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Mixtzin ernannte seine Tochter Améyatl und ihren Gemahl Káuri zu Mitregenten. Sie sollten während seiner Abwesenheit in Aztlan herrschen. Mein Urgroßvater Canaútli, der inzwischen weit über hundert Jahre alt sein mußte und offenbar die Absicht hatte, ewig zu leben, würde ihr kluger Ratgeber sein. Danach nahmen Mixtzin, Cuicáni und ich ohne weitere Umstände und ohne jedes Zeremoniell Abschied und schlugen den Weg nach Süden ein.

Ich verließ den Ort meiner Geburt zum ersten Mal, um eine weite Reise zu unternehmen. Mir war der ernste Anlaß unseres Unternehmens deutlich bewußt, doch der weite Horizont schien verlockend wie ein freundliches Lächeln. Die Ferne lud mich verheißungsvoll ein, alle möglichen neuen Dinge zu sehen und vielfältige Erfahrungen zu machen. Der Tag in Aztlan begann immer spät, denn nachdem die Sonne aufgegangen war, mußte sie zuerst über die Berge im Inland steigen und hoch am Himmel stehen. Aber dann tauchte sie unsere Stadt in ein strahlendes Licht. Nachdem ich diese Berge überquert hatte und mich im flacheren Land östlich davon befand, konnte ich zum ersten Mal erleben, wie der Morgen graute oder genauer gesagt, wie sich ein farbiges Band nach dem anderen über den Himmel legte – violett, blau, rosa, perlweiß und gold. Bald darauf begannen die Vögel jubilierend den Tag zu begrüßen. Sie sangen Lieder in allen Tönen. Es war Herbst, und deshalb fiel kein Regen. Doch der Himmel hatte die Farbe des Windes, und die Wolken, die über ihn zogen, sahen immer gleich aus, waren aber immer andere. Die rauschenden, tanzenden Bäume machten Musik für die Augen, und die sich wiegenden, sich neigenden Blumen wurden zu Gebeten, in einer Sprache, die sie in ihrer ganzen Schönheit verkörperten. Wenn sich die Abenddämmerung über das Land senkte, schlossen sich die Blumen, doch am Himmel öffneten sich die Sterne. Ich war immer froh, daß sich die Sternenblumen außer Reichweite der Menschen befinden, denn sonst wären sie schon lange gepflückt und gestohlen worden. Bei Einbruch der Dunkelheit stiegen schließlich sanfte, taubengraue Nebel auf. Ich glaube, sie sind die dankbaren Seufzer der Erde, die müde zu Bett geht.

Es war eine lange Strecke – über zweihundert Lange Läufe, denn wir konnten selten den geraden und direkten Weg nehmen. Manchmal war die Reise mühsam und oft ermüdend, aber nie wirklich gefährlich, denn Mixtzin hatte die Strecke schon einmal zurückgelegt. Das war vor etwa fünfzehn Jahren gewesen, doch er erinnerte sich noch an die kürzesten Routen durch die glühend heißen Wüstenabschnitte und an den einfachsten Weg um den Fuß der Berge, so daß wir nicht darübersteigen mußten. Er kannte die flachen Stellen, wo wir durch die Flüsse waten konnten und nicht lange warten oder vergebens hoffen mußten, daß jemand in einem Acáli vorbeikommen werde. Oft waren wir jedoch gezwungen, von den Pfaden abzuweichen, an die er sich erinnerte, um vorsichtig die Abschnitte von Michihuácan zu umgehen, wo immer noch, wie uns die Bewohner der Gegend sagten, die unerbittlichen Caxtiltéca und die stolzen, hartnäckigen Purémpecha miteinander kämpften. Als wir im Land der Tecpanéca schließlich hin und wieder einem weißen Mann begegneten und den Tieren, die ›Pferde‹, ›Kühe‹ und ›Bluthunde‹ genannt wurden, taten wir unser Bestes, um gleichgültig zu wirken, als seien wir ein Leben lang an ihren Anblick gewöhnt. Den Weißen schien unser Vorübergehen ebenso gleichgültig zu sein. In ihren Augen schienen wir nichts anderes als gewöhnliche, allgemein verbreitete Tiere zu sein. Unterwegs wies Onkel Mixtzin meine Mutter und mich immer wieder auf besondere Wahrzeichen hin, die er von seiner früheren Reise her kannte – seltsam geformte Berge, Seen, deren Wasser so bitter war, daß man es nicht trinken konnte, aber so heiß, daß es sogar in der Sonne dampfte, Bäume und Kakteen, wie sie in unserer Heimat nicht wuchsen und von denen einige köstlich schmeckende Früchte trugen. Außerdem erzählte er viel von den Schwierigkeiten jener ersten Reise nach Tenochtitlan, obwohl wir die Geschichten bereits mehr als einmal gehört hatten.

