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Ich schlief nicht richtig. Dafür gab es mehrere Gründe – ich war unaussprechlich müde, vom Hunger geschwächt, von der Sonne verbrannt, meine Kehle war ausgedörrt, und ich war derart niedergeschlagen, daß mir alles gleichgültig war. Das versetzte mich in einen Zustand der Betäubung, die nur hin und wieder durch Wahnzustände unterbrochen wurde. Im Delirium hob ich einmal den Kopf und glaubte, in der Ferne, dort, wo Himmel und Meer zusammentrafen, verschwommen Land zu sehen. Doch ich wußte, das konnte nicht sein, denn was ich zu sehen glaubte, lag am südlichen Horizont, und in den südlichen Weiten des Westmeeres gibt es kein Land. Es mußte ein aus der Verwirrung geborenes Trugbild sein, und deshalb war ich dankbar, als ich wieder in die gnädige Betäubung zurücksank. Das nächste Unwahrscheinliche war, daß ich spürte, wie Wasser auf mein Gesicht tropfte. Mein apathisches Bewußtsein reagierte nicht erschrocken, sondern fand sich damit ab, daß eine Welle über das Acáli hinweggegangen war und daß ich bald ganz untergehen, ertrinken und tot sein würde. Doch mir tropfte immer noch Wasser auf das Gesicht. Es rann in meine Nasenlöcher, so daß ich unwillkürlich die trockenen, aufgesprungenen und verklebten Lippen öffnete. Meine betäubten Sinne brauchten einen Augenblick, um wahrzunehmen, daß das Wasser frisch und nicht salzig schmeckte. Bei dieser Erkenntnis begann mein Bewußtsein sich durch die Schichten der Betäubung hindurchzukämpfen. Mit einiger Mühe schlug ich die verklebten Augenlider auf. Mit meinen halbblinden und entzündeten Augen nahm ich zwei menschliche Hände wahr, die einen Schwamm auspreßten. Hinter den Händen befand sich das wunderschöne Gesicht einer jungen Frau. In meiner Benommenheit vermutete ich, daß ich in Tonatiucan oder Tlálocan oder in ein anderes Paradies der Götter gelangt war und daß diese Frau als dienstbarer Geist im Auftrag eines Gottes handelte, der mich aus dem Todesschlaf wecken ließ, um mich in seinem himmlischen Reich willkommen zu heißen. Ich war beglückt darüber, gestorben zu sein.

Tot oder nicht, mein Sehvermögen kehrte allmählich ebenso zurück wie die Fähigkeit, den Kopf etwas zu bewegen, damit ich den ›dienstbaren Geist‹ besser sah. Die Frau kniete neben mir. Sie trug nichts als ihr langes schwarzes Haar und ein Máxtlatl, das Schamtuch eines Mannes. Sie war nicht allein. Andere gute Geister hatten sich eingefunden, um mich zusammen mit ihr zu begrüßen. Ich bemerkte hinter ihr noch weitere Frauen verschiedener Größe und offensichtlich unterschiedlichen Alters. Sie trugen alle die gleiche Kleidung oder vielmehr keine.

Benommen fragte ich mich: Werden sie mich tatsächlich willkommen heißen?

Die schöne junge Frau belebte und erfrischte mich zwar sanft mit Wasser, doch sie bedachte mich mit nicht gerade freundlichen Blicken und redete in einem Ton mit mir, der leichte Verärgerung verriet. Eigenartigerweise sprach sie nicht meine Muttersprache Náhuatl, wie ich es im Paradies eines Aztéca-Gottes erwartet hätte. Sie sprach das Pore der Purémpe, allerdings einen Dialekt, den ich noch nie gehört hatte.

Mein schwerfälliger Verstand brauchte eine Weile, bis er begriff, was die Frau immer von neuem wiederholte: »Du bist zu früh gekommen. Du mußt zurückfahren.« Ich lachte oder vielmehr wollte ich lachen. Vermutlich klang meine Stimme so schrill wie der Schrei einer Möwe und dann rauh und krächzend, als ich mich an genug Pore erinnert hatte, um zu sagen: »Du siehst doch sicher … Ich bin nicht freiwillig hier. Aber wohin … hat mich mein Glück … geführt?«

»Das weißt du nicht?« fragte sie erstaunt, und es klang etwas weniger streng.

