er sah mich skeptisch an, schwieg aber. Deshalb fuhr ich fort: »Ihr Gebiet ist von den Spaniern nicht erobert worden, und sie sind noch immer frei. Vergiß nicht, sie sind nicht das einzige Volk im Norden, das den Weißen trotzt. Wenn sich alle freien Völker und Stämme erheben und nach Süden marschieren …«
Die Leidenschaft ließ mich beinahe jede Vorsicht vergessen. Erschrocken über meine Kühnheit senkte ich den Kopf. »Pochotl, wir werden ausführlicher darüber reden, wenn ich meine Studien aufgenommen habe.«
»›Reden‹ … das ewige Gerede ändert überhaupt nichts.«
Ich mußte nicht lange am Eingang des Kollegiums warten, bis der Notarius Alonso kam und mich herzlich begrüßte.
»Ich hatte fast befürchtet, Tenamáxtli, du könntest deinen Entschluß geändert haben.«
»Eure Sprache zu lernen? Ich bin fest entschlossen …«
»Ein Christ zu werden«, sagte er.
»Wie?« rief ich überrascht. »Darüber haben wir nie gesprochen.«
»Ach …« Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Aber das ist doch selbstverständlich! Das Kollegium ist eine Parochial-Schule.«
»Das Wort sagt mir nichts, Cuati Alonso.«
»Eine christliche Schule, die von der Kirche unterhalten wird. Du mußt Christ sein, um sie zu besuchen.«
»Ja dann …«, murmelte ich.
Er lachte und sagte: »Du kannst ein Christ werden.« Als ich ihn etwas erschrocken ansah, fügte er lachend hinzu: »Das tut nicht weh. Zum Bautismo verwendet der Priester nur ein wenig Wasser und Salz. Die Taufe reinigt dich von allen Sünden und befähigt dich, die anderen Sakramente der Kirche zu empfangen. Sie ist ein irdisches Unterpfand für die Rettung deiner Seele.« Das klang alles wenig überzeugend. »Also …«
»Es wird eine Weile dauern, bis du ein Christ bist«, fuhr er fort. »Zuerst mußt du in der Glaubenslehre unterwiesen sein und auf den Catecismo, die Confirmación und die Erste Comunión vorbereitet werden.« Alle diese Worte sagten mir nichts. Aber ich begriff, daß ich zunächst lediglich eine Art ›Anfänger-Christ‹ sein würde. Wenn ich in dieser Zeit spanisch lernte, würde ich bestimmt fliehen können, bevor ich endgültig an die fremde Religion gebunden war. Ich zuckte die Schultern und sagte: »Wie Ihr wollt. Geht voran.«
Alonso führte mich in das Gebäude und in den Raum des Registrador. Er war ein spanischer Priester mit der gleichen kahlen runden Stelle auf dem Kopf wie alle anderen, die ich bisher gesehen hatte, aber er war sehr dick. Er musterte mich ohne große Begeisterung. Er und Alonso unterhielten sich lange auf spanisch, dann wandte sich der Notarius schließlich an mich. »Beim Bautismo, der Taufe, erhält der Bekehrte einen christlichen Namen. Es ist üblich, ihm den Namen des Heiligen zu geben, an dessen Tag er getauft wird. Heute feiern wir das Fest des Heiligen Hilarión, des Einsiedlers. Deshalb wirst du Hilario Ermitaño genannt werden.«
»Lieber nicht.«
»Wie bitte?«
Ich schüttelte energisch den Kopf und fügte vorsichtig hinzu: »Ich glaube, es gibt den christlichen Namen Juan …«
»Ja und warum …?« Alonso schien leicht verwirrt. Ich hatte diesen Namen erwähnt, weil ich dachte, wenn ich schon einen christlichen Namen erhalten sollte, dann den meines toten Vaters Mixtli. Alonso sah zu meiner Erleichterung offenbar keinen Zusammenhang mit dem Mann, der am Vortag hingerichtet worden war, denn er nickte und sagte anerkennend: »Dann weißt du also doch etwas über unseren Glauben. Juan war der Apostel, den Jesus am meisten liebte.« Ich erwiderte nichts, denn ich verstand nach wie vor nicht, wovon er redete. Er sah mich aufmerksam an und fragte: »Der Name Juan wäre dir also lieber?«
»Wenn es keine Regel gibt, die das verbietet.«
»Nein, keine Regel …. aber ich will mich erkundigen …« Er wandte sich wieder an den dicken Priester. Nachdem sie sich beraten hatten, drehte sich Alonso wieder zu mir um: »Vater Ignacio sagt, daß heute auch der Tag eines ziemlich unbekannten Heiligen mit dem Namen John von York gefeiert wird. Er war der Abt eines Klosters in Inglaterra. Wir sind mit deinem Vorschlag einverstanden, Tenamáxtli, du wirst auf den Namen Juan Británico getauft werden.«
Als der Priester Ignacio meinen Kopf mit Wasser besprengte und ich ein paar Körnchen Salz aus seiner Hand lecken mußte, fand ich das Ritual wenig beeindruckend. Doch ich schwieg, denn eindeutig bedeutete es Alonso viel. Ich wollte nicht undankbar sein und meinen zukünftigen Lehrer enttäuschen.