»Ihr wißt, daß meine Männer und ich die riesige, runde gemeißelte Steinplatte mit dem Bildnis der Mondgöttin Coyolxauqui nach Tenochtitlan gerollt haben, um sie dem Verehrten Sprecher Motecuzoma zum Geschenk zu machen. Ja, die Platte war rund, und man sollte annehmen, daß sie mühelos gerollt wäre. Aber sie war auch auf beiden Seiten flach. Deshalb ist sie bei jeder leichten Vertiefung in der Erde oder einer Unebenheit, die wir nicht bemerkten, umgekippt. Obwohl meine Männer kräftig und ganz bei der Sache waren, konnten sie nicht immer verhindern, daß der kippende Stein auf der Seite zu liegen kam. So ungern ich das auch gestehe, aber manchmal ist die Göttin im wahrsten Sinne des Wortes auf die Nase gefallen. Und sie war schwer! Um sie wieder aufzurichten, mußten wir jeden Mann in der Umgebung, den wir auftreiben konnten, um Hilfe bitten. Ja, so war es, das schwöre ich bei Mictlan.« Onkel Mixtzin erzählte dann, wie schon so manches Mal zuvor: »Ich wäre dem Uey-Tlatoáni Motecuzóma vielleicht nie begegnet, denn seine Palastwachen haben mich festgenommen und beinahe eingesperrt, weil ich in der Stadt einen solchen Schaden angerichtet hatte. Ihr könnt euch vorstellen, als wir ankamen, waren wir alle verdreckt und erschöpft. Unsere Umhänge waren zerrissen und zerfetzt, und wir haben wahrscheinlich wie Barbaren ausgesehen, die aus der Wildnis gekommen sind. Außerdem hatte Tenochtitlan als erste und einzige Stadt, in die wir kamen, schön gepflasterte Straßen und Dämme. Uns ist nicht in den Sinn gekommen, daß das wertvolle Pflaster brechen und zerbröckeln könnte, als wir unseren schweren Mondstein durch die Straßen rollten. Aber es dauerte nicht lange, bis die wütenden Wachen über uns hergefallen sind …« Mixtzin lachte bei der Erinnerung.

Als wir uns Tenochtitlan näherten, erfuhren wir von den Leuten, durch deren Dörfer und Städte wir kamen, einiges Neues, was uns vorbereitete, so daß wir nicht ganz wie dumme Bauern wirken würden, wenn wir unser Ziel erreichten. Zum einen sagte man uns, daß die weißen Männer es nicht gerne hörten, wenn man sie Caxtiltéca nannte. Wir hatten uns in der Annahme geirrt, die beiden Namen, Castellanos und Españoles seien austauschbar. Natürlich lernte ich später, daß die Castellanos alle Españoles waren, aber nicht alle Españoles auch Castellanos. Letztere kamen aus einer bestimmten Provinz von Altspanien, die Kastilien hieß. Wie auch immer, wir drei achteten von nun an darauf, die Weißen als ›Spanier‹ zu bezeichnen und ihre Sprache als ›Spanisch‹. Man riet uns auch, vorsichtig zu sein, um nicht die Aufmerksamkeit eines Spaniers auf uns zu ziehen.

»Lauft nicht einfach durch die Stadt und starrt alles an«, riet ein Mann, der vor kurzem dort gewesen war. »Geht immer schnell, als hättet ihr ein bestimmtes Ziel. Und es ist besser, ständig etwas bei sich zu tragen. Ich meine einen Ziegelstein, vielleicht einen Holzklotz oder eine Rolle Seil, als wäret ihr unterwegs in einem Auftrag, der euch bereits übertragen wurde. Wenn ihr mit leeren Händen auf der Straße seid, wird euch mit Sicherheit ein spanischer Aufseher eine Arbeit zuweisen. Und wenn das geschieht, dann solltet ihr diese Arbeit besser ohne Widerspruch erledigen.«

