9
»A cuántas patos ha matado hoy?« fragte ich schüchtern. »Caray, cientos! Y a tenazón«, erwiderte er und grinste stolz. »Unos gansos y cisnes además.« Also hatte er meine Frage, wie viele Enten er an diesem Tag erlegt habe, verstanden, und ich hatte seine Antwort verstanden.
»Ha, Hunderte! Und das, ohne zu zielen. Außerdem ein paar Gänse und Schwäne.«
Zum ersten Mal erprobte ich meine Spanischkenntnisse nicht an meinem Lehrer oder meinen Klassenkameraden. Der junge Mann war ein Soldat, der seinen Dienst als Vogelsteller am See versah. Er wirkte nicht abweisend. Vielleicht lag es daran, daß ich spanische Kleidung trug und er mich für einen christianisierten Hausdiener hielt. Er sprach unaufgefordert weiter. »Por supuesto, no comemos los cisnes. Demasiado duro a mancar.« Ihm schien es wichtig, mir zu versichern: »Natürlich essen wir die Schwäne nicht. Sie sind zu zäh, um sie zu kauen.« Ich war schon öfter zum See gekommen, um zu beobachten, was Pochotl als eigenartige, aber wirkungsvoll Methode beschrieben hatte, mit der die Spanier Enten erlegten, die sich jeden Abend in der Dämmerung auf dem See niederließen. Es war in der Tat eine seltsame Methode, bei der ein Donnerstock, auch ›Arkebuse‹ genannt, benutzt wurde, der äußerst wirkungsvoll war.
Die Vogelsteller befestigten zahlreiche Arkebusen an Pfählen, die am Ufer in die Erde eingeschlagen worden waren. Die Rohre der Waffen wiesen waagrecht auf das Wasser. Andere Arkebusen waren auf ähnliche Weise an Pfähle gebunden, ihre Rohre wiesen jedoch in verschiedenen Winkeln nach oben und in unterschiedliche Richtungen. Ein Soldat konnte alleine alle Waffen laden und abfeuern. Zuerst zog er an einer Schnur, und die waagrecht zielenden Arkebusen spien direkt über der Wasseroberfläche Rauch und Blitze. Sie töteten viele der schwimmenden Vögel und erschreckten die anderen, die in Panik aufflogen. Dann zog der Vogelsteller an einer zweiten Schnur, und die in verschiedene Richtungen weisenden Waffen feuerten alle auf einmal. Dabei rissen sie ganze Vogelschwärme aus der Luft. Danach ging der Soldat die Reihen der Waffen entlang und machte irgend etwas an der Mündung der Rohre und etwas am hinteren Ende. Während dieser Zeit beruhigten sich die Vögel und ließen sich wieder auf dem Wasser nieder. Dann begann das Schlachten von neuem. Vor Einbruch der Dunkelheit schickte der Vogelsteller Ruderer in Acaltin-Kanus hinaus, um die toten Vögel einzusammeln.
Ich hatte den Vorgang mehrmals beobachtet, doch an diesem Tag nahm ich zum ersten Mal meinen Mut zusammen und stellte Fragen.
»Wir Indios benutzen immer nur Netze«, sagte ich zu dem jungen Soldaten, »in die wir die Vögel hineintreiben. Eure Methode ist sehr viel erfolgreicher. Wie funktioniert das eigentlich?«
»Es ist ganz einfach«, erwiderte er. »Am Gatillo jeder Arkebuse wird eine Schnur befestigt.« – Ich war bereits verwirrt, denn Gatillo bedeutete doch Kätzchen. – »Die Schnüre sind alle an einer Leine befestigt, die ich ziehe. Damit feuere ich alle Waffen gleichzeitig ab.«
»Das habe ich gesehen«, sagte ich. »Aber wie funktioniert die Arkebuse?«
»Ah«, sagte er und führte mich stolz zu einer der Waffen, kniete sich daneben und wies mit dem Finger: »Das kleine Ding hier ist der Gatillo.« Es handelte sich um ein Stückchen Metall, das unter dem hinteren Ende der Arkebuse hervorragte. Es hatte die Form einer Mondsichel und wurde mit dem Finger nach hinten gedrückt oder in diesem Fall mit der Schnur zurückgezogen. Das ›Kätzchen‹ befand sich in einem Metallbügel, der offenbar verhindern sollte, daß es zufällig bewegt wurde. »Und das hier ist das Rad. Es wird von einer Feder bewegt, die du nicht sehen kannst, weil sie sich in diesem Schloß befindet.« Das Rad war wahrhaftig ein Rad oder besser gesagt ein Rädchen von der Größe einer Scheidemünze. Es bestand aus Metall, und der Rand wies feine Zähne auf. »Was ist eine Feder?«
»Ein schmaler Metallstreifen, der mit diesem Schlüssel eng zusammengerollt wird.«
Er zeigte mir den Schlüssel und zeichnete damit eine kleine enge Spirale in den Staub zu unseren Füßen. »So sieht die Feder aus, und jeder Arkebusier hat einen Schlüssel dafür.« Er steckte seinen Schlüssel in ein Loch des ›Schlosses‹, wie er es nannte, drehte ihn ein- oder zweimal, und ich hörte ein leises, schabendes Geräusch. »So, das Rad ist bereit, sich zu drehen. Und das hier nennen wir die ›Katzenpfote‹.«
Er deutete auf ein kleines Stück Metall, das jedoch überhaupt nicht wie die Pfote einer kleinen spanischen Katze aussah, sondern eher wie der Kopf eines Vogels, der ein Steinchen im Schnabel hielt.