Ich schüttelte nur schwach den Kopf, doch das hätte ich nicht tun sollen, denn dadurch fiel ich erneut in Bewußtlosigkeit. Während ich in einem schmerzenden Wirbel im Dunkel des Nichts versank, hörte ich noch, wie sie sagte: »Iyá omekuácheni uarichéhuari.« Das heißt: ›Hier sind die Inseln der Frauen.‹

Als ich zu Beginn beschrieb, wie Aztlan in meinen Kindertagen gewesen war, erwähnte ich, daß unsere Fischer dem Westmeer alle möglichen eßbaren, nützlichen und wertvollen Dinge entnahmen, mit Ausnahme jener wunderschönen Perlen, die in den Sprachen der EINEN WELT ›die Herzen der Austern‹ heißen. Nach alter Tradition und gemäß einer Übereinkunft, die im gesamten Herrschaftsbereich der Azteca Gültigkeit hatte, werden diese Austernherzen, die Perlen des Westmeeres, ausschließlich von den Fischern aus Yakóreke gesammelt, einer Stadt am Meer, die zwölf Lange Läufe von Aztlan entfernt liegt.

Hin und wieder hatte ein Aztécatl-Fischer, der andernorts Schalentiere suchte, um sie als Nahrungsmittel zu verkaufen, das Glück, in einer seiner Austern diesen schönen kostbaren kleinen Stein zu finden. Niemand verlangte von ihm, den Fund ins Meer zurückzuwerfen, oder verbot ihm, das Herz der Auster zu behalten oder zu verkaufen, denn eine vollkommene Perle ist so kostbar wie eine massive Goldkugel gleicher Größe. Doch die Männer aus Yakoreke wußten, wo man die Austernherzen in großen Mengen fand, und sie hüteten ihr Wissen als Geheimnis. Fischervater gab es an Fischersohn weiter, und keiner verriet es jemals einem Außenstehenden.

Trotzdem waren im Laufe der Zeit einige Dinge über das Geheimnis des Perlensammelns nach außen gedrungen. Allgemein bekannt war, daß die Fischer von Yakoreke einmal im Jahr in ihren Acáltin hinaus auf das Meer fuhren. Jedes Kanu war schwer beladen mit einer Fracht, die durch schützende Matten und Decken den Blicken Neugieriger entzogen war. Eine naheliegende Vermutung wäre gewesen, daß die Männer eine Art Austernköder geladen hatten. Was immer es war, sie fuhren damit weit genug hinaus, bis sie den Blicken vom Land entschwunden waren. Das war an sich bereits eine so kühne Tat, daß in all den Jahren kein neidischer Fischer eines anderen Stammes es gewagt hatte, ihnen zu den geheimen Austerngründen zu folgen.

Noch etwas war bekannt: Die Fahrt der Männer von Yakoreke, wohin immer sie auch fuhren, dauerte nur neun Tage. Am neunten Tag entdeckten die wartenden Familien und die Händler, die sich inzwischen aus allen Gegenden der EINEN WELT eingefunden hatten, unfehlbar die Flotte der Acáltin am Horizont, die sich der Küste wieder näherte. Die Kanus waren nicht mehr mit ihrer verdeckten Fracht, ja nicht einmal mit Austern beladen. Jeder Fischer brachte nur einen Lederbeutel voll Austernherzen zurück. Die Händler, die sie am Ufer erwarteten, um die Perlen zu kaufen, waren nicht so unklug zu fragen, woher oder wie die Männer sie bekommen hatten. Auch die Frauen der Fischer hatten gelernt, ihre Neugier zu zähmen.