Auf diese Weise vorgewarnt, setzten wir unsere Reise fort. Beim ersten Anblick aus der Ferne wirkte die Stadt Mexico wahrhaft ehrfurchtgebietend. Sie überragt alles in der Senke, in der sie liegt. Unsere ersten Eindrücke von der Stadt waren jedoch eher enttäuschend. Während wir auf einem breiten, gepflasterten und von Balustraden gesäumten Damm gingen, der die Stadt Tepayáca auf dem Festland mit den Inseln der Stadt Mexico verband, murmelte mein Onkel: »Merkwürdig. Dieser Damm führte früher über einen See, auf dem die flinken Acáltin in allen Größen hin und her fuhren. Aber seht euch das hier an!«

Wir blickten uns schweigend um und sahen unter uns nichts als einen großen, übelriechenden Sumpf voller Schlamm, Unkraut, Fröschen und ein paar Reihern. Es glich den Sümpfen um Aztlan, bevor sie trockengelegt worden waren.

Doch hinter dem Damm lag die Stadt. Obwohl man mich gewarnt hatte, wollte ich nichts anderes tun als das, was ich nicht tun sollte. Die Größe und Pracht der Stadt Mexico überwältigte mich so sehr, daß ich immer wieder wie gebannt vor Bewunderung stehenblieb und mich mit großen Augen umsah. Das geschah an diesem ersten Tag sehr oft. Zum Glück schob mich mein Onkel jedesmal weiter, denn ihn beeindruckte die Stadt nicht sonderlich. Er hatte natürlich das verschwundene Tenochtitlan gesehen und erklärte mir und meiner Mutter die Unterschiede zwischen damals und heute. Ja, mein Onkel kannte sich aus.

»Wir sind jetzt im Ixacuálco-Viertel der Stadt, dem allerbesten Wohnbezirk. Dort lebte mein Freund, der auch Mixtli hieß und der mich überredet hatte, den Mondstein hierher zu bringen. Ich habe ihn während meines Aufenthalts in seinem Haus besucht.« Mein Onkel musterte mit zusammengezogenen Brauen die Umgebung. Dann brummte er: »Sein Haus und die anderen in der Nachbarschaft waren sehr viel hübscher. Jedes hatte einen eigenen Charakter. Diese neuen Häuser hier sehen alle gleich aus.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Mein Freund …«, er griff nach der Hand eines Vorübergehenden, der eine Ladung Feuerholz trug, die an einem Tragriemen hing, den er um den Kopf geschlungen hatte, »mein Freund, heißt dieses Viertel immer noch Ixacuálco?«

»Ayya«, murmelte der Mann und sah Onkel Mixtzin mißtrauisch an. »Wieso fragst du mich das? Das Viertel heißt jetzt San Sebastián Ixacuálco.«

»Und was bedeutet ›San Sebastian‹?« wollte mein Onkel wissen. Als der Mann die Schultern zuckte, bewegte sich das Holz auf seinem Rücken. »›San‹ bedeutet ›Santo‹, das ist ein unbedeutender Gott der spanischen Christen. ›Sebastian‹ ist der Name eines solchen ›Santos‹, aber was für eine Art Gott das ist, hat man mir nie gesagt.«

Also gingen wir weiter, und Onkel Mixtzin fuhr mit seinen Erklärungen fort: »Stellt euch vor, hier war ein breiter Kanal, auf dem sich Tag und Nacht die großen Fracht-Acáltin drängten. Ich kann nicht verstehen, weshalb er zugeschüttet und gepflastert wurde und jetzt eine Straße ist. Und dort, ayyo!« Er vergaß jede Vorsicht und hob beide Arme. »Hier vor euch, liebe Schwester und lieber Neffe, hier befand sich inmitten der gewundenen Schlangenmauer, die in vielen leuchtenden Farben strahlte, der atemberaubend große und in hellem Marmor schimmernde Platz. Er war die Mitte des Herzens der EINEN WELT. Und in diesem Herzen stand Motecuzomas prächtiger Palast. Dort drüben befand sich der Platz für das zeremonielle Tlachtli-Ballspiel. Da, etwas weiter hinten, erhob sich der Tizoc-Stein, auf dem die Krieger ihre Zweikämpfe austrugen, bei denen nur der Sieger überlebte. Und …«, er schwieg und legte einem vorübergehenden Mann, der einen Korb mit Kalkmörtel trug, die Hand auf den Arm. »Mein Freund, sag mir, was ist das für eine riesige und häßliche Baustelle da drüben? Was soll das werden?«

»Das? Das weißt du nicht? Das wird der große Tempel der christlichen Priester. Ich meine, die ›Kathedrale‹ … die Kathedrale des San Francisco.«

»Ist das auch einer ihrer Santos?« erwiderte Onkel Mixtzin. »Für welchen Bereich der Welt ist dieser unbedeutende Gott zuständig?«

Der Mann erwiderte unruhig: »Soweit ich weiß, Fremder, ist er der persönliche Lieblingsgott des Bischofs Zumárraga, des Oberhaupts aller christlichen Priester.« Damit ging er eilig davon.