»Der Stein«, erklärte der junge Soldat, »ist ein Pyrit.« Ich erkannte, daß es sich um ein winziges Stück des Steins handelte, von dem wir sagen, er sei ›falsches Gold‹.
»Jetzt spannen wir die Katzenpfote«, fuhr er fort und drückte sie mit dem Daumen nach hinten, bis sie klickte. »Sie wird von einer anderen Feder in dieser Stellung gehalten. Und nun, sieh genau hin, jetzt drücke ich das Kätzchen, das Rad dreht sich, gleichzeitig schlägt die Katzenpfote den Pyrit gegen das Rad, und du siehst die Funken sprühen.«
Genau das geschah. Der Soldat war stolz auf die gelungene Demonstration.
»Aber«, sagte ich, »aus dem Rohr ist weder ein Blitz noch Lärm oder Rauch hervorgekommen.« Er lachte nachsichtig. »Das liegt daran, daß ich die Arkebuse nicht geladen und die Cazoleta oder die Zündpfanne nicht fertig gemacht hatte.« Er brachte zwei Lederbeutel zum Vorschein und ließ aus dem einen ein kleines Häufchen dunkles Pulver in meine Handfläche rinnen. »Das ist die Pólvora, das Schießpulver. Siehst du, jetzt schütte ich eine bestimmte Menge davon in die Canon oder den Lauf und schiebe dann ein kleines Stück Stoff hinein. Aus dem anderen Beutel nehme ich dann ein Cartucho, eine Patrone.« Er zeigte mir ein kleines durchsichtiges Säckchen, das aussah wie ein Stück abgebundener Tierdarm und mit kleinen Metallkugeln gefüllt war.
»Für Feinde oder große Tiere benutzen wir selbstverständlich eine schwere runde Kugel. Für Vögel reicht eine Schrotpatrone.«
Er preßte mit einem langen Metallstock alles fest zusammen, was er in das Rohr getan hatte.
»Als letztes kommt ein ganz kleines bißchen Pulver auf die Zündpfanne.« Das war ein rundes Metallplättchen, das so aus dem Schloß hervorragte, daß die Funken vom Rad und das Falschgold das Pulver treffen würden. Er lachte und beendete seine Lektion mit den Worten: »Hier siehst du, daß ein enges Loch die Zündpfanne und den Lauf an der Stelle verbindet, wo sich die Pulverladung befindet. So, jetzt spanne ich die Feder, und du drückst den Gatillo.«
Ich kniete mich mit einer Mischung aus Neugier, Schüchternheit und Angst neben der geladenen Waffe nieder. Doch die Neugier überwog, denn schließlich war ich genau deshalb hierher gekommen und hatte den jungen Soldaten angesprochen. Ich schob meinen Finger durch den Bügel unter dem Schloß der Arkebuse, legte ihn um das Kätzchen und zog.
Das Rad drehte sich, die Katzenpfote schnappte nach unten, die Funken sprühten, es gab ein Geräusch wie ein wütendes Fauchen, von dem Metallplättchen mit dem Pulver stieg ein Rauchwölkchen auf … und dann bewegte sich die Arkebuse unvermittelt rückwärts. Ich zuckte zusammen, denn das Rohr dröhnte und spie eine Flamme, eine blaue Rauchwolke und, daran hatte ich keinen Zweifel, all die todbringenden Kügelchen der Patrone aus. Als ich mich von dem Schrecken erholt hatte und das Klingen in meinen Ohren nachließ, hörte ich den jungen Soldaten schallend lachen. »Cespita!« rief er. »Ich wette, du bist der erste Indio, der jemals mit einer solchen Waffe geschossen hat!« Er räusperte sich und fügte mit einem verlegenen Lachen hinzu: »Du wirst auch der einzige bleiben. Sag keinem Menschen, daß ich es dir erlaubt habe.« Als ich zustimmend nickte, schien er beruhigt und sagte: »Komm, du darfst zusehen, wie ich die Arkebusen für die nächste Salve lade.«
Während ich ihm folgte, sagte ich: »Dann ist das Schießpulver so wichtig wie die Waffe an sich. Das Schloß, das Rad, das Kätzchen und alles andere ist nur da, damit das Pulver sich so verhält, wie Ihr wollt.«
»Ja, so ist es«, sagte er. »Ohne Schießpulver gäbe es auf der ganzen Welt keine Feuerwaffen. Keine Arcabuces, Granadas, Culebrinas, Petardos. Ni siquiera triquitraques. Nada.«
»Aber was ist Pulver?« fragte ich. »Woraus wird es gemacht?«
