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Also ging ich zuerst weiter nach Westen, dann nach Norden, Osten und Süden. Ich verbrachte in jedem Dorf mindestens eine Nacht. Schließlich hatte ich den See umrundet und gelangte wieder in das erste Dorf, das ich besucht hatte, San Marcos Churintzio, wo Erasmo Mártir wohnte.
Ich konnte mich in der Tat davon überzeugen, daß Pater Vasco nicht zuviel versprochen hatte. Die Menschen am See lebten alle glücklich, in Eintracht und Wohlstand. Sie waren mit diesem Leben verständlicherweise zufrieden. Und sie übten tatsächlich die alten Gewerbe der Purémpecha aus. Ein Dorf stellte gehämmerte Kupferwaren her: Teller, Platten und Krüge in alten Formen mit den unverkennbaren runden Vertiefungen in der Oberfläche. Ein anderes Dorf produzierte eine Art Keramik, wie man sie sonst nirgendwo sah. Die Gegenstände erhielten eine schimmernde schwarze Oberfläche, indem man dem Ton pulverisiertes Blei beimischte. Ein drittes Dorf hatte sich auf die seit eh und je berühmten Purémpe-Lackarbeiten spezialisiert: Tabletts, Tische und große faltbare Wandschirme schimmerten in tiefem, glänzendem Schwarz mit Einlegearbeiten in Gold und vielen leuchtenden Farben. In einem anderen Dorf wurden aus den Binsen des Sees Schlafmatten und Körbe geflochten. Ich muß zugeben, sie waren sogar noch schöner als die von Citláli. Ein Dorf produzierte feinen Schmuck aus Silberdraht, ein anderes Schmuck aus Bernstein und ein drittes Schmuck aus dem Perlmutt von Muschelschalen. Zwischen den einzelnen Dörfern und in ihrer Umgebung lagen die ordentlich bestellten Felder, auf denen das neue Zuckerrohr und ein Süßgras mit dem Namen sorgo neben den vertrauteren Bohnen und dem altbekannten Mais wuchsen. Die Felder brachten alle weit mehr Erträge als früher, denn die Siedler wußten die Vorteile der von den Spaniern mitgebrachten Werkzeuge zu nutzen und beherzigten die neuen Anbaumethoden.
Man konnte nicht leugnen, daß die Mexica-Siedler großen Gewinn aus dem Zusammenleben mit den Spaniern zogen.
Ich fragte mich: Wiegen die Erfolge dieses erfreulichen Utopía das Elend und die Erniedrigungen auf, welche andere Mexica in den grauenvollen Obrajes erdulden? Nein, denn dort litten viele tausend Menschen meines Volkes. Bestimmt gab es andere Weiße wie Pater Vasco de Quiroga, die unter dem Wort ›Christlichkeit‹ in der Tat ›liebevolle Anteilnahme und Freundlichkeit‹ verstanden. Doch diese Menschen waren eine verschwindend kleine Minderheit im Vergleich zu den bösartigen, raffgierigen, betrügerischen und hartherzigen Spaniern, die sich ebenfalls Christen und sogar Priester nannten. Ich gebe zu, damals verhielt ich mich so falsch und betrügerisch wie die Weißen selbst. Ich bereiste die Dörfer von Pater Vascos Utopía nicht nur, um mir ein Urteil darüber zu bilden und sie zu bewundern. Ich suchte nach Bewohnern, die sich möglicherweise an meinem geplanten Aufstand beteiligen würden. Ich zeigte jedem Dorfschmied meine Arkebuse und erkundigte mich, ob er sie nachbauen könne. Sie lobten und bewunderten den Donnerstock, erklärten aber übereinstimmend, selbst wenn sie gewillt wären, die Waffe nachzubauen, so besäßen sie doch nicht die