»Yya ayya«, sagte Onkel Mixtzin traurig. »Ninotlancuicui in Teo Francisco. Der kleine Gott Francisco. Wenn das sein Tempel werden soll, ist es ein armseliger Ersatz für das, was sich früher dort befand.« Er machte eine lange, bedeutungsvolle Pause. »Denn dort, Schwester und Neffe, dort stand das erhabenste Bauwerk, das jemals in der EINEN WELT errichtet wurde. Es war die mächtige, aber anmutige Große Pyramide. Sie ragte so hoch in den Himmel, daß man einhundertsechsundfünfzig Stufen hinaufsteigen mußte. Oben angekommen, bestaunte man voll Ehrfurcht die leuchtend bunten Tempel der Götter Tlaloc und Huitzilopóchtli mit ihren einzigartigen stufenförmigen Giebeln. Ayyo! Damals hatte die Stadt noch Götter, die es verdienten, von den Menschen angebetet und verherrlicht zu werden! Und …«

Er verstummte, da wir alle drei plötzlich vorwärts geschoben wurden. Es war, als hätten wir am Strand mit dem Rücken zum Meer gestanden und vergessen, die Wellen zu zählen, und wären deshalb plötzlich von der hohen siebten Welle erfaßt worden. Was uns jedoch vorwärts schob, war die Menschenmenge, die von den Soldaten auf den großen Platz getrieben wurde, den wir betrachtet hatten. Wir befanden uns in vorderster Linie. Es gelang uns wenigstens, in dem Gedränge zusammenzubleiben. Als die Menschen schließlich dicht an dicht auf dem Platz standen und allmählich Ruhe einkehrte, hatten wir einen freien Blick auf die Tribüne, auf die Priester, die langsam die Stufen hinaufstiegen, und auf den Metallpfahl, zu dem der Verurteilte geführt und an den er gekettet wurde. Der Blick war sogar besser, als ich es mir im nachhinein gewünscht hätte. Denn ich kann immer noch sehen, wie er brennt. Wie ich berichtet habe, sprach der alte Mann Juan Damasceno nur ein paar Worte, bevor das Holz zu seinen Füßen entzündet wurde. Er stöhnte weder noch schrie oder wimmerte er, als sich die Flammen an seinem Leib nach oben fraßen. Keiner von uns Zuschauern gab einen Laut von sich. Nur meine Mutter schluchzte ein einziges Mal. Trotzdem gab es Geräusche. Ich kann immer noch hören, wie er brennt. Zu den Geräuschen gehörten das vertraute Knistern und Prasseln von Holz, das seinen Zweck als Brennmaterial erfüllte, das gierige Züngeln und Lecken der Flammen, das Zischen, als die Haut des Mannes Blasen warf, die sofort platzten, das Knacken und Brutzeln seines Fleischs, das Blubbern, mit dem sein Blut verdampfte, das Knallen und Knirschen, mit dem sich seine Muskeln in der Hitze ruckartig zusammenzogen und ihm die Knochen im Leib brachen, und gegen Ende das unbeschreiblich erschreckende Geräusch, mit dem sein Schädel durch den Druck des kochenden Gehirns barst. Inzwischen rochen wir auch, daß er brannte. Der Geruch von menschlichem Fleisch ist zunächst so köstlich und appetitlich wie der von jedem anderen Fleisch, das richtig gebraten wird. Doch in diesem Fall wurde daraus ein Verbrennen, und bald hing in der Luft der Gestank von verkohltem, rauchendem Fleisch, zu dem sich der ranzige Geruch des Fettes gesellte. In diesen Gestank mischte sich der beißende Qualm des schwelenden Gewandes sowie ein flüchtiger, aber scharfer Geruch, als seine Haare aufflammten. Erst nach einer Weile erreichte uns in Wellen ein scharfer metallischer Gestank, als die Kette Feuer zu fangen schien, ein seltsam staubiger Geruch von Knochen, die sich in Asche verwandelten.