Soviel wußte man, und mehr verrieten die Fischer nie. Außenstehende konnten das übrige nur vermuten. Es ist nicht weiter verwunderlich, daß sie allerlei Geschichten erfanden, die den Umständen entsprachen. Die glaubwürdigste Vermutung war, daß es im Westen von Yakóreke Land gab, vielleicht von Untiefen umgebene Inseln, denn es wäre unmöglich gewesen, daß ein Fischer Austern aus den Tiefen des Meeres geholt hätte. Doch warum fuhren die Männer nur einmal im Jahr dorthin? Vielleicht hielten sie Sklaven auf diesen Inseln, die das ganze Jahr über Austernherzen sammelten und horteten, bis ihre Herren zur festgesetzten Zeit kamen und Waren mitbrachten, die sie gegen die Perlen eintauschten.

Daß die Fischer das Geheimnis nur ihren Söhnen und nicht ihren Töchtern verrieten, gab den Geschichten eine andere, ich möchte sagen, eine besondere Note. Man erzählte, daß es sich bei den angeblichen Sklaven auf den vermuteten Inseln um Frauen handelte. Daher durften die Frauen von Yakóreke es niemals erfahren, damit sie nicht aus Eifersucht die Fahrt ihrer Männer zu den Austernherzen verhinderten.

So bildete sich allmählich die Legende von den Inseln der Frauen. Mein ganzes junges Leben lang hatte ich diese Legende in unterschiedlichsten Fassungen gehört.

Doch wie jeder andere vernünftige Mensch hatte ich sie als Lügengeschichte oder als Märchen abgetan. Unter anderem war es dumm zu glauben, eine in Abgeschiedenheit lebende Frauenbevölkerung hätte sich über so viele Generationen hinweg halten können. Doch jetzt hatte ich rein zufällig herausgefunden, daß es diese Inseln tatsächlich gab und gibt. Würde es sie nicht geben, wäre ich nicht mehr am Leben.

Es sind vier in einer Reihe liegende Inseln. Doch nur auf den beiden mittleren, den größten, gibt es ausreichend Süßwasser, um eine Besiedlung zu erlauben. Diese Inseln sind ausschließlich von Frauen bevölkert. Ich zählte damals einhundertzwölf Bewohnerinnen, bei denen es sich um Säuglinge, kleine Kinder, junge Mädchen, reife und alte Frauen handelte. Die älteste Frau wurde Kuku oder Großmutter genannt. Alle gehorchten ihr, als sei sie die Verehrte Sprecherin der Gemeinschaft. Ich betrachtete mir alle Kinder genau – sie trugen nicht einmal ein Schamtuch –, und selbst die jüngsten, die Säuglinge, waren weiblichen Geschlechts.

Nachdem ich die Frauen davon überzeugt hatte, daß ich unfreiwillig zu ihren Inseln gekommen war, ohne etwas von ihrem Vorhandensein geahnt, sogar ohne daran geglaubt zu haben, erlaubte mir die Kukú, eine Weile zu bleiben, bis ich wieder zu Kräften gekommen wäre und mir ein Paddel geschnitzt hätte, denn beides würde ich auf meinem Rückweg zum Festland brauchen. Die junge Frau, die mir mit einem Schwamm voll Wasser Erste Hilfe geleistet hatte, erhielt den Auftrag, für meine Ernährung zu sorgen und darauf zu achten, daß ich mich den Sitten entsprechend benahm. Sie ließ mich in den ersten Tagen kaum aus den Augen.

Die junge Frau hieß Ixinatsi; das ist das Pore-Wort für ein winziges zirpendes Insekt, die Grille. Der Name paßte zu ihr, denn sie war so lebhaft, so munter und gutmütig wie eine kleine Grille. Auf den ersten Blick wirkte Ixinatsi wie eine der üblichen Purémpe-Frauen, wenn auch von ungewöhnlich strahlendem Aussehen und munterem Wesen. Jeder, der sie sah, konnte ihre blitzenden Augen, das glänzende Haar, das bezaubernde Gesicht, die schönen, festen Rundungen der Brüste, die wohlgeformten Beine und Arme und die zierlichen Hände bewundern. Doch nur ich und die Götter, die sie geschaffen hatten, wußten, daß sich Grille in Wahrheit sehr von allen anderen Frauen unterschied. Aber ich eile meiner Geschichte voraus.