nötigen Werkzeuge. Die Antworten, die ich von allen Männern erhielt, wenn ich sie fragte, ob einer von ihnen bereit sei, sich mir bei einem Aufstand gegen die spanischen Unterdrücker anzuschließen, lassen sich in Erasmo Mártirs Reaktion zusammenfassen, dem ich diese Frage als letztem stellte. »Nein«, erklärte er ohne langes Nachdenken. Wir saßen zusammen auf der Bank vor seiner Haustür. Diesmal arbeitete er nicht an einer Gitarre. »Hältst du mich für völlig tlahuéle? Ich gehöre zu den glücklichen Mexica, die genug zu essen und ein sicheres Heim haben. Mich kann kein Herr mißhandeln. Ich kann kommen und gehen, wann ich will. Ich bin sogar wohlhabend, und meine Familie hat eine vielversprechende Zukunft.« Noch einer, der alle Männlichkeit verloren hat, dachte ich bitter. Lamiendo el culo del patrón. Ich fragte: »Ist das alles, was du dir vom Leben wünschst, Erasmo?«
»Alles?! Bist du tlahuéle, Juan Británico? Was kann sich ein Mann heutzutage in dieser Welt mehr wünschen?«
»Du sagst heutzutage. Aber es hat eine Zeit gegeben, in der die Mexica auch ihren Stolz hatten.«
»Nur die, die es sich leisten konnten. Die Tlátoantin-Herrscher und jene mit dem adligen -tzin hinter ihrem Namen und die oberen Pipiltin-Klassen, die Cuáchitin-Ritter und so weiter. Sie waren sogar so stolz, daß sie keinen Gedanken an das gemeine Volk, an uns Macehualtin, verschwendeten. Wir mußten für sie arbeiten, sie ernähren und bedienen. Sie nahmen uns nur zur Kenntnis, wenn sie uns auf dem Schlachtfeld brauchten.«
Ich sagte: »Die meisten Cuáchitin, von denen du sprichst, waren Macehualtin, die aus der Klasse der einfachen Leute in den Ritterstand aufgestiegen sind, weil sie gegen die Feinde der Mexica gekämpft hatten. Sie waren stolz auf ihr Land und bewiesen das durch ihre Tapferkeit auf dem Schlachtfeld.«
Erasmo erwiderte mit einem Schulterzucken: »Ich habe hier alles, was je ein Ritter hatte, und ich habe es gewonnen, ohne zu kämpfen und zu töten!«
»Du hast es nicht gewonnen!« erwiderte ich heftig. »Es ist dir gegeben worden.«
Er zuckte wieder die Schultern. »Aber ich arbeite schwer, um dessen würdig zu sein und es zu behalten. Ich möchte dem guten Pater Vasco meine Dankbarkeit zeigen.«
»Der Pater ist gut und freundlich, das stimmt. Aber begreifst du nicht, Cuati Erasmo? Er erniedrigt deine Männlichkeit genauso wie ein grausamer Spanier, der die Peitsche schwingt. Er behandelt euch alle wie gezähmte wilde Tiere … oder sabbernde Xolopitlin … wie kleine Kinder.«
Offenbar war es für Erasmo der Tag, um mit den Schultern zu zucken. »Selbst der männlichste Mann kann es schätzen, mit rücksichtsvoller Fürsorglichkeit behandelt zu werden.« Er schniefte, als sei er den Tränen nahe. »So wie eine gute Frau ihren guten Mann behandelt.« Ich sah ihn verständnislos an. »Was hat eine Frau damit zu tun?«
»Sprich nicht weiter, Cuati Juan. Komm, laß uns einen Spaziergang machen. Ich möchte mit dir noch über etwas anderes reden.«
Ich ging verwundert mit ihm. In einiger Entfernung von seinem Haus sagte ich: »Du scheinst nicht annähernd so guter Dinge zu sein wie bei meinem ersten Besuch, und der liegt noch nicht lange zurück.«
Er schniefte wieder, räusperte sich und murmelte düster:
»Ganz bestimmt nicht. Ich lasse den Kopf hängen, mir blutet das Herz, und meine Hände zittern, so daß meine Arbeit darunter leidet.«
»Bist du krank, Erasmo?«
»Am besten nennst du mich bei meinem heidnischen Namen Ixtálatl, denn ich tauge nicht mehr zu einem Christen. Ich habe so schwer gesündigt, daß mir nicht vergeben werden kann. Ich habe … Cháhuacocolíztli.«
Dieses lange Wort bedeutet ›die schändliche Krankheit, die vom Ehebruch herührt‹. Beinahe schluchzend fuhr er fort: »Nicht nur mein Herz schmerzt, sondern auch mein Tepúli. Ich wage seit einiger Zeit nicht mehr, meine Frau zu umarmen, und sie fragt immer wieder traurig, warum.«
»Ayya«, murmelte ich mitfühlend. »Dann hast du mit einer verführerischen Purémpe-Frau geschlafen. Kopf hoch, Erasmo, einer unserer Ticitl, wahrscheinlich sogar ein spanischer Médico kann das Leiden mildern. Jeder Priester unserer gütigen Göttin Tlazoltéotl wird dich von dem Fehltritt lossprechen.«
»Als Christ kann ich mich nicht an die Göttin wenden.«
»Dann geh und beichte deine Sünde Pater Vasco. Er hat mir gesagt, daß Ehebruch in Utopía nicht gerade etwas Unbekanntes ist. Er hat bestimmt andere losgesprochen und erlaubt, daß sie weiterhin Christen sind.«
Erasmo murmelte schuldbewußt: »Als Mann schäme ich mich zu sehr, um es dem Pater zu beichten.«
»Warum, wenn ich fragen darf, beichtest du es dann mir?«
»Weil sie dich treffen will.«
»Wer?« rief ich verblüfft. »Deine Frau?«
»Nein. Die Ehebrecherin.«
Jetzt war ich völlig verwirrt. »Wieso im Namen aller Götter sollte ich bereit sein, eine Hure mit einem unreinen Tipíli zu treffen?«
»Sie hat sich nach dir erkundigt. Sie kennt deinen heidnischen Namen – Tenamáxtli.«
»Das muß Pakápeti sein«, murmelte ich in noch größerer Verwirrung. Denn wenn Zehenspitze krank gewesen wäre, als sie und ich so oft und leidenschaftlich miteinander schliefen, hätte ich inzwischen ebenfalls Schmerzen und Ausfluß haben müssen. Es war kaum so viel Zeit vergangen, daß ein anderer Mann, der zufällig vorbeigekommen war …
»Sie heißt nicht Pakápeti«, erklärte Erasmo, und mein Staunen wuchs, als er die Hand hob und sagte: »Da kommt sie.«
Das konnte kein Zufall sein. Die Frau mußte unser Näherkommen aus einem Versteck beobachtet haben. Ich hatte sie noch nie gesehen und hoffte, nie mehr ein so kaltes und schadenfrohes Lächeln sehen zu müssen wie das, mit dem sie mich begrüßte. Erasmo machte uns auf náhuatl, nicht auf poré ohne jede Begeisterung miteinander bekannt: »Cuati Tenamáxtli, das ist G’nda Ké, die den Wunsch geäußert hat, dich kennenzulernen.« Ich ersparte mir eine höfliche Begrüßung und sagte nur: »G’nda Ké ist kein Purémpe-Name. Und du hast viele Haare auf dem Kopf.«
Sie verstand Náhuatl, denn sie antwortete: »G’nda Ké ist Yaki« und hob hochmütig den Kopf mit der nachtschwarzen Mähne.
Erasmo murmelte: »Ich muß gehen. Meine Frau …« Er verschwand in Richtung seines Hauses.
»Wenn du eine Yaki bist«, sagte ich zu der Frau, »dann hast du dich weit von deiner Heimat entfernt.«
»G’nda Ké ist schon viele Jahre in der Fremde.« Das war typisch für ihre Art, sich auszudrücken. Sie sagte niemals ›ich‹. Sie sprach immer, als stehe sie neben ihrem Körper.