Da der Mann am Pfahl die verschiedenen Dinge, die mit ihm geschahen, ebenfalls sehen, hören und riechen konnte, begann ich zu überlegen, was wohl in seinem Kopf vorgehen mochte. Kein Laut kam über seine Lippen, aber er mußte doch bestimmt etwas denken. Woran mochte er denken?

Bedauerte er Dinge, die er getan oder nicht getan und die zu diesem schrecklichen Ende geführt hatten? Oder verweilte er bei den kleinen Freuden oder sogar Abenteuern, die manchmal sein Leben verschönt hatten? Dachte er an geliebte Menschen, die er zurückließ? Nein, bei seinem Alter hatte er bis auf mögliche Kinder und Enkelkinder vermutlich alle überlebt. In seinem Leben mußte es Frauen gegeben haben. Selbst im Alter, als man ihn zum Pfahl führte, hatte er gut ausgesehen. Und er war diesem erschreckenden Schicksal furchtlos und ungebeugt entgegengegangen. Er mußte einmal ein bedeutender Mann gewesen sein. Lachte er vielleicht insgeheim trotz der unerträglichen Qualen über die Ironie, daß er einmal groß und mächtig gewesen war und an diesem Tag so tief hinabgestürzt und gedemütigt wurde?

Welcher seiner Sinne, fragte ich mich, versagte als erster? Hielt sein Sehvermögen lange genug an, damit er die Henker und seine Landsleute sah, die sich auf dem Platz drängten? Überlegte er, was die Lebenden angesichts seiner Qualen dachten? Vermochte er zu sehen, wie seine Beine schrumpften, verkohlten und sich, während er von der Kette gehalten in der Luft hing, vor dem Unterleib verkrümmten? Seine Arme schrumpften ebenfalls, verkohlten und legten sich vor die Brust, als versuchten die Gliedmaßen, den Körper zu schützen, dem sie ein Leben lang treu gedient hatten. Oder waren seine Augäpfel in der Hitze inzwischen geplatzt, so daß es für ihn kein Licht und kein Sehvermögen mehr gab, mit dem er das alles hätte beobachten können?

Verfolgte er demnach blind mit Hilfe der Geräusche und Gerüche seine unbarmherzige Vernichtung? Oder spürte er diese Dinge nur? Wenn ja, empfand er sie als einzelne, deutlich unterscheidbare Schmerzen oder nur als eine dumpfe, überwältigende Qual?

Selbst nachdem ihm das Sehvermögen, Hörvermögen, der Geruchssinn und, wie ich hoffte, der Gefühlssinn genommen waren, blieb ihm eine Zeitlang immer noch das Bewußtsein. Dachte er bis zum Ende? Fürchtete er die endlose Nacht und das Nichts von Mictlan, der Unterwelt? Oder träumte er von einem neuen und ewigen Leben im hellen, reichen und glücklichen Land des Sonnengottes Tonatiu? Versuchte er möglicherweise verzweifelt, ein wenig länger die Erinnerungen an diese Welt und das Leben hier festzuhalten, an all das, was ihm am wertvollsten gewesen war? An die Jugend, an den Himmel und das Sonnenlicht, an Zärtlichkeiten, an kleine und große Taten, an Plätze, die er einmal besucht hatte und nie mehr besuchen würde? War es ihm gelungen, diese Gedanken und Erinnerungen fieberhaft als einen letzten kleinen Trost bis zu dem Augenblick festzuhalten, als sein Kopf in tausend Stücke zersprang und alles zu Ende war?

Ich glaube, falls das Schauspiel in der Tat als eine lehrreiche Lektion für uns gedacht war, der wir gezwungenermaßen zusahen, dann hätten wir sehr schnell genug davon gehabt. Vor allem deshalb, weil jeder von uns wußte, daß Juan Damasceno nicht für einen guten Zweck starb. Sein Herz und sein Blut nährten keinen Gott, weder einen der unseren noch den der Christen. Doch die Soldaten ließen uns nicht gehen, solange die Priester nicht gingen. Und sie blieben auf der Tribüne, bis von ihrem Opfer wenig mehr als Rauch und Gestank übriggeblieben war. Sie beobachteten die Hinrichtung mit dem strengen Gesichtsausdruck wie bei einer unangenehmen, aber zu erfüllenden Pflicht. Jeder Priester, gleich welcher Religion, kann diese Fassade der Rechtschaffenheit überzeugend zur Schau tragen. Doch die Augen straften ihre Gesichter Lügen. Die Augen der Priester glänzten. In ihnen spiegelte sich die Freude der Genugtuung und der Zustimmung zu dem, was sie sahen. Die Augen beinahe aller, sollte ich der Wahrheit zuliebe sagen. Die Augen des jungen Priesters, der die Rede des Oberpriesters ins Náhuatl übersetzt hatte, verrieten etwas anderes.

