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Unser Volk kennt ein Sprichwort: ›Ein Mann, der nicht weiß, wohin er geht, muß nicht fürchten, vom Weg abzukommen‹.
Ich hatte nur ein Ziel. Ich wollte mich möglichst weit von der Stadt Mexico entfernen, bevor ich mich nach Norden in Richtung der nicht-unterworfenen Länder wandte. Deshalb nahm ich von Tlácopan aus die Straße, die nach Westen führte. Irgendwann befand ich mich in Michihuácan, der Heimat der Purémpe. Dieses Volk gehörte zu den wenigen in der EINEN WELT, die von den Mexica niemals unterworfen oder zu Tributleistungen verpflichtet worden waren. Der Hauptgrund für die erfolgreiche Unabhängigkeit von Michihuácan in jener Zeit lag darin, daß die Handwerker und Waffenschmiede das Geheimnis der Herstellung eines braunen, so harten und scharfen Metalls kannten, daß die daraus geschmiedeten Klingen im Kampf den brüchigen Obsidianwaffen der Mexica überlegen waren. Bereits nach wenigen fehlgeschlagenen Versuchen, Michihuácan zu unterwerfen, gaben sich die Mexica mit einem Waffenstillstand zufrieden. Danach trieben beide Staaten freien oder nahezu freien Handel miteinander, denn die Purémpecha verrieten keinem anderen Volk der EINEN WELT das Geheimnis ihres außergewöhnlichen Metalls. Natürlich ist es inzwischen kein Geheimnis mehr. Die Spanier erkannten darin auf Anhieb Bronze, wie dieses Metall bei ihnen heißt. Die braunen Klingen konnten gegen den noch härteren und schärferen Stahl des weißen Mannes so wenig bestehen wie gegen das weichere Blei, das mit Hilfe des Pulvers aus Donnerstöcken und Donnerrohren abgeschossen wurde.
Trotzdem setzten sich die tapferen Purémpecha selbst mit ihren unterlegenen Waffen erbitterter gegen die Spanier zur Wehr als jedes andere Volk, in dessen Land sie eingefallen waren. Sobald die Weißen das Gebiet des jetzigen Neuspanien erobert und gesichert hatten, führte einer ihrer grausamsten und habgierigsten Kapitäne, ein Mann namens Guzmán, eine Streitmacht von der Stadt Mexico aus nach Westen – auf demselben Weg, auf dem ich gerade ging. Er beabsichtigte, für sich ebensoviel Land und ebenso viele Untertanen zu erobern wie vor ihm Cortés, sein Kommandant, gewonnen hatte. Obwohl das Wort Michihuacan nichts anderes bedeutet als ›Land der Fischer‹, stellte Guzmán wie die Mexica vor ihm bald fest, daß es ebensogut ›Land der kühnen Krieger‹ hätte heißen können.
Es kostete Guzmán das Leben mehrerer tausend Soldaten, um auf den grünen Feldern und sanften Hügeln dieses Landstrichs langsam vorzurücken. Von den Purémpecha fielen etliche tausend, doch es blieben immer noch Krieger übrig, die unverdrossen weiterkämpften. Guzmán brauchte beinahe fünfzehn Jahre, um sich mit Pulver, Stahl und Feuer einen Weg zur Nordgrenze von Michihuacan, hinter der das Land Kuanáhuata liegt, zu bahnen, und an die westliche Grenze, an die Küste des Westmeeres vorzustoßen. Ich habe an einer früheren Stelle davon gesprochen, daß meine Mutter, mein Onkel und ich auf unserem Weg zur Stadt Mexico in Michihuácan viele Male vorsichtig Gebiete umgehen mußten, in denen immer noch blutige Kämpfe stattfanden. Als Krieger muß ich einräumen, daß sich Guzmán in Anbetracht dessen, was er an Jahren und Menschenleben bezahlen mußte, einen Anspruch auf das eroberte Land erworben hatte und damit das Recht, ihm einen Namen seiner Wahl zu geben – Nuevo Galicia, Neugalicien, zu Ehren seiner Heimatprovinz im alten Spanien. Doch er ließ sich zu unverzeihlichen Dingen hinreißen. Er trieb die wenigen Krieger der Purémpe, die er gefangengenommen hatte, sowie alle anderen Männer und Knaben Neugaliciens, die irgendwann beschließen konnten, Krieger zu werden, zusammen und verschiffte sie als Sklaven über das Ostmeer zur Insel Kuba und einer anderen in dieser Gegend liegenden Insel mit dem Namen Española. So konnte Guzmán sicher sein, daß diese Männer und Jungen, die weder die Sprache der dort eingeborenen Sklaven noch die Sprache der Morosklaven beherrschten, die fremden Inseln nicht zur Rebellion gegen ihre spanischen Herren aufwiegeln würden. Aus diesem Grund bestand damals, als ich mich in Michihuácan aufhielt, die Bevölkerung ausschließlich aus jungen und alten Frauen, alten Männern und Knaben, die kaum der Kindheit entwachsen waren. Ich war der erste erwachsene, aber nicht alte Mann, der seit längerer Zeit dort auftauchte und daher eine willkommene Seltenheit. Auf meinem Weg durch das ehemalige Land der Mexica hatte ich in den Dörfern, durch die ich kam, um Essen und Unterkunft bitten müssen. Die Mexica gewährten mir diese Gastfreundschaft bereitwillig, doch ich mußte danach fragen. In Michiuácan wurde ich regelrecht mit gastfreundlichen Angeboten bestürmt. Immer wieder hörte ich die einladenden Worte: »Du kannst bleiben, so lange es dir gefällt, Fremder.« Kam ich an Gehöften nahe der Straße vorüber, liefen die Frauen – denn Männer gab es keine – aus den Häusern, hielten mich am Mantel fest und forderten mich zum Bleiben auf.