G’nda Ké schien nicht älter zu sein als ich. Sie hatte ein hübsches Gesicht und eine hübsche Figur. Mir war klar, daß es für sie ein leichtes gewesen sein mußte, Erasmo zu verführen. Aber ganz gleich, ob G’nda Ké lächelte, finster blickte oder ein ausdrucksloses Gesicht machte, sie wirkte immer verschlagen. Das erweckte den Eindruck, sie hüte ein sehr persönliches, schmutziges kleines Geheimnis, mit dem sie ganz nach Wunsch jedem schaden oder ihn sogar in die Mictlan verdammen konnte. Ihr Gesicht hatte noch eine Besonderheit, die man bei Menschen unseres Volkes selten sieht.
»Du hast viele kleine Flecken auf der Haut«, sagte ich. Es kümmerte mich nicht, ob das unhöflich war, denn ich hielt die Flecken für ein Anzeichen ihres abscheulichen Leidens.
»G’nda Ké hat am ganzen Körper Flecken«, sagte sie mit einem anzüglichen Lachen, als fordere sie mich auf, mich selbst davon zu überzeugen. Ich ging darauf nicht ein und fragte: »Was führt dich aus dem Land der Yaki so weit in den Süden? Suchst du etwas?«
»Ja.«
»Was suchst du?«
»Dich.«
Ich lachte nicht sehr erfreut. »Mir war nicht bewußt, daß meine Anziehungskraft so weit reicht. Wie dem auch sei, du hast statt dessen Erasmo gefunden.«
»Nur, um dich zu finden.«
Ich lachte wieder. »Erasmo hat allen Grund, sich zu wünschen, du hättest ihn nie gefunden.«
Sie sagte gleichgültig: »Erasmo ist nicht wichtig. G’nda Ké hofft, daß er die Krankheit an jeden anderen Mexicatl hier in Utopía weitergibt. Die Männer haben die Qual verdient. Sie sind so schlaff und feige wie ihre Vorväter, die sich weigerten, Aztlan mit mir zu verlassen.« In meiner Erinnerung regte sich etwas. Und ich glaubte zu spüren, daß sich meine Haarwurzeln am Hinterkopf ebenfalls regten. Canaútli, der Geschichtserinnerer, hatte uns von einer Yaki-Frau mit dem Namen G’nda Ké erzählt, die vor langer Zeit in Aztlan aufgetaucht war. Sie verwandelte einen Teil der friedlichen Azteca in die kriegerischen Mexica, die sich als Eroberer den Weg zu Ruhm und Größe erkämpft hatten. »Das ist schon viele Jahre her«, murmelte ich. Ich mußte ihr bestimmt nicht erklären, was das ›das‹ bedeutete. »Wenn du damals nicht gestorben bist, wie man erzählt, wie alt mußt du dann sein, Yaki-Frau?«
»Auch das ist nicht wichtig. Wichtig ist, daß auch du, Tenamáxtli, Aztlan verlassen hast. Und jetzt bist du bereit, G’nda Kés Geschenk, das heißt ihre andere Krankheit, anzunehmen.«
Ich rief: »Bei Huitzli, ich will keines deiner Leiden!«
»Ayyo, aber ja doch! Du hast gerade das Wort ausgesprochen. Du willst G’nda Ké nicht verstehen. Sie denkt nur an Huitzilopóchtli. Der Kriegsgott ist G’nda Kés andere Krankheit! Sie wird dir mit Freuden helfen, den Krieg in der gesamten EINEN WELT zu verbreiten.« Ich starrte sie nur an. Ich hatte in letzter Zeit keinen Chápari getrunken, also war dieses schreckliche Geschöpf kaum das Trugbild eines Betrunkenen.