So wurde ich also zu Juan Británico. Damals ahnte ich natürlich nicht, daß ich wieder einmal ein Opfer der Götter war, die mit den Menschen ihr böses Spiel treiben und Dinge geschehen lassen, die scheinbar Zufälle sind. Obwohl ich den neuen Namen fortan nur selten gebrauchte, hörte ihn irgendwann ein Fremder, der aus einem noch ferneren Land kam als die Spanier, und das führte zu höchst seltsamen Ereignissen. »Gut«, sagte Alonso, »laß uns jetzt entscheiden, welche Fächer du außer Spanisch noch wählen willst, Juan Británico.« Er griff nach einem Blatt Papier, das auf dem Tisch des Priesters lag, und überflog es. »›Unterweisung in der christlichen Lehre‹, ja natürlich. Es gibt auch eine Lateinklasse, falls du später zum geistlichen Stand berufen sein solltest. ›Lesen‹, ›Schreiben‹ … das muß warten. Die anderen Fächer werden nur in spanisch unterrichtet, also müssen die auch warten. Aber die Muttersprache der Lehrer in den handwerklichen Fächern ist Náhuatl. Sagt dir etwas davon zu?« Er las vor: »Zimmern, Schmieden, Gerben, Schuhe machen, Sattlerarbeiten, Glas blasen, Bier brauen, Spinnen, Weben, Schneidern, Sticken, Spitzen klöppeln, Almosen betteln …«
»Betteln?!« rief ich erstaunt.
»Für den Fall, daß du Mönch eines Bettelordens wirst.« Ich erwiderte trocken: »Ich habe nicht den Ehrgeiz, Mönch zu werden, aber ich glaube, einen Bettler könnte man mich bereits nennen, denn ich lebe in der Mesón.« Er hob den Blick von der Liste. »Sag mir, bist du in der Lage, die Bücher mit Wortbildern der Azteca und der Maya zu lesen, Juan Británico?«
»Ich hatte gute Lehrer«, erwiderte ich. »Es wäre unbescheiden zu behaupten, daß ich ein guter Schüler war.«
»Vielleicht könntest du mir helfen. Ich versuche, die wenigen einheimischen Bücher, die in diesem Land noch vorhanden sind, ins Spanische zu übersetzen. Beinahe alle sind der Säuberung zum Opfer gefallen. Man hat sie verbrannt, weil sie frevelhaft und teuflisch sind und dem wahren Glauben schaden. Mit den Wortbildern der Náhuatl-Schreiber komme ich ganz gut zurecht, aber manche Bücher stammen von Skribenten anderer Sprachen. Glaubst du, du könntest mir beim Entziffern dieser Bücher behilflich sein?«
»Ich kann es versuchen.«
»Gut, dann werde ich Seine Exzellenz um Erlaubnis bitten, dir einen Lohn zu zahlen. Es wird nicht viel sein, dir aber die Schmach ersparen, wie eine Drohne von der Wohltätigkeit anderer zu leben.« Nach einem weiteren kurzen Gespräch mit dem dicken Priester Ignacio sagte er zu mir: »Ich habe dich vorerst nur für zwei Fächer eingeschrieben. Die eine Klasse unterrichte ich: ›Spanisch für Anfänger‹. Die zweite ist christliche Glaubenslehre‹ bei Vater Diego. Alle anderen Fächer können warten. Du wirst ab jetzt deine freie Zeit in der Kathedrale verbringen und mir bei der Arbeit an den einheimischen Büchern helfen. Wir nennen sie übrigens Códices.«
»Das freut mich«, sagte ich. »Und ich bin Euch sehr zu Dank verpflichtet, Cuati Alonso.«
»Gehen wir hinauf. Deine Klassenkameraden müßten bereits in den Bänken sitzen und auf mich warten.« Damit hatte er recht, und ich stellte verlegen fest, daß ich der einzige Erwachsene unter mehr als zwanzig Jungen und vier oder fünf Mädchen war. Ich befand mich in einer ähnlichen Lage wie mein Vetter Yeyac, als er vor Jahren seine Ausbildung an den niederen Schulen in Aztlan zusammen mit kleinen Kindern beginnen mußte. Ich glaube nicht, daß ein einziger Junge im Raum alt genug war, das Máxtlatl unter dem Mantel zu tragen. Die wenigen Mädchen wirkten noch jünger. Die unterschiedliche Hautfarbe der Kinder fiel mir sofort auf. Natürlich hatte niemand von ihnen die weiße Haut der Spanier. Die meisten waren kupferbraun wie ich, aber nicht wenige wirkten sehr viel blasser und zwei oder drei zu meinem Erstaunen wesentlich dunkler. Natürlich mußten die hellhäutigen Kinder von Spaniern sein, die ›Indiofrauen‹ geschwängert hatten. Aber woher kamen die Kinder mit dunkler Hautfarbe? Offensichtlich stammte ein Elternteil aus der EINEN WELT … doch der andere?