»Das werde ich dir nicht verraten. Es war unvorsichtig genug, dich mit der Arkebuse herumspielen zu lassen. Wir haben den Befehl, keinem Indio zu erlauben, eine unserer Waffen in die Hand zu nehmen. Ich würde schon jetzt schwer bestraft. Über die Zusammensetzung des Schießpulvers darf ich mit dir auf keinen Fall sprechen.« Ich muß niedergeschlagen gewirkt haben, denn er lachte. »Aber soviel verrate ich dir: Schießpulver ist offensichtlich etwas für Männer, in vielerlei Hinsicht. Seltsamerweise ist eine der Zutaten ein sehr intimer Beitrag der Frauen.«
Er lachte immer noch, während er seiner Arbeit nachging und ich mich verdrückte. Er nahm keine Notiz von meinem Weggehen, und er hatte auch nicht bemerkt, daß das bißchen Schießpulver, das er mir auf die Hand geschüttet hatte, in den Beutel an meinem Gürtel gewandert war. Außerdem hatte ich unauffällig einen Schlüssel zum Drehen des Rades aufgehoben, den ich im Gras neben einer Arkebuse entdeckte. Mit diesen Dingen eilte ich zur Kathedrale, damit ich nichts von dem vergessen würde, was er mir gezeigt hatte. Ich erreichte Alonsos Zimmer kurz nach Beginn des Abendgebets. Deshalb traf ich den Notarius dort nicht mehr an – vermutlich war er bei der Andacht. Ich fand einen Bogen Rindenbastpapier und begann mit einem Stück Holzkohle zu zeichnen: das Kätzchen und den Bügel, die Katzenpfote, das Rad, die spiralförmig aufgerollte Feder …
»Bist du zurückgekommen, um heute abend noch zu arbeiten?« fragte Alonso, als er durch die Tür trat. Es gelang mir, nicht zusammenzuzucken oder erschrocken zu wirken. »Ich übe nur ein paar Wortbilder«, antwortete ich beiläufig und zerknitterte das Papier, behielt es aber in der Hand. »Wir übersetzten ja immer nur die Arbeiten anderer Scribenten. Ich fürchte, ich werde das Schreiben verlernen. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, wollte ich üben.«
»Das gefällt mir. Ich möchte dich nämlich etwas fragen.«
»A su servicio, Cuati Alonso«, sagte ich und hoffte, nicht unruhig zu wirken.
»Ich komme gerade von einem Gespräch mit Bischof Zumárraga, dem Archidiakon Suárez-Begega, dem Ostiarius Sánchez-Santoveña und anderen Würdenträgern. Sie sind sich alle darin einig, daß es Zeit wird, die Kathedrale schöner und prächtiger auszustatten. Wir haben bisher nur deshalb behelfsmäßige Gefäße, Leuchter und ähnliches benutzt, weil bald eine neue Kathedrale gebaut werden muß. Da sich jedoch Dinge wie Kelche, Monstranzen, Ciborien und Weih Wasserbecken, ja selbst größere Gegenstände wie ein Lettner und ein Taufbecken ohne viel Mühe in die neue Kathedrale hinübertragen lassen, wurde heute beschlossen, daß wir all diese kostbaren Dinge bereits jetzt in Auftrag geben, und zwar so, daß sie einer Kathedrale angemessen sind.«
»Ihr fragt mich doch bestimmt nicht nach meiner Zustimmung?«
Er lächelte. »Wohl kaum. Aber vielleicht kannst du dabei von Nutzen sein, denn ich weiß, daß du durch die ganze Stadt streifst. Die Gegenstände und Geräte müssen aus Gold, Silber und Edelsteinen angefertigt sein. In deinem Volk hat man früher solche Arbeiten in hoher Vollendung ausgeführt. Ich dachte, bevor wir einen Ausrufer durch die Straßen schicken und einen Goldschmiedemeister suchen, könntest du vielleicht jemanden vorschlagen.«
»Cuati Alonso!« Ich klatschte fröhlich in die Hände. »Ich kenne den richtigen Mann.«
In der Herberge sagte ich zu Pochotl: »Kennst du die spanischen Waffen, die wir Donnerstock nennen?«
»Die Arkebuse? Ja.« Er sah mich finster an. »Jedenfalls habe ich erlebt, was sie anrichten kann. Eine von ihnen hat meinen älteren Bruder durchlöchert, als hätte ihn ein unsichtbarer Speer getroffen.«
»Weißt du, wie eine Arkebuse funktioniert?«
»Wie sie funktioniert? Nein? Woher denn?«
»Du bist ein Meister in deinem Handwerk und besitzt große Geschicklichkeit. Würdest du dir zutrauen, eine Arkebuse herzustellen?«
»Ich soll etwas herstellen, was ich nicht kenne? Was ich nur von ferne gesehen habe? Ohne auch nur zu wissen, wie es funktioniert? Mein lieber Freund, bist du tlahuéle oder nur xolopitli?«
Beide Worte bedeuten in unserer Sprache ›verrückt‹. Tlahuéle nennt man einen gewalttätigen und gefährlichen Verrückten. Xolopitli ist jemand, der eher verträumt und harmlos, aber nicht ganz klar im Kopf ist.