Wie die alte Kukú befohlen hatte, bereitete Grille für mich alle möglichen Arten Fisch zu und garnierte die Gerichte mit einer gelben Blume, die Tiripetsi genannt wurde. Diese Blume, so sagte sie, besitze Heilkräfte. Zwischen den Mahlzeiten drängte sie mir rohe Austern, Muscheln und Kammuscheln auf – ganz ähnlich, wie einige unserer Völker vom Festland ihre Techichi-Hunde mästen, bevor sie geschlachtet und gegessen werden. Als mir dieser Vergleich aufging, beschlich mich ein gewisses Unbehagen. Ich fragte mich, ob die Frauen ohne Männer seien, weil sie die Männer aßen. Ich erkundigte mich schließlich bei Ixinatsi, und sie lachte schallend. »Wir haben keine Männer, weder um sie zu essen, noch für etwas anderes«, sagte sie in dem Pore-Dialekt, den ich schnell zu lernen versuchte. »Ich gebe dir soviel zu essen, Tenamáxtli, um dich gesund zu machen. Je schneller du zu Kräften kommst, desto früher kannst du abfahren.« Doch bevor ich ging, wollte ich mehr über die sagenumwobenen Inseln erfahren, außer der offensichtlichen Tatsache, daß es sich dabei nicht um eine Sage handelte, die jeder Grundlage entbehrte. Ich konnte meine eigenen Vermutungen darüber anstellen, daß die Vorfahren der Frauen Purémpe gewesen waren, die vor langer, langer Zeit das heimatliche Michihuacan verlassen haben mußten. Die abweichende Sprache der Frauen war ebenso ein Beweis dafür wie die Tatsache, daß sie den sehr alten Brauch der Purémpe nicht kannten, sich den Kopf kahl zu rasieren.

Wenn Grille mich nicht gerade mit Essen verwöhnte, hatte sie keine Bedenken, meine unzähligen Fragen zu beantworten. Meine erste Frage galt den Häusern der Frauen, die keine Häuser waren.

Die Inseln sind von Kokospalmen gesäumt und außerdem an den Hängen mit dichten Hartholzwäldern bewachsen. Doch die Frauen leben den ganzen Tag im Freien und suchen nachts zum Schlafen Schutz unter umgestürzten Bäumen. Sie graben kleine Höhlen oder verschließen, wenn ein Stamm schief liegt, die Seiten mit Palmwedeln oder Rindenstücken. Man überließ mir einen solchen behelfsmäßigen Unterschlupf neben dem, den Ixinatsi mit ihrer vierjährigen Tochter teilte. Das Mädchen hieß Tiripetsi, so wie die gelbe Blume.

Ich fragte: »Es gibt hier so viele Bäume. Wieso zerschneidet ihr sie nicht zu Brettern und baut anständige Häuser daraus? Ihr könntet auch junge Bäume dafür verwenden, die man nicht erst zerschneiden muß.« Sie antwortete: »Das wäre sinnlos, Tenamáxtli. In der Regenzeit gibt es oft schreckliche Stürme, die alles Bewegliche von den Inseln fegen. Jedes Jahr werden sogar viele der starken Bäume umgeworfen. Deshalb befinden sich unsere Schlafstätten unter gefallenen Bäumen, damit wir nicht davongeweht werden. Wir bauen nichts, was sich nicht leicht ersetzen läßt. Aus diesem Grund versuchen wir auch nicht, Gärten oder Felder anzulegen. Das Meer schenkt uns Nahrung im Überfluß, wir haben Bäche mit gutem Trinkwasser und Kokosnüsse, um Süßigkeiten daraus zu bereiten. Die Kinúcha sind das einzige, was wir ernten. Wir tauschen sie gegen alle anderen Dinge ein, die wir benötigen.« Sie lächelte und fügte munter hinzu: »Wir brauchen wenig.« Wie um das Gesagte zu veranschaulichen, fuhr sie mit der Hand an ihrem Körper entlang.