Er machte kein strenges, sondern ein trauriges Gesicht, und sein Blick war nicht hämisch, sondern mitfühlend. Als die anderen Priester endlich die Tribüne verließen und uns die Soldaten befahlen, den Platz zu räumen, blieb der junge Priester zurück.

Er stand vor der Kette, die am Pfahl hing und deren Glieder noch glühten, und blickte traurig auf die wenigen Überreste dessen, den die Kette gefesselt hatte. Alle anderen, auch meine Mutter und mein Onkel, beeilten sich, den Platz zu verlassen. Aber ich blieb ebenfalls zurück. Ich näherte mich dem Priester und sprach ihn in der Sprache an, die wir beide beherrschten. »Tlamacázqui«, sagte ich ehrerbietig, doch er hob abwehrend die Hand. »Priester? Ich bin kein Priester. Ich kann einen rufen, wenn du mir sagst, weshalb du einen Priester sprechen willst.«

»Ich wollte mit Euch sprechen«, erwiderte ich. »Ich beherrsche das Spanisch der anderen Priester nicht.«

»Und ich wiederhole, ich bin kein Priester. Manchmal bin ich froh darüber. Ich bin nur Alonso de Molina, der Notarius des Herrn Bischofs Zumárraga. Weil ich mir die Mühe gemacht habe, deine Sprache zu lernen, bin ich auch der Dolmetscher Seiner Exzellenz für unsere und eure Leute.«

Ich hatte keine Ahnung, was ein Notarius sein mochte, doch der Mann schien umgänglich zu sein, und im Gegensatz zu den anderen hatte er während der Hinrichtung menschliches Mitgefühl gezeigt. Deshalb sprach ich ihn jetzt mit dem ehrenvollen Namen an, der mehr bedeutet als Freund, nämlich ›Bruder‹ oder sogar ›Zwilling‹.

»Cuati Alonso«, sagte ich. »Ich heiße Tenamáxtli. Ich und ein paar Verwandte sind gerade von weit her gekommen, um Eure Stadt Mexico zum ersten Mal zu bewundern. Wir hatten nicht erwartet, daß uns Besuchern eine … eine öffentliche Unterhaltung geboten werden würde. Ich habe nur eine Frage. Trotz Eurer hervorragenden Übersetzung konnte ich in meiner ländlichen Unwissenheit nicht alle diese rechtskundlich klingenden Begriffe verstehen. Würdet ihr mir den Gefallen tun und mir in einfachen Worten erklären, was man dem Mann vorgeworfen und warum man ihn verbrannt hat?«

Der Notarius musterte mich einen Augenblick und fragte dann: »Bist du kein Christ?«

»Nein, Cuati Alonso. Ich habe von Crixtanóyotl gehört, aber ich weiß nichts über diese Religion.«

»Nun ja …«, er zögerte. »Deinem Wunsch zufolge in einfachen Worten ausgedrückt, kann man sagen, Don Juan Damasceno wurde für schuldig befunden, den Anschein erweckt zu haben, er sei zum christlichen Glauben übergetreten, während er in Wirklichkeit ein Ungläubiger blieb. Er hat sich geweigert, das zu gestehen und seiner alten Religion abzuschwören. Deshalb wurde er zum Tode verurteilt.«

»Ich fange an zu verstehen. Vielen Dank, Cuati. Ein Mann hat also die Wahl, den christlichen Glauben anzunehmen oder getötet zu werden?«

»Nein, nein, ganz so ist es nicht, Tenamáxtli. Aber wenn er einmal Christ geworden ist, muß er es bleiben.«

»Oder euer Gericht verurteilt ihn zum Flammentod.«

»Auch das ist nicht ganz richtig«, erklärte der Notarius stirnrunzelnd. »Die weltlichen Gerichte können für unterschiedliche Vergehen unterschiedliche Strafen verhängen. Wenn sie jemanden zum Tode verurteilen, gibt es mehrere Möglichkeiten – die Kugel, das Schwert, das Beil des Henkers oder …«