Ich ließ mich nicht beirren. »Könntest du eine bauen, wenn ich dir Abbildungen der Teile zeige, die notwendig sind, damit sie funktioniert?«
»Wie kannst du das? Kein Indio darf sich auch nur in die Nähe der Waffen und Rüstungen des weißen Mannes wagen.«
»Sieh dir das an.«
Ich zeigte ihm das Papier mit meinen Zeichnungen und beendete auf der Stelle mit Holzkohle ein paar Teile, die unfertig geblieben waren, weil Alonso mich gestört hatte. Ich erklärte Pochotl, was die Bilder bedeuteten und wie die verschiedenen Teile zusammenwirkten, damit eine Arkebuse zu einer tödlichen Waffe wurde. Pochotl murmelte: »Hm, es wäre nicht unmöglich, die Teile zu formen und zu schmieden und sie so zusammenzubauen, wie du es beschreibst. Aber das ist eine Arbeit für einen gewöhnlichen Schmied, nicht für einen Goldschmied … bis auf diese merkwürdigen Dinge, die du ›Federn‹ nennst.«
»Richtig, bis auf die Federn. Deshalb komme ich zu dir.«
»Angenommen, es wäre mir möglich, das nötige Eisen und den Stahl zu beschaffen …« Er schüttelte den Kopf. »Kannst du mir dann aber sagen, warum ich meine Zeit mit etwas so Verrücktem und Kompliziertem verschwenden sollte?«
»Zeit verschwenden?« fragte ich sarkastisch. »Was fängst du mit deiner Zeit an, wenn du nicht gerade ißt und schläfst?«
»Ich habe dir schon oft gesagt, daß ich mit deiner lächerlichen Rebellion nichts zu tun haben will. Wenn ich für dich eine unerlaubte Waffe herstellen würde, wäre ich in deinen Tlahuéle-Wahnsinn verwickelt und ich würde mit der Kette um den Hals neben dir am Pfahl brennen]«
»Ich werde alles auf mich nehmen und allein an den Pfahl gehen«, versicherte ich ihm. »Angenommen, ich biete dir als Bezahlung für die Arkebuse eine Belohnung, der du nicht widerstehen kannst?« Er erwiderte nichts, sondern starrte mich nur finster an. »Die Christen suchen einen Goldschmiedemeister, der für ihre Kathedrale zahlreiche Gegenstände aus Gold, Silber und Edelsteinen anfertigt.« Pochotls Augen blickten nicht mehr finster, sondern begannen plötzlich zu leuchten. »Platten, Becher und andere Gefäße, auch Gegenstände, die ich dir nicht beschreiben kann, die aber alle reich verziert sein müssen. Verstehst du, wertvolle und schöne Dinge. Der Mann, der sie anfertigt, wird der Nachwelt ein Erbe hinterlassen.« Ich lachte bitter und fügte hinzu: »Einer fremden Nachwelt natürlich …«
»Kunst ist Kunst!« rief Pochotl. »Selbst im Dienste eines fremden Volkes und einer fremden Religion bleibt ein Kunstwerk ein Kunstwerk.«
»Zweifellos«, sagte ich zufrieden. »Wie du selbst bemerkt hast, bin ich in gewisser Weise ein Liebling des christlichen Klerus. Sollte ich für einen bestimmten unvergleichlichen Goldschmied ein gutes Wort einlegen …«
»Würdest du das tun? Yyo, ayyo, Cuati Tenamáxtli, würdest du das tun?«
»Ich glaube, wenn ich es täte, könnte der Künstler sicher sein, den Auftrag zu bekommen. Als Gegenleistung würde ich nur verlangen, daß er seine freie Zeit für die Herstellung meiner Arkebuse verschwendet.« Pochotl griff nach dem Papier mit meinen Zeichnungen. »Ich muß es mir genau ansehen …« Er begann zu murmeln: »Ich müßte zuerst einen Weg finden, an das Metall heranzukommen …« Schließlich sagte er stirnrunzelnd: »Bei deiner Erklärung der Wirkungsweise dieser Arkebuse, Tenamáxtli, hast du darauf hingewiesen, daß das geheimnisvolle Schießpulver, die sogenannte Pólvora, ein unverzichtbarer Bestandteil ist. Was nützt es, wenn ich die Waffe baue, solange du kein Pulver besitzt?«
»Ich habe ein klein wenig«, erwiderte ich. »Und ich glaube, ich werde seine Zusammensetzung entschlüsseln. Wenn du mit der Waffe fertig bist, Pochotl, hoffe ich, Pulver im Überfluß zu haben. Der junge Soldat hat mir unüberlegt einen Hinweis gegeben, der sich als hilfreich erweisen könnte.«
»Der Hinweis war«, sagte ich später zu Netzlin und Citláli, »daß Frauen eine Zutat zu dieser Pulvermischung beisteuern. Er hat von einer sehr intimen Zutat gesprochen.«
Citláli bekam große Augen. Wir kauerten alle drei auf dem Lehmboden ihres kleinen Hauses und betrachteten die Prise Pulver, die ich behutsam auf ein Stück Rindenbastpapier geschüttet hatte.