»Hier wirst du keine Krieger finden, Tenamáxtli. Erliege nicht der Versuchung, in dem friedlichen Utopía herumzulungern. Dein Tonáli hat dir ein härteres Leben bestimmt und ein ruhmreicheres. Geh nach Norden. Du und G’nda Ké, ihr beide werdet auf dem Weg bald wieder zusammentreffen, wahrscheinlich sogar sehr oft. Wann immer du sie brauchst, wird sie dasein, um andere mit der erhabenen Krankheit anzustecken, die du mit ihr teilst.« Während sie sprach, ging sie rückwärts. Bei ihren letzten Worten befand sie sich bereits in einiger Entfernung. Deshalb rief ich ihr zu: »Ich brauche dich nicht! Ich will dich nicht! Ich kann ohne dich Krieg führen! Geh zurück in die Mictlan, wo du hergekommen bist!« Bevor sie meinen Blicken entschwand, sagte sie noch etwas – nicht laut, aber hörbar, und es klang wie eine Drohung: »Tenamáxtli, kein Mann, auch du nicht, kann eine schöne Frau mit der Neigung zu Bosheit und Gehässigkeit abweisen oder sich ihr entziehen. Du wirst G’nda Ké nicht los, solange sie lebt, ihr Haß wächst und sich ihre Krankheiten schneller und immer schneller verbreiten.«
Pater Vasco sagte: »Ich habe noch nie etwas von den Yaki gehört.«
Ich erzählte ihm, was ich wußte. »Sie leben im fernsten nordwestlichen Winkel der EINEN WELT in den Wäldern und auf den Bergen, weit hinter der Wüste, die unser Volk Totes-Knochen-Land nennt. Die Yaki stehen im Ruf, blutrünstige Wilde zu sein, die jeden anderen Menschen, selbst ihre engsten Verwandten hassen. Jetzt, nachdem ich gestern diese Yaki-Frau getroffen habe, fange ich an, es zu glauben. Wenn die Frauen alle so sind wie sie, müssen die Männer erst recht wahre Ungeheuer sein.«
Ich hatte Santa Cruz Pátzcuaro noch einmal aufgesucht, weil ich Vasco de Quiroga mochte und bewunderte. Ohne die kriegerischen Neigungen der Yaki-Frau, die sie am Vortag so deutlich zu erkennen gegeben hatte, ebenso wie jene, die ihr in Canaútlis alten Geschichten zugeschrieben wurden, zu erwähnen, berichtete ich dem Pater, was ich von ihren bösen Taten und Absichten wußte.
»Es geschah in einer Zeit, an die man sich nicht mehr erinnern und die man sich deshalb auch nicht mehr vorstellen kann«, sagte ich. »Doch was damals geschah, hat unser Volk niemals vergessen. Es wurde von einem alten Geschichtserinnerer an den nächsten weitergegeben. Es ist die Geschichte der geheimnisvollen Yaki-Frau, die sich in unser ruhiges und friedliches Aztlan einschlich, die Verehrung eines fremden Gottes predigte und dadurch Bruder gegen Bruder aufbrachte.«
»Hmm«, murmelte der Pater nachdenklich. »Lilith kommt zu Kain und Abel.«
»Wie bitte?« sagte ich. »Nichts. Sprich weiter, mein Sohn.«
»Entweder sie ist damals vor vielen, vielen Jahren nicht gestorben und eine Dämonin geworden, oder sie hat eine lange Reihe von Dämonentöchtern hervorgebracht. Mit Sicherheit versucht eine solche Yaki-Frau, Euer Utopía zu zerstören. G’nda Ké stellt für Eure Siedler eine weit größere Bedrohung dar als alle Purémpe-Frauen, die sich nach den Umarmungen eines Mannes sehnen. Die Yaki-Männer stehen im Ruf, ihre Frauen grausam zu mißhandeln. Mein Urgroßvater war der Überzeugung, daß damals diese Yaki-Frau deshalb versuchte, sich an jedem lebenden Mann zu rächen.«