Das Wort Kinúcha bedeutet natürlich Perlen. Wie sich herausstellte, gab es gute Gründe dafür, daß die Frauen der Inseln wenig von der Welt hinter dem Meer brauchten. Bis auf die kleinen Mädchen verbrachten sie alle den Tag mit harter Arbeit, die sie so sehr ermüdete, daß sie in den Nächten tief und fest schliefen. Abgesehen von den kurzen Pausen, die sie sich zum Essen und für notwendige Verrichtungen gönnten, arbeiteten oder schliefen sie. Etwas anderes konnten sie sich nicht vorstellen. Der Gedanke an Unterhaltung und Vergnügen ließ sie so gleichgültig wie das Fehlen von Männern als Gefährten und Brüder für ihre Töchter.

Ihre Arbeit ist unbestreitbar anstrengend – und, wie ich glaube, unter den weiblichen Beschäftigungen einmalig. Sobald es morgens hell genug ist, schwimmen die meisten Mädchen und Frauen oder rudern auf Flößen auf das Meer hinaus. Am Arm jeder Frau hängt ein locker, aus biegsamen Zweigen geflochtener Korb. Die Frauen tauchen bis in die späte Abenddämmerung immer wieder zum Meeresgrund hinab, um die Austern loszubrechen, die es vor den Inseln in großen Mengen gibt. Sie kommen mit dem gefüllten Korb nach oben, entleeren ihn am Strand oder auf dem Floß und tauchen, um ihn von neuem zu füllen. Die Mädchen, die zu jung, und die Frauen, die zu alt zum Tauchen sind, übernehmen die mühsame Arbeit, die Austern zu öffnen und sie beinahe fast alle wegzuwerfen.

Die Frauen wollen nicht die Austern, wenn man von den wenigen absieht, die sie essen. Sie suchen die Kinúcha, die Herzen der Austern – die Perlen. Während meiner Zeit auf den Inseln habe ich genug Perlen gesehen, um damit den Bau einer großen neuen Stadt in diesem Frauenparadies bezahlen zu können, falls eine Stadt gewünscht worden wäre. Die meisten Perlen waren vollkommen rund und glatt. Manche waren unregelmäßig und birnenförmig, einige hatten die Größe von Fliegenaugen, andere die meines halben Daumens. Doch am häufigsten waren Größen zwischen diesen beiden Extremen. Die Mehrzahl hatte einen sanften weißen Schimmer, doch es gab auch Rosa- und blasse Blautöne. Hin und wieder hatte eine Perle sogar die silbergraue Farbe einer Gewitterwolke. Perlen sind deshalb so wertvoll und werden so sehr geschätzt, weil sie selten und schwierig zu finden sind. Obwohl man annehmen sollte, daß wenn eine Auster ein Herz hat, auch alle anderen eins haben müßten.

»Ein Herz haben sie alle«, sagte Grille. »Aber nur sehr wenige haben die richtige Art Herz.« Sie legte den hübschen Kopf schief und sah mich an. »Dein Herz, Tenamáxtli, ist es dazu da, Gefühle zu empfinden, ja? Gefühle der Liebe?«

»Es sieht so aus«, sagte ich und lachte. »Es schlägt schneller und heftiger, wenn ich jemanden liebe.«

Sie nickte. »Wie mein Herz, wenn ich meine kleine Tiripetsi ansehe und meine Liebe für sie spüre. Aber nicht alle Austern haben Herzen, die wie Menschenherzen Gefühle kennen. Die meisten Austern liegen einfach bewegungslos da, warten darauf, daß ihnen die Strömung Nahrung bringt, und wünschen sich nicht mehr als Ruhe. Sie tun nichts, außer zu leben, solange sie können.«

Ich wollte erwidern, daß diese Beschreibung auch auf ihre Schwestern auf den Inseln oder die Mehrheit der Menschen zutraf, die ich kennengelernt hatte, doch sie fuhr fort: »Nur eine Auster von vielen, vielleicht eine von hundertmal hundert, hat ein Herz, das fühlen kann, das fähig ist, etwas mehr sein zu wollen als Schleim in einer Muschelschale. Das fühlende Herz dieser einen Auster unter den vielen wird eine Kinú, ein sichtbares, schönes und kostbares Herz.«

Diesen Unsinn konnte man sicher nur auf den Inseln der Frauen glauben, doch es war ein so reizender Einfall, daß mein Herz keinen Widerspruch zuließ. Wenn ich jetzt zurückdenke, dann habe ich mich wohl in diesem Augenblick in Ixinatsi verliebt.