»Wie ihr seht«, fuhr ich fort, »scheint es so, als sei das Pulver grau. Doch durch behutsames Verteilen mit der Spitze einer kleinen Feder ist es mir gelungen, die winzigen Körnchen voneinander zu trennen. Soweit ich erkennen kann, besteht das Gemisch nur aus drei verschiedenen Zutaten. Die eine ist schwarz, die andere gelb und die dritte weiß.«
Netzlin brummte skeptisch: »Soviel gewissenhafte und heikle Arbeit …. aber wie soll dir das weiterhelfen? Bei den Körnchen könnte es sich um die Pollen beliebiger Blüten handeln.«
»Aber es sind keine Pollen«, sagte ich. »Bei zwei Bestandteilen habe ich bereits herausgefunden, worum es sich handelt. Dazu habe ich nur ein paar Körnchen auf die Zunge gelegt und probiert, wie sie schmecken. Die schwarzen sind nichts anderes als gewöhnliche Holzkohle. Die gelben sind der Staub der verkrusteten Absonderungen, die man um die Krater aller Vulkane findet. Die Spanier benutzen das Zeug noch für andere Dinge. Sie machen damit Früchte haltbar, sie stellen Farben her und brennen ihre Weinfässer damit aus. Sie nennen es ›Schwefel‹.«
»Diese beiden Dinge könntest du also leicht beschaffen«, sagte Netzlin. »Aber was sind die weißen Körnchen?«
»Ich kann nur sagen, daß sie ähnlich wie Salz schmecken, nur schärfer und bitterer. Deshalb habe ich das Pulver mitgebracht.« Ich wandte mich an Citláli. »Der Soldat hat von Frauen gesprochen.«
Sie lächelte gutmütig, zuckte aber hilflos die Schultern. »Ich sehe die weißen Körnchen, aber ich habe keine Ahnung, was es sein könnte. Warum sollten die Augen einer Frau mehr sehen als deine, Tenamáxtli?«
»Vielleicht geht es nicht um die Augen«, sagte ich. »Man weiß, daß die Sinne und die Intuition einer Frau sehr viel feiner sind als die eines Mannes.« Sie lachte über mein Kompliment. »Paß auf, ich werde ein paar Körnchen herausfischen.« Ich hatte die kleine Feder mitgebracht und trennte damit eine winzige Menge der weißen Körnchen von den anderen. »Versuch es, Citláli.«
»Muß das sein?« fragte sie und warf einen schiefen Blick auf die Körnchen. Dann beugte sie sich seufzend vor, denn ihr gewölbter Leib war ihr dabei im Weg, senkte den Kopf bis dicht über das Papier und schnupperte. »Muß ich sie wirklich probieren?« fragte sie noch einmal und verlagerte das Gewicht wieder auf die Fersen. »Sie riechen genau wie Xitli.«
»Xitli?« riefen Netzlin und ich gleichzeitig. Wir sahen sie verständnislos an, denn das Wort bedeutet ›Urin‹.
Citláli errötete verlegen und sagte: »Jedenfalls wie mein Xitli. Verstehst du, Tenamáxtli, wir haben in der Straße nur eine einzige öffentliche Toilette. Nur wenige Frauen benutzen sie zum Urinieren. Die meisten von uns haben Axixcaltin-Töpfe. Wenn sie voll sind, tragen wir sie hinaus und schütten sie in die Grube der Toilette.«
»Aber ich bin sicher, niemand, auch keine spanische Frau, uriniert Pulver«, sagte ich. »Es sei denn, Citláli, du bist ein sehr ungewöhnliches Wesen.«
»Das bin ich nicht, du Einfaltspinsel!« erwiderte sie mit gespieltem Ärger und errötete wieder. »Mir ist allerdings aufgefallen, daß sich am Boden des Axixcáli weißliche Kristalle bilden, wenn das Xitli eine Zeitlang im Topf steht.«
Ich kniff die Augen zusammen und dachte nach. »So wie sich manchmal Moos auf dem Boden eines Wasserkrugs bildet oder wie sich Kalk absetzt«, erklärte sie, als halte sie mich für beschränkt. Ich starrte sie an, und sie errötete noch mehr. »Wenn man die Kristalle, von denen ich rede, auf einem Métlatl-Stein ganz fein zerstoßen würde«, fuhr sie stockend fort, »bekäme man ein Pulver mit so weißen Körnchen wie diesen hier.«
Ich flüsterte beinahe: »Du hast es vielleicht getroffen, Citláli.«
»Wie?« rief ihr Mann. »Du glaubst, deshalb hat der Soldat Frauen mit dem geheimen Pulver in Verbindung gebracht?«
»In eine intime Verbindung«, erinnerte ich ihn. »Aber unterscheidet sich das Xitli einer Frau von dem eines Mannes?«
»Du weißt so gut wie ich, daß es sich zumindest in einer Hinsicht unterscheidet. Du mußt es doch schon gesehen haben. Wenn ein Mann sein Wasser im Gras abläßt, hat das so gut wie keine Wirkung. Aber dort, wo eine Frau uriniert, wird das Gras braun und stirbt ab.«
»Du hast recht«, sagten er und seine Frau gleichzeitig, und Netzlin fügte hinzu: »Das ist etwas so Alltägliches, daß kein Mensch darüber nachdenkt.«
»Auch Holzkohle ist etwas Alltägliches«, sagte ich, »genau wie der gelbe Schwefel der Vulkane. Es leuchtet ein, daß etwas so Gewöhnliches wie das Xitli einer Frau den dritten Bestandteil des Pulvers bilden könnte. Citláli, verzeih meine Dreistigkeit und Unhöflichkeit, aber kann ich mir deinen Axixcáli-Topf eine Weile ausleihen und mit dem Inhalt Versuche anstellen?« Sie wurde flammend rot, aber dann lachte sie unbekümmert. »Mach damit, was du willst! Nur bring den Topf bitte wieder zurück. Jetzt, wo das Kind jederzeit kommen kann, brauche ich ihn immer häufiger.« Ich mußte den Tontopf mit beiden Händen zurück zur Herberge tragen. Er war zugedeckt, aber die Flüssigkeit schwappte hörbar. Unterwegs sahen mich die Leute merkwürdig an, denn jeder weiß, wie ein Axixcáli aussieht.