»Hmm«, murmelte der Pater noch einmal. »Seit Lilith kennt jedes Land der ALTEN WELT ein ähnliches Raubtier in Frauengestalt, das nichts anderes will, als jedem Mann die Eingeweide herauszureißen. Ist sie eine Frau oder eine mystische Gestalt? Wer kann das sagen? In verschiedensten Sprachen wird sie als Harpie, Lamia, Hexe, häßliches altes Weib oder la bella Dama sin merced bezeichnet.« Er musterte mich lange. Dann fragte er fast flüsternd: »Sag mir, Juan Británico, wenn ich diesen Dämon unschädlich machen soll, wie finde und erkenne ich G’nda Ké?«
»Das wird möglicherweise schwierig sein«, erwiderte ich. »G’nda Ké könnte sich für eine von den vielen durchreisenden jungen Frauen ausgeben … natürlich ist sie keine Purémpecha. Wenn sie sich verkleidet, könnte man sie sogar für eine spanische Señorita halten. Ich muß gestehen, ich kann mich nicht deutlich genug an ihr Gesicht erinnern, um es zu beschreiben. Es war hübsch, aber in der Erinnerung scheint es bis auf drei Einzelheiten irgendwie zu verschwimmen. Ich kann Euch nur soviel sagen, kein lebender Mensch hat Haare von der Farbe ihrer Haare, und ihre Haut ist mit kleinen Flecken übersät. Außerdem hat sie die Augen einer Axolotl-Eidechse. Wenn sie weiß, daß ich zu Euch gegangen bin, Pater, dann ist ihr klar, daß ich Euch vor ihr warnen will. Vermutlich hat sie sich deshalb versteckt oder Utopía bereits verlassen.«
Wir wurden von einem jungen Mönch unterbrochen, den ich schon früher gesehen hatte. Er rief aufgeregt: »Pater! Kommt schnell! Ein schreckliches Feuer wütet im Osten! San Marcos Churintzio, das Dorf der Gitarren … es scheint in Flammen zu stehen!« Wir rannten hinaus und blickten in die Richtung, in die er wies. Dort stieg eine schwarze Rauchwolke auf. Sie erinnerte mich an meinen Abschied von der Stadt Mexico auf dem Heuschreckenberg.
Aber mit diesem Unglück im Dorf hatte ich nichts zu tun. So blieb ich zurück, als Pater Vasco, seine Mönche und alle anderen Bewohner von Santa Cruz davoneilten, um ihren Nachbarn in San Marcos zu Hilfe zu kommen. Ich zweifelte nicht daran, daß dieses Feuer das Werk der bösartigen G’nda Ké war. Plötzlich spürte ich jedoch, wie mich jemand am Mantel zupfte. Ich drehte mich um und sah Zehenspitze, die sich geräuschlos an mich herangeschlichen hatte und ihrem Namen damit alle Ehre machte.
Sie lächelte triumphierend, und ich sagte: »Du bist es gewesen! Du hast das Dorf in Brand gesetzt!«
»Nicht ich, sondern meine Kriegerinnen. Seit ich die Truppe zusammengestellt habe, suchen wir dich, Tenamáxtli. Ich habe dich bereits in dem anderen Dorf gesehen. Als du es verlassen hast, habe ich meinen Frauen die notwendigen Befehle gegeben und bin dir hierher nachgefolgt.« Mit einer gewissen Verachtung fügte sie hinzu: »Ich konnte sehen, daß du keine weiteren Mitstreiter gefunden hast.«
Ich wies auf den Rauch. »Aber warum das? Die Mexica sind harmlos.«
»Eben weil sie harmlos sind. Ich wollte dir zeigen, wozu wir Frauen fähig sind.« Sie ergriff meine Hand und zog mich mit sich. »Gehen wir, Tenamáxtli, bevor die Spanier zurückkommen. Sieh dir die ersten Rekruten deiner Armee an.«
Ich folgte ihr zu einem Berghang auf der anderen Seite des Sees, wo sich die Kriegerinnen nach dem fackelschwingenden Überfall auf die Häuser des Dorfes versammelt hatten. Neben Zehenspitze zählte ich zweiundvierzig Frauen aller Altersgruppen, vom jungen Mädchen bis zur reifen Frau. Sie waren unterschiedlich hübsch – natürlich alle kahl –, aber alle wirkten sie gleichermaßen gesund, kräftig und entschlossen, ihren Mut unter Beweis zu stellen.
Ich seufzte ergeben und dachte: Gut, es sind nur Frauen, aber es sind dreiundvierzig Verbündete mehr, als ich bis jetzt hatte!