Auf jeden Fall muß ihr Glaube an die Suche nach Austern, die sich nicht wie Austern verhielten, sie an jenen Tagen getröstet haben, wenn sie zwischen dem ersten und dem letzten Schimmer Tageslicht mehrere hundert Male tauchte und ganze Austernbänke nach oben brachte, ohne eine einzige Perle zu finden. Deshalb verfluchte sie, wie ich es bestimmt getan hätte, nach einem ganzen Tag vergeblicher Arbeit, niemals die Austern oder die Götter, ja sie spuckte nicht einmal wütend ins Meer.

Und es war eine verflucht harte Arbeit. Ich weiß es, denn ich versuchte es eines Tages verstohlen an einer Stelle, wo die Frauen gerade nicht tauchten. Ich blieb gerade lange genug unter Wasser, um eine einzige Auster vom Felsen zu lösen. Länger konnte ich es nicht aushalten. Doch die Frauen beginnen bereits als Kinder zu tauchen. Bis sie erwachsen sind, hat sich ihr Oberkörper so entwickelt, daß sie den Atem erstaunlich lange anhalten und unter Wasser bleiben können. In der Tat haben die Frauen der Inseln bemerkenswerte Oberkörper und Brüste, wie ich sie sonst nirgends gesehen habe. »Sieh sie dir an«, sagte Grille und hielt in jeder Hand eine ihrer herrlichen Brüste. »Ihretwegen sind die Inseln das Reich der Frauen geworden. Verstehst du, wir verehren die Göttin Xarátanga mit den großen Brüsten. Ihr Name bedeutet Neumond. In der Wölbung jedes Neumondes kannst du die Rundung ihrer vollen Brust sehen.« Die Ähnlichkeit war mir noch nie aufgefallen, aber so ist es tatsächlich.

Grille fuhr fort: »Die Göttin Neumond hat vor langer Zeit bestimmt, daß diese Inseln nur von Frauen bewohnt werden dürfen. Alle Männer halten sich an diesen Befehl, denn sie fürchten, Xarátanga könnte die Austern oder zumindest die wertvollen Kinucha wegnehmen, wenn ein Mann versuchen würde, sie zu sammeln. Die Männer wären dazu ohnehin nicht in der Lage. Du hast mir deine eigene Unfähigkeit gestanden. Neumond hat uns so ausgestattet, daß wir besser tauchen können.« Sie ließ ihre Brüste wieder los. »Sie unterstützen unsere Lunge, damit sie in der Lage ist, sehr viel mehr Luft aufzunehmen, als es die Lunge eines Mannes kann.« Ich konnte mir keine Verbindung zwischen milchspendenden Brüsten und Atmungsorganen vorstellen, doch ich war kein Ticitl, und deshalb ließ ich die Sache auf sich beruhen. Welche zusätzliche Aufgabe sie auch erfüllten oder nicht erfüllten, ihre prachtvolle Form und beständige Festigkeit trugen zweifellos viel zum hübschen Aussehen der Frauen bei.

Es gibt noch etwas anderes, das die Inselbewohnerinnen von den Frauen des Festlandes unterscheidet und sie auffallend reizvoll macht. Doch um diesen Punkt zu erläutern, muß ich etwas abschweifen.

Die Frauen sind nicht die einzigen Bewohner dieser Inseln. Mehrere Arten Meeresschildkröten kriechen schwerfällig vom Strand ins Wasser und wieder zurück. Es gibt überall Krabben und natürlich eine Vielzahl Vögel, die heiser krächzen und wahllos ihren Kot fallen lassen. Das bemerkenswerteste Lebewesen ist ein Tier, das die Frauen Pukiitsi nennen. Es ist die im Meer lebende Form des Tieres, das wir Berglöwe nennen. Der Name mußte noch von den Vorfahren aus Michihuácan stammen, denn keine der Frauen der Inseln konnte jemals einen Berglöwen gesehen haben.