Ich hatte wie Pochotl die ganze Zeit über in der Mesón gelebt oder zumindest dort geschlafen und gegessen, während viele andere Gäste gekommen und wieder gegangen waren. Weil ich mich meiner Abhängigkeit von den Mönchen schämte, hatte ich Pochotl oft beim Saubermachen geholfen oder mich bereit erklärt, das Feuer zu schüren, die Suppe umzurühren und auszuteilen. Ich hätte auf den Gedanken kommen können, die Mönche wären so gütig zu mir, weil ich das Kollegium nebenan besuchte. Doch sie ließen auch Pochotl in der Herberge wohnen. Ich erhielt demnach keine Vorzugsbehandlung. Meiner Meinung nach übertrieben sie ihre barmherzige Wohltätigkeit. Obwohl ich zu den Hauptnutznießern gehörte, wagte ich an jenem Tag, als ich von Netzlin und Citláli zurückkam, einen der Mönche, der die Suppe austeilte, danach zu fragen.
Zu meiner Überraschung lachte er verächtlich. »Du glaubst, wir tun das aus Liebe zu euch faulen Herumtreibern?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Wir tun es im Namen Gottes zum Wohl unserer Seelen. Mein Orden befiehlt, daß wir uns erniedrigen und unter den Geringsten der Geringen und inmitten der Verderbtesten der Verderbten wirken. Ich bin nur deshalb hier in der Mesón, weil sich schon so viele Brüder für das Lepraheim gemeldet hatten, daß kein Platz mehr für mich war. Ich muß mich damit abfinden, euch Faulpelze zu bedienen. Dadurch sammle ich mir Verdienste im Himmel. Aber soviel kann ich dir verraten, ich muß mich nicht mit euch abgeben. Also geh zurück zu den anderen faulen Indios.« Eine seltsame Art Wohltätigkeit, dachte ich. Ich fragte mich, ob die Nonnen von Santa Brígida die Waisen in ihrer Obhut ebenfalls verachteten. Wenn sie die elternlosen Kinder aufnahmen, handelten sie vorgeblich im Namen ihres Gottes, in Wirklichkeit taten sie jedoch möglicherweise alles in Erwartung einer Belohnung im Leben nach dem Tod. Ich überlegte, ob auch Alonso de Molina aus ähnlichen Gründen freundlich und hilfsbereit zu mir gewesen war. Solche Gedanken bestärkten mich in meinem Entschluß, mich auf keinen Fall zu einer so menschenverachtenden Religion zu bekehren. Es war schlimm genug, daß mein Tonáli meine Geburt in der EINEN WELT gerade in die Zeit verlegt hatte, in der ich mein Leben mit diesen Christen teilen mußte. Ich hatte nicht die geringste Absicht, mein Leben nach dem Tod unter ihnen zu verbringen.
Ich fühlte mich nicht mehr schuldig. Ich schämte mich vielmehr, die widerwillig gewährte Wohltätigkeit der Mönche in Anspruch genommen zu haben, und beschloß, aus ihrer Herberge auszuziehen. Die Ältesten der Kathedrale zahlten mir für die Arbeit mit dem Notarius Alonso nur einen Hungerlohn, abgesehen von dem, was ich bekommen hatte, um meine drei spanischen Kleidungsstücke zu kaufen. Trotzdem hatte ich von dem Geld nur hin und wieder etwas für ein Mittagessen ausgegeben. Deshalb reichten meine Ersparnisse aus, um in einem der Gasthäuser in den Vierteln der Einheimischen unterzukommen. Ich legte mich mit dem Entschluß auf mein Lager, daß dies die letzte Nacht sein sollte, die ich hier verbringen würde. Am Morgen wollte ich meine wenigen Sachen zusammenpacken, zu denen jetzt auch Citlális Axixcáli gehörte, und verschwinden. Doch kaum hatte ich diese Entscheidung getroffen, stellte sich heraus, daß sie bereits für mich getroffen worden war. Wieder einmal hatten die mutwilligen Götter, die mir schon so lange auf den Fersen waren und sich immer wieder in mein Leben einmischten, auf ihre Weise eingegriffen.