»Oder die grausamste Methode von allen«, beendete ich die Aufzählung für ihn, »das Verbrennen.«

»Nein.« Der Notar schüttelte den Kopf. Er wirkte inzwischen leicht betreten. »Nur das Kirchengericht, die Inquisition, kann dieses Urteil verhängen. Es ist sogar die einzige Art Hinrichtung, welche die Kirche anordnen kann. Verstehst du, die Kirche ist verpflichtet, Zauberer, Hexen und Ketzer wie diesen Juan Damasceno zu bestrafen, aber es ist ihr verboten, Blut zu vergießen. Deshalb ist im Kirchenrecht festgelegt, wie solche Menschen hinzurichten sind. Wie du gesehen hast, durch das Feuer und nur durch das Feuer.«

»Ich verstehe«, sagte ich. »Ja, Gesetze muß man befolgen.«

»Es freut mich, dir sagen zu können, daß solche Urteile nur selten vonnöten sind. Es ist drei Jahre her, daß an dieser Stelle ein Marrano verbrannt wurde, weil er den Glauben auf ähnliche Weise verhöhnt hatte.«

»Verzeihung, Cuati Alonso«, fragte ich. »Was ist ein Marrano?«

»Ein Jude. Das heißt jemand, der einmal Jude war und zum Christentum übergetreten ist. Und Hernando Halevi de Leon schien ein aufrichtig Bekehrter zu sein. Er hat sogar Schweinefleisch gegessen. Deshalb verlieh ihm die Krone auch eine eigene einträgliche Encomienda in Actópan, nördlich von hier. Ihm wurde gestattet, die schöne Isabel de Aguilar zu heiraten, die Tochter einer der besten spanischen Familien. Doch dann stellte man fest, daß der Marrano seiner Gemahlin Doña Isabel verbot, während ihrer monatlichen Blutungen die Messe zu besuchen. Offensichtlich war er ein scheinheiliger Bekehrter, der insgeheim immer noch die ketzerischen Gebote des jüdischen Glaubens befolgte.«

Ich verstand nichts von alldem und wandte mich deshalb wieder dem Thema zu, das mir näherlag. »Der Mann heute, Cuati … Ihr scheint nicht glücklich darüber gewesen zu sein, daß er verbrannt wurde.«

»Ayya, täusche dich nicht«, erwiderte er schnell. »Nach allen Glaubensgrundsätzen, Gesetzen und Regeln unserer Kirche hatte dieser Damasceno sein Schicksal zweifellos verdient. Das will ich nicht in Abrede stellen, keineswegs. Es ist nur … nun ja, im Laufe der Jahre war mir der alte Mann beinahe ans Herz gewachsen.« Er blickte ein letztes Mal auf die Asche. »Und jetzt, Cuati Tenamáxtli, mußt du mich entschuldigen. Ich habe Pflichten. Aber ich werde mich gern wieder mit dir unterhalten, wann immer du in der Stadt bist.«

Ich war seinem Blick auf die Asche gefolgt und hatte bemerkt, daß außer dem Metallpfahl und der Kette noch etwas das Feuer überstanden hatte. Es war der Anhänger, der mir schon vorher an der Lederschnur um den Hals des Mannes aufgefallen war, weil sich die Sonnenstrahlen darin brachen.

Der Notarius Alonso wandte sich ab, und ich bückte mich schnell und hob den Gegenstand auf. Er war so heiß, daß ich ihn eine Weile von einer Hand in die andere werfen mußte. Es handelte sich um eine kleine runde Scheibe aus einem gelben Kristall. Sie war eigenartig geschliffen – auf einer Seite flach, auf der anderen nach innen gewölbt. Die Lederschnur war natürlich verbrannt, und offensichtlich war der Kristall in Kupfer gefaßt gewesen, denn Spuren davon hingen immer noch am Rand, obwohl das meiste geschmolzen war. Keiner der Wachposten oder der anderen Spanier, die geschäftig über den großen Platz eilten oder müßig dahinschlenderten, nahm Notiz davon, daß ich den gelben Talisman oder was immer es war, an mich nahm. Ich steckte ihn in meinen Mantel und machte mich auf die Suche nach meiner Mutter und meinem Onkel. Ich fand sie auf einer Brücke, die über einen der verbliebenen Kanäle in der Stadt führte. Meine Mutter mußte geweint haben – ihr Gesicht war noch naß von Tränen. Onkel Mixtzin hatte ihr tröstend den Arm um die Schulter gelegt. Er knurrte vor sich hin: »Diese anderen Kundschafter, die Gutes über die Herrschaft der Weißen berichten, können unmöglich etwas Derartiges gesehen haben. Wenn wir zurück sind, werde ich darauf bestehen, daß wir Azteca uns von diesen abscheulichen Barbaren fernhalten …« Er brach ab und fragte mich ungehalten: »Was hast du so lange gemacht, Neffe? Wir hätten sehr wohl beschließen können, uns ohne dich auf den Weg nach Hause zu machen.«