Ich stellte nicht sofort Fragen. Ich setzte mich gehorsam in eine der Bänke und wartete auf den Beginn der Stunde, während die Kinder die Hälse verdrehten und den Erwachsenen in ihrer Mitte neugierig anstarrten. Alonso stand an der Stirnseite des Raums hinter einem Tisch, und ich muß gestehen, die geschickte Art seines Unterrichts fand schnell meine Bewunderung und Anerkennung.
»Wir beginnen damit«, sagte er auf náhuatl, »daß wir die offenen Laute der spanischen Sprache üben: ah, ay, ee, oh, oo. Es sind die gleichen Laute wie in den folgenden Worten eurer Sprache. Hört zu. Acáli … Tene …ixtlil … Pochotl … Calpúli.«
Selbst die Jüngsten der Klasse verstanden die Worte, denn sie bedeuteten: Kanu, Mutter, schwarz, Kapok-Baum und Familie.
Er fuhr fort. »Ihr werdet diese Laute in den folgenden spanischen Wörtern wieder hören. Acáli … Banca. Tene … Dente. ixtlil … Piso. Pochotl … Polvo. Calpúli … Muro.«
Er ließ uns diese zehn Worte mehrmals wiederholen und betonte dabei die uns vertrauten ›offenen Laute‹. Um uns nicht zu verwirren, erklärte er erst danach, was die spanischen Worte bedeuteten.
»Banca«, sagte er, streckte die Hand aus und schlug leicht auf eine der Bänke in der ersten Reihe. »Dente« – er deutete auf einen seiner Zähne. »Piso« – er wies auf den Boden und stampfte einmal mit dem Fuß auf. »Polvo« – er fuhr mit der Hand über den Tisch und wirbelte eine Staubwolke auf. »Muro« – er wies auf die Wand. Wir mußten die spanischen Wörter wiederholen und dabei zusammen mit ihm auf die Dinge deuten, die sie bezeichneten.
»Banca – Bank, Dente – Zahn, Piso – Fußboden, Polvo – Staub und Muro – Wand.«
Dann fuhr er in unserer Sprache fort: »Sehr gut. Wer von euch intelligenten Schülern kann mir jetzt fünf andere Náhuatl-Worte nennen mit den Lauten ah, ay, ee, oh, oo?«
Als sich niemand – auch ich nicht – freiwillig meldete, bedeutete Alonso mit einer Geste einem kleinen Mädchen in einer der vorderen Bänke aufzustehen. Sie trat vor und begann schüchtern: »Acáli … Tene …«
»Nein, nein, nein«, sagte unser Lehrer und bewegte den erhobenen Finger hin und her. »Das sind die Worte, die ich euch gegeben habe. Es gibt viele, viele andere. Wer kann uns fünf andere nennen?«
Die Schüler saßen alle stumm auf ihren Plätzen und warfen sich von der Seite scheue Blicke zu. Alonso deutete auf mich.