Mitten in der Nacht weckte mich der alte Wächter, in dessen Obhut die Mönche das Gebäude gaben, wenn sie abends gingen. Er rief so laut, daß alle anderen Männer im Schlafraum ebenfalls aufwachten.
»Señor Tennamotch!? Hay aquí un señor bajo el nombre de Tennamotch?«
Ich wußte, er meinte mich. Mein Name war wie so viele Náhuatl-Worte für die Spanier ein wahrer Zungenbrecher, besonders deshalb, weil sie den weichen ›sh‹-Laut nicht aussprechen konnten, der durch den Buchstaben ›X‹ dargestellt wird, mit dem sie meinen Namen schrieben.
Ich erhob mich deshalb schlaftrunken von meinem Lager, warf mir den Mantel über und ging die Treppe hinunter, an deren Fuß der alte Mann stand. »Señor Tennamotch?« fuhr er mich an, denn er war selbst wütend über die Störung. »Hay aquí una mujer insistente e importuna. La vejezuela demanda a hablar contigo.«
Eine Frau, die hartnäckig darauf bestand, mich zu sprechen? Das einzige weibliche Wesen, von dem ich mir vorstellen konnte, daß es mich möglicherweise um Mitternacht aufsuchen würde, war Rebeca, das Mulattenmädchen. Aber das war höchst unwahrscheinlich. Außerdem hatte der Wächter sie als ›eine Alte‹ bezeichnet. Verwirrt folgte ich ihm zum Tor. Dort stand in der Tat eine alte Frau, die ich noch nie gesehen hatte. Tränen rannen ihr über das faltige Gesicht, als sie auf náhuatl sagte: »Ich bin die Hebamme von Citláli, der jungen Frau, die mit dir befreundet ist. Das Kind ist geboren, aber der Vater ist tot.«
Ich erschrak, allerdings nicht zu sehr, um nicht geistesgegenwärtig zu sagen: »Du meinst sicher die Mutter.« Sogar ich wußte, daß auch die gesündeste Frau bei einer Geburt sterben konnte. Aber es versetzte mir einen Stich ins Herz, daß es die liebe Citláli getroffen hatte. »Nein, nein! Der Vater … Netzlin!«
»Was? Wie ist das möglich?« Dann fiel mir ein, wie besessen er von der Vorstellung gewesen war, einen Sohn zu bekommen. »Ist er vor Aufregung und Freude gestorben? Oder an einem Schlag von der Hand eines Gottes?«
»Nein, nein. Er hat im Vorderzimmer gewartet und ist auf und ab gegangen. Sobald das Kind im anderen Zimmer den ersten Schrei von sich gab, ist Netzlin hinaus auf die Straße gestürmt und hat gerufen: ›Ich habe einen Sohn!‹ Dabei hatte er das Kind überhaupt noch nicht gesehen.«
»Und? Hat er beim Zurückkommen festgestellt, daß es ein Mädchen ist? Hat ihn das umgebracht?«
»Nein, nein. Er hat alle Männer im Barrio zusammengerufen und große Mengen Octli für sie gekauft. Sie haben sich betrunken, aber er war sehr viel betrunkener als die anderen.«
»Und das hat ihn umgebracht?« fragte ich ungeduldig. »Alte Mutter, aus dir wird nie eine Geschichtenerzählerin. Du bleibst am besten Hebamme.«
»Na ja … nein, ich glaube, nach der Nacht werde ich selbst diesen bescheidenen Beruf aufgeben und …«
»Willst du endlich weiterreden?« rief ich und sprang vor Ungeduld beinahe in die Luft.