»Ich bin zurückgeblieben, um ein paar Worte mit diesem Spanier zu wechseln, der unsere Sprache versteht. Er hat gesagt, er habe den alten Juan Damasceno gemocht.«

»Das war nicht der richtige Name des Mannes«, erklärte mein Onkel barsch, und meine Mutter schluchzte leise. Ich sah sie mißtrauisch an und sagte zögernd: »Tene, du hast dort auf dem Platz geseufzt und geschluchzt. Was um alles in der Welt kann dir dieser Mann bedeutet haben?«

»Ich habe ihn gekannt.«

»Wie ist das möglich, liebe Tene? Du bist nie zuvor in dieser Stadt gewesen.«

»Nein«, erwiderte sie. »Aber er war vor langer Zeit einmal in Aztlan.«

»Auch ohne das gelbe Auge«, sagte mein Onkel, »hätten Cuicáni und ich ihn erkannt.«

»Das gelbe Auge?« wiederholte ich. »Meinst du das?« Ich zog den Kristall hervor, den ich in der Asche gefunden hatte.

»Ayyol« rief meine Mutter erfreut. »Eine Erinnerung an den lieben Toten.«

»Wieso hast du das ein ›Auge‹ genannt?« fragte ich Onkel Mixtzin. »Und wenn dieser Mann nicht, wie die Spanier behaupten, Juan Damasceno gewesen ist, wer war er dann?«

»Ich habe dir oft von ihm erzählt, Neffe, aber wahrscheinlich habe ich vergessen, das gelbe Auge zu erwähnen. Er war dieser fremde Mexicatl, der nach Aztlan kam und, wie sich herausstellte, denselben Namen trug wie ich, nämlich Tliléctic-Mixtli. Er hat mir nahegelegt, die Wortkunde zu erlernen. Er war auch dafür verantwortlich, daß ich später den Mondstein hierher gebracht habe und daß mich unser Uey-Tlatoáni Motecuzóma empfing und mir die Krieger, Künstler, Lehrer und Handwerker anvertraute, mit denen ich nach Aztlan zurückkam …«

»Natürlich erinnere ich mich daran, daß du das erzählt hast, Onkel. Aber was hat das gelbe Auge damit zu tun?«

»Ayya, der arme Cuati Mixtli hatte ein Leiden, eine Sehschwäche. Was du da in der Hand hältst, ist eine Scheibe aus gelbem Topas, die auf besondere, vielleicht magische Weise geschliffen und poliert wurde. Der andere Mixtli hat sie sich immer ans Auge gehalten, wenn er etwas klar und deutlich sehen wollte. Doch die Sehschwäche hat ihn nie von seinen Abenteuern und Forschungen abgehalten. Wenn ich so sagen darf, hat sie ihn zumindest im Fall von Aztlan nicht daran gehindert, gute und große Taten zu vollbringen.«

»Das kannst du wirklich sagen«, murmelte ich beeindruckt. »Und wir sollten um ihn trauern. Diesem Mixtli haben wir viel zu verdanken.«

»Du, Tenamáxtli, sogar noch mehr als alle anderen«, flüsterte meine Mutter. »Mixtli war dein Vater.« Ich stand stumm und wie vom Donner gerührt da. Eine Ewigkeit lang konnte ich nur auf den Topas in meiner Hand starren. Es war die letzte Erinnerung an den Mann, der mich gezeugt hatte. Obwohl ich zu ersticken glaubte, stieß ich schließlich hervor. »Warum stehen wir dann einfach hier herum? Wollen wir nichts tun? Soll ich, sein Sohn, nichts tun, um den grausamen Tod meines Vaters an seinen Mördern zu rächen?«