In diesem Augenblick erfuhr meine männliche Überheblichkeit einen empfindlichen Schlag. »Pakapeti!« fuhr eine der älteren Frauen Zehenspitze barsch an. »Du hast uns zum Kämpfen angeworben. Wieso verlangst du jetzt, daß wir diesen Fremden als Führer anerkennen?«
Ich erwartete, Zehenspitze werde etwas von meisterhaften Führungseigenschaften sagen oder zumindest darauf hinweisen, daß der Aufstand ursprünglich meine Idee gewesen war. Doch sie wandte sich an mich und sagte nur: »Tenamáxtli, zeig ihnen, wie deine Arkebuse arbeitet.« Trotz meines Ärgers und der Empörung über diese Herabsetzung lud ich die Waffe und schoß auf ein Eichhörnchen, das nicht allzuweit entfernt auf einem Ast saß. Glücklicherweise traf ich mein Ziel. Die Bleikugel zerriß das kleine Tier. Die Frauen begutachteten aufgeregt die Überreste, reichten sie herum und bewunderten die Zerstörungskraft des Donnerstocks. Sie staunten, daß ich so etwas besaß. Dann verlangten sie alle, ich solle ihnen den Umgang mit der Arkebuse erklären. Sie wollten abwechselnd damit üben.
»Nein«, erwiderte ich entschlossen. »Wenn sich jede von euch einen Donnerstock beschafft, werde ich euch das Schießen beibringen.«
»Wie sollen wir das anstellen?« fragte die ältere Frau. Sie hatte die Stimme und das Aussehen eines Kojoten. »Die Waffen der Weißen sind nicht einfach so zu haben.«
»Hier ist eine, die dir sagen wird, wie«, meldete sich eine neue Stimme.
Es war die vierundvierzigste Frau auf dieser Versammlung. Sie war nicht kahl und sie war keine Purémpe. Es war G’nda Ké, die Yaki. Zum zweiten Mal mischte sie sich in meine Angelegenheiten ein. Offenbar hatte sie sich in der kurzen Zeit seit unserer Begegnung den Frauen angeschlossen und sich bei ihnen beliebt gemacht, denn sie hörten ehrerbietig zu, als sie das Wort ergriff. Selbst ich konnte an dem, was sie zu sagen hatte, nichts aussetzen.
»Unter euch sind hübsche Mädchen. Und hier in Michihuácan gibt es viele spanische Soldaten in militärischen Vorposten oder als Wachen auf den Estancias spanischer Grundbesitzer. Ihr müßt nur die Blicke dieser Männer auf euch ziehen und mit eurer Schönheit und euren Verführungskünsten …«
»Schlägst du vor, daß wir rittlings in die Schlacht ziehen?« rief eine der hübschen jungen Frauen. »Du willst, daß wir mit unseren erklärten Feinden schlafen?« Ich war versucht zu sagen, daß die verhaßten, ungewaschenen, weißen und christlichen Männer bestimmt den Ziegenböcken und anderen derzeit in Michihuácan vorhandenen Möglichkeiten vorzuziehen seien. Doch ich schwieg und überließ es G’nda Ké zu antworten. »Du bist noch sehr jung, aber laß dir von mir sagen, es gibt viele Möglichkeiten, einen Gegner zu besiegen. Verführung ist ein Weg, der den Männern verschlossen ist. Du solltest stolz darauf sein, eine Waffe zu haben, die uns, dem weiblichen Geschlecht, vorbehalten ist.«
»Ach so …« Die junge Frau, die widersprochen hatte, nickte und schien fast überzeugt zu sein. G’nda Ké fuhr fort: »Als Purémpe habt ihr noch einen anderen Vorzug. Die Frauen der Spanier sind auf dem Kopf und am Körper behaart. Die spanischen Soldaten werden neugierig sein. Sie werden eine Frau, die unbehaart ist, nun ja, … sagen wir, genau untersuchen wollen!«