»Gut, man könnte sagen, das Trinken hat den armen Netzlin umgebracht. Die Soldaten der Nachtwache haben ihn aufgegriffen. Sie haben ihn zu Tode geprügelt und erstochen.«
Ich war zu bestürzt, um etwas zu sagen. Die alte Frau fuhr fort: »Die Nachbarn sind gekommen und haben es uns gesagt. Citláli war ohnehin schon völlig außer sich. Die Nachricht von Netzlins Tod zu allem anderen hat sie dann beinahe um den Verstand gebracht. Aber sie war noch in der Lage, mir zu sagen, wo ich dich finden würde, und …«
»Was meinst du mit zu all dem anderen? Hat sie bei der Geburt Verletzungen erlitten? Hat sie Schmerzen? Ist sie in Gefahr?«
»Komm mit, Tenamáxtli. Sie braucht Trost. Sie braucht dich.«
Anstatt weiter ungeduldig Fragen zu stellen und unverständliche Antworten zu bekommen, die mich beinahe um den Verstand brachten, sagte ich: »Gut, beeilen wir uns.«
Als wir uns dem unbeleuchteten Haus näherten, hörten wir kein Schreien, kein Seufzen und kein Klagen. Ich ließ die alte Frau vorausgehen und wartete im Vorderzimmer, während sie auf Zehenspitzen in dem anderen Raum verschwand. Sie kam mit dem Finger auf den Lippen zurück und flüsterte: »Sie schläft endlich.«
»Sie ist nicht tot?« fragte ich mit angehaltenem Atem. »Nein, nein. Sie schläft, und das ist gut so. Aber komm mit und sieh dir das Kind an. Sei leise, es schläft auch.« Mit einer Zange nahm sie ein Stück Glut aus dem Herd, entzündete damit die Kokosöl-Lampe und führte mich in das Nebenzimmer, wo Citláli schlief. Das Kind lag in einer mit Stroh gefüllten Kiste neben ihrem Bett. Die alte Frau hielt die Lampe hoch, damit ich es betrachten konnte. Es war ordentlich gewickelt und sah für mich wie jedes andere Neugeborene aus – rosig und runzlig wie die Hebamme, aber offenbar heil mit allem, was dazugehörte, mit Ohren, Fingern, Zehen und so weiter. Die Haare fehlten, aber das war nichts Ungewöhnliches. »Warum möchtest du, daß ich es mir ansehe, alte Mutter?« flüsterte ich. »Ich habe schon früher kleine Kinder gesehen, und das hier scheint sich nicht von anderen zu unterscheiden.«
»Ayya, mein lieber Tenamáxtli, es hat keine Augen.«
»Das Kind ist blind? Wie kannst du das feststellen?«
»Nein, nicht nur blind, es hat keine Augen. Sieh genauer hin.«
Da sie gesagt hatte, das Kind schlafe, hatte ich angenommen, seine Augen seien geschlossen. Doch jetzt stellte ich fest, daß die Linie der Wimpern fehlte. Wo Augenlider hätten sein sollen, waren die Höhlen von den zierlichen kleinen Brauen bis zu den Wangenknochen mit derselben zarten Haut überzogen wie das ganze Gesicht. An der Stelle, wo man Augäpfel erwartete, befanden sich nur leichte Vertiefungen.
»Bei der Finsternis von Mictlan«, murmelte ich entsetzt. »Du hast recht, alte Mutter. Es ist eine Mißgeburt.«
»Deshalb war Citláli schon völlig außer sich, bevor sie noch von Netzlins Tod gehört hatte. Wenigstens ist ihm das erspart geblieben.« Nach kurzem Zögern fragte sie: »Soll ich es in den Kanal werfen?«
Das wäre für Citláli und ihr Kind das Gnädigste gewesen. Nach alter, in der gesamten EINEN WELT herrschender Sitte, hätte man es in der Tat tun müssen. Kinder, die mit körperlichen oder geistigen Gebrechen zur Welt kamen, wurden beseitigt, sobald man die Mißbildung entdeckte. Das war natürlich, und es wurde allgemein für richtig gehalten, daß solche Wesen nicht aufwuchsen und sich selbst oder der Gemeinde zur Last fielen oder, noch schlimmer, vielleicht ähnlich verunstaltete Kinder bekamen. Niemand beweinte oder bedauerte die schnelle Beseitigung dieser Unglückseligen, und niemand hatte etwas dagegen einzuwenden. Es war eine offensichtliche Notwendigkeit, um die guten körperlichen und geistigen Eigenschaften zu erhalten. Ein Volk, die Wolkenmenschen von Uaxyácac, die für ihre Schönheit berühmt waren, tötete sogar häßliche kleine Kinder. Aber ich wußte, daß wir nicht mehr in der EINEN WELT lebten und nach unseren alten weisen Traditionen handeln konnten. Mir war bekannt, daß die Christen die von ihnen verachteten Nachkömmlinge der verschiedensten Hautfarben am Leben ließen – selbst jene elenden Geschöpfe mit weiß und braun gefleckter Haut, die sie Pintojos nannten, von denen sich jedermann gleich welcher Hautfarbe voll Abscheu abwandte. Vielleicht forderte ein christliches Gesetz, daß jedes Neugeborene, auch ein unehelich gezeugtes und aus irgendeinem Grund unerwünschtes Kind, um jeden Preis großgezogen werden mußte, ganz gleich, welches Elend für die Eltern, für das bedauernswerte Lebewesen selbst und den Rest der Gesellschaft dadurch entstand. Ich war nicht sicher und würde Alonso fragen müssen, ob die Christen tatsächlich einen so unmenschlichen Standpunkt vertraten. Das Geschick dieses armen Wesens mußte nicht sofort entschieden werden. Deshalb sagte ich zu der Hebamme: »Es steht mir nicht zu, das zu bestimmen. Netzlin hätte dir sicher gesagt, du sollst es beseitigen. Aber er ist tot, und es hat nur noch seine Mutter Citláli. Wir werden warten, bis sie aufwacht.«