Der Pukiitsi gleicht in gewisser Weise dem Berglöwen, obwohl er keinen wilden, sondern eher liebenswürdigen, sanften und freundlichen Eindruck macht. Der Pukiitsi hat ähnlich wie der Berglöwe eine Art Schnurrbart, doch seine Zähne sind stumpf, die Ohren winzig, und die flossenartigen Pfoten haben keine mörderischen Krallen. In Aztlan bekamen wir diese Meeresbewohner nur selten zu Gesicht, etwa wenn ein verletztes oder totes Tier an den Strand gespült wurde, denn sie mögen keine sandigen oder sumpfigen, sondern felsige Küsten. Wir nannten sie wegen ihrer großen, freundlichen braunen Rehaugen See-Rehe.

Auf den Inseln der Frauen hielten sich Hunderte dieser Seelöwen auf, doch sie ernähren sich ausschließlich von Fischen, und man mußte sich vor ihnen nicht wie vor Berglöwen fürchten. Sie schwammen verspielt neben den tauchenden Frauen im Wasser, sonnten sich träge auf den dem Ufer vorgelagerten Felsen oder ließen sich sogar schlafend auf dem Rücken im Wasser treiben. Die Frauen töteten die Seelöwen niemals, um sie zu essen, denn das Fleisch ist nicht sehr schmackhaft. Doch gelegentlich verendete ein Tier, und die Frauen zogen ihm die Haut ab. Der glänzende braune Pelz wird wegen seiner Schönheit und weil er wasserabweisend ist, als Kleidung geschätzt. Ixinatsi fertigte mir aus einem Fell einen warmen Umhang. Der Pelz ist so dicht, daß die Tiere im Meer leben können, ohne daß ihr Körper sich abkühlt oder daß sie bis auf die Haut durchnäßt werden. Und da der Pelz sehr glatt ist, können sie wie Fische pfeilschnell durch das Wasser gleiten.

Bei den tauchenden Frauen hat sich der Anflug eines ähnlichen Pelzes entwickelt. Ich habe an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß die Völker der EINEN WELT üblicherweise frei von Körperbehaarung sind, doch ich muß diese Feststellung berichtigen. Der Körper eines jeden Menschen, selbst des jüngsten und scheinbar haarlosen Säuglings, ist zu einem großen Teil von beinahe unsichtbarem feinen Flaum bedeckt. Man stelle einen nackten Mann oder eine nackte Frau zwischen sich und die Sonne, und es wird sich zeigen. Der Flaum der Inselfrauen ist jedoch länger; vermutlich läßt sich das darauf zurückführen, daß sie seit so vielen Generationen Taucherinnen sind.

Ich meine nicht, daß sie einen Pelz von Haaren tragen, die so rauh wie die Barthaare der weißen Männer sind. Der Flaum ist fein, zart und farblos wie Seidenpflanzenfäden. Doch er glänzt auf ihren kupferfarbenen Körpern wie das Fell des Seelöwen und erfüllt auch den gleichen Zweck, nämlich die Frauen im Wasser wendiger zu machen. Die Umrisse einer Frau von den Inseln, in deren Rücken die Sonne scheint, sind von schimmerndem Gold gesäumt. Im Mondlicht glänzt sie silbern. Selbst wenn sie das Wasser schon lange verlassen hat und vollkommen trocken ist, wirkt sie taufrisch und geschmeidiger als andere Frauen, so als könne sie mühelos auch der Umarmung des stärksten Mannes entschlüpfen … Das bringt mich zu der Frage, die mich die ganze Zeit über am meisten beschäftigt hatte. Ich habe von den vielen Generationen tauchender Frauen gesprochen. Doch wie entstand die jeweils nächste Generation? Die Antwort ist so einfach, daß es lächerlich, sogar höchst gewöhnlich ist. Aber ich brachte erst am Abend meines siebten Tages auf den Inseln den Mut auf, diese Frage zu stellen. An diesem Tag hatte die alte Kuku angeordnet, daß ich am nächsten Morgen die Inseln verlassen sollte.