Die meisten in der Runde nickten zustimmend. »Geht zu jedem Wachsoldaten, zu jedem Posten«, fuhr die Yaki-Frau fort, »einzeln oder zu mehreren. Laßt eure Reize spielen. Tut, was notwendig ist, damit die Soldaten entweder vor Liebeslust den Kopf verlieren, oder wenn ihr soweit gehen wollt, laßt ihnen ihren Willen, bis sie schlaff und hilflos sind. Dann stehlt ihr ihnen die Donnerstöcke.«
»Und alle anderen Waffen, die sie möglicherweise haben«, fügte ich schnell hinzu. »Außerdem das Pulver und das Blei für ihre Waffen.«
»Jetzt?« fragten mehrere Frauen eifrig. »Sollen wir die Soldaten sofort suchen?«
Ich erwiderte: »Ich wüßte nicht, was dagegen spricht, wenn ihr wirklich bereit seid, eure weiblichen Reize für unsere Sache einzusetzen. Aber ihr werdet verstehen, daß ich keine Zeit hatte, mir einen umfassenden Plan auszudenken. Mit Sicherheit muß unsere Truppe noch sehr viel größer werden. Und um mehr Krieger zu finden, muß ich weit über die Grenzen dieses Landes hinausgehen.«
»Ich begleite dich«, erklärte Zehenspitze entschlossen. »Wenn ich in dieser kurzen Zeit so viele Frauen auftreiben konnte, gelingt mir das bestimmt auch bei anderen Völkern und in anderen Ländern.«
»Sehr gut«, sagte ich, denn ich hatte keine Einwände gegen die Begleitung einer so unternehmungslustigen und hübschen Frau. »Da wir beide fort sein werden, Pakápeti«, fügte ich hinzu und räumte ihr damit großzügig den Rang einer gleichberechtigten Führerin ein, »schlage ich vor, daß wir gemeinsam eine stellvertretende Anführerin bestimmen.«
»Ja«, sagte sie und blickte über die versammelten Frauen. »Warum nicht du, Kameradin?« Sie wies auf die Yaki-Frau.
»Nein, nein«, widersprach G’nda Ké betont zurückhaltend und bescheiden. »Die tapferen Purémpe sollten von einer Frau ihres Volkes geführt werden. Außerdem muß G’nda Ké wie du und er andernorts für unsere Sache arbeiten.«
»Dann«, sagte Zehenspitze, »schlage ich Kurupani vor.« Sie wies auf die Frau, die wie ein Kojote aussah. Auch sie hatte den falschen Namen bekommen, denn sie hatte nichts von einem ›Schmetterling‹, aber das bedeutet dieses Pore-Wort.
»Einverstanden«, sagte ich und wandte mich direkt an Schmetterling. »Es mag lange dauern, bis wir einen richtigen Krieg gegen die Weißen führen können. Aber während Pakápeti und ich das Land nach Rekruten durchsuchen, bist du verantwortlich für den Feldzug zur Beschaffung von Waffen.«
»Und mehr nicht?« fragte die Frau und wies auf die Schale voll Glut – derzeit die einzige Waffe der Frauen. »Können wir nicht auch ein bißchen brennen?«
Ich rief: »Ayyo, selbstverständlich! Ich bin für alles, was die Spanier beunruhigt und herausfordert. Außerdem werden brennende Vorposten oder Haziendas ihre Aufmerksamkeit von den größeren Kriegsvorbereitungen ablenken, die Pakápeti und ich möglicherweise an anderer Stelle treffen werden. Nur eins, Schmetterling. Bitte belästigt keines der Dörfer um Pátzcuaro mehr. Weder Pater Vasco noch seine friedlichen Mexica sind unsere Feinde.«
Die Frau erklärte sich widerwillig damit einverstanden. G’nda Ké runzelte die Stirn. Sie schien meine Anweisungen in Frage zu stellen. Doch ich drehte ihr den Rücken zu und sagte zu Zehenspitze: »Wir werden von hier nach Norden gehen. Wenn du bereit bist, können wir sofort aufbrechen. Ich sehe, du hast dein Reisegepäck schon bei dir. Brauchst du vielleicht noch etwas anderes, was ich dir beschaffen kann?«
»Ja«, erwiderte sie. »Tenamáxtli, ich will so bald wie möglich einen eigenen Donnerstock.«