»Juan Británico, du bist älter, und ich weiß, du hast eine Menge Wörter in deinem Kopf. Nenne uns fünf, in denen die verschiedenen offenen Laute, die ich genannt habe, enthalten sind.«
Ich hatte bereits darüber nachgedacht, und mir waren, ich weiß nicht warum, fünf bestimmte Worte eingefallen. Deshalb grinste ich wie ein Schuljunge und begann: »Maátitl … Ahuilnéma … Tipíli … Chitóli … Tepúli.« Ein paar der kleineren Kinder blickten verständnislos, doch die meisten älteren wußten natürlich, was die Worte bedeuteten. Sie wurden rot oder kicherten hinter vorgehaltenen Händen, denn solche Worte äußerte man nicht in Gegenwart eines Lehrers, besonders nicht in Gegenwart eines christlichen Lehrers an einem kirchlichen Kollegium. Auch Alonso legte bestimmt keinen Wert darauf, sie zu hören.
Der Notarius sah mich finster an. »Das findest du wohl sehr komisch, du unverschämter Babalicón. Stell dich mit dem Gesicht zur Wand in die Ecke! Dort bleibst du stehen und schämst dich, bis die Stunde zu Ende ist.«
Ich wußte nicht, was ein Babalicón war, konnte es mir aber vorstellen. Also stand ich in der Ecke, hatte das Gefühl, zu Recht bestraft worden zu sein, und bedauerte, so etwas zu einem Mann gesagt zu haben, der bisher nur freundlich zu mir gewesen war.
Der Rest der Stunde verging an diesem Tag mit dem Aufsagen harmloser Wörter mit offenen Lauten. Ich beherrschte die Laute bereits und lernte die spanischen Worte beim Zuhören mühelos auswendig. Deshalb entging mir nicht viel, obwohl ich geächtet und ignoriert wurde.
Nach dem Unterricht sagte Alonso zu mir: »Was du getan hast, war ungezogen, unanständig und kindisch, Juan. Ich mußte streng sein, um die anderen zu warnen.« Dann lächelte er. »Aber ich will gestehen, dein schlechter Scherz hat den Unterricht aufgelockert. Die Kinder waren am ersten Schultag verständlicherweise ängstlich und unruhig. Aber dann wurde es für alle leichter und ungezwungener. Deshalb verzeihe ich dir diesmal deinen Übermut.«
Ich versprach ihm, so etwas werde sich nicht wiederholen, und das war ehrlich gemeint. Alonso führte mich durch den Flur zu jenem Raum, wo mein nächster Unterricht stattfinden würde. Hier sollte ich meine erste christliche Unterweisung erhalten. Ich stellte fest, daß ich diesmal nicht der Älteste war. Ein paar meiner Mitschüler waren Jugendliche, andere sogar bereits Erwachsene. Es gab keine Kinder, nur wenige Mädchen, und es fehlte die Vielfalt der Hautfarben. In dieser Klasse wurden keine Anfänger unterrichtet. Der Unterricht fand seit längerer Zeit, vielleicht sogar schon seit Monaten statt. Deshalb mußte ich versuchen, Dinge zu verstehen, die mein Begriffsvermögen zunächst überstiegen. An meinem ersten Tag erklärte der Priester das christliche Konzept der ›Dreifaltigkeit‹. Pater Diego hatte eine Glatze, war also nicht nur an einer Stelle kahl geschoren.
Er hörte es gerne, wenn er Tete genannt wurde, in unserem Volk die liebevolle Verkleinerungsform von ›Vater‹. Er sprach Náhuatl beinahe so fließend wie der Notarius Alonso. Deshalb verstand ich alles, was er sagte, allerdings nicht, was die Worte und Begriffe bedeuteten. Zum Beispiel ist Yeyintetl in unserer Sprache das Wort für Trinität; es bezeichnet eine Gruppe von drei Personen oder Dingen – etwa die Spitzen eines Dreiecks oder das dreifach gelappte Blatt bestimmter Pflanzen. Doch Tete Diego forderte uns zur Verehrung einer Vierergruppe auf.
Ich habe bis heute keinen christlichen Spanier getroffen, der nicht an eine Trinität glaubt, die aus vier Wesen besteht: aus einem Gott, der keinen Namen hat, dem Sohn dieses Gottes, der Jesus heißt, und der Mutter dieses Sohnes, der Jungfrau Maria. Hinzu kommt noch ein Heiliger Geist, der zwar obwohl er auch keinen Namen hat, offenbar aber einer der geringeren Götter ist, die Santos genannt werden, wie San José und San Francisco. Das sind somit allerdings vier, die verehrt werden sollen. Wie vier Götter eine Dreifaltigkeit sein können, das konnte ich nie verstehen.