Wenn ich für sie etwas Ungewöhnliches war, so waren die Purémpecha das für mich genauso, obwohl ich mir diese Menschen eigentlich nicht anders vorgestellt hatte. Ich hatte nämlich in der Stadt Mexico in der Mesón de San José und auf dem Marktplatz eine Reihe älterer Purémpecha kennengelernt, Händler, Boten oder einfach Herumtreiber. Die Köpfe dieser Männer waren so kahl gewesen wie Huaxolómi-Eier. Sie erklärten, so seien in ihrer Heimat die Köpfe aller Männer, Frauen und Kinder. Den Purémpecha galt glatte, glänzende Haut als die Krönung der menschlichen Schönheit. Trotzdem hatte der Anblick der bis auf die Wimpern völlig unbehaarten Köpfe keinen großen Eindruck auf mich gemacht. Die Männer auf dem Markt in der Stadt Mexico waren schon so alt gewesen, daß ihre Kahlheit nicht weiter erstaunlich schien. Doch es war etwas ganz anderes, in Michihuácan zu sehen, daß ausnahmslos jeder, ob Säugling, Kind, ob erwachsene Frau oder Großmutter, unbehaart war.
Die meisten Menschen der EINEN WELT, auch ich, waren stolz auf ihr Haar und trugen es lang. Wir Männer ließen es bis zu den Schultern wachsen, und es fiel uns bis dicht über die Augen in die Stirn. Den Frauen reichten die Haare manchmal bis zu den Hüften oder noch tiefer. Doch die Spanier hielten ihre Barte und Schnurrbärte für die einzig wahren Symbole der Männlichkeit und fanden, unsere Männer wirkten weibisch und unsere Frauen liederlich. Sie prägten sogar ein abfälliges Wort für unsere Haartracht: Balcarotta, etwa ›Heuhaufen‹. Da sie uns ständig kleiner Diebereien beschuldigten, argwöhnten sie, daß wir gestohlene Dinge aus ihrem persönlichen Besitz in den Haaren versteckten. Deshalb fand die völlige Kahlheit der Purémpe zweifellos den ungeteilten Beifall Guzmáns und der anderen spanischen Herren von Neugalicien. Es gab in Michihuácan jedoch andere Sitten, die mit Sicherheit nicht die Zustimmung der christlichen Spanier finden konnten. Das liegt daran, daß bereits nur die Erwähnung des Geschlechtsverkehrs Christen beunruhigt und jedes vom üblichen abweichende sexuelle Verhalten sie geradezu entsetzt, weit mehr übrigens als die Sitte, Menschen für ›heidnische Götter‹ zu opfern. Die Purémpe auf dem Markt, von denen ich so viel wie möglich der Pore-Sprache zu erlernen suchte, hatten mir Worte und Ausdrücke beigebracht, die sich auf sexuelle Dinge bezogen. Ich wiederhole, diese Männer waren alt und hatten längst die Fähigkeit zur Paarung, selbst das geringste Verlangen danach verloren. Trotzdem erzählten sie genußvoll von den unterschiedlichen und bemerkenswerten, ja sogar unschicklichen und anstößigen Arten, auf die sie die sexuellen Triebe der Jugendzeit befriedigt hatten, ohne damit gegen ihre Sitten zu verstoßen.
Auch ich sage ›unschicklich‹ und ›anstößig‹, obwohl ich selbst nicht gerade ein Vorbild an Keuschheit oder Sittsamkeit gewesen bin. Doch die Azteca, die Mexica und die meisten anderen Völker der EINEN WELT waren in Hinblick auf Sexualität schon immer ebenso prüde wie die Christen. Wir hatten zwar keine Gesetze, Vorschriften und Gebote in der Art von ›du sollst nicht‹, doch die Tradition lehrte uns, daß man gewisse Dinge nicht tat.
Ehebruch, Inzest, wahllose Geschlechtsbeziehungen – außer während bestimmter Fruchtbarkeits-Zeremonien –, die Zeugung unehelicher Kinder, Vergewaltigung, Cuilónyotl zwischen Männern und Patlachuia zwischen Frauen, all das galt als verboten. Im Gegensatz zu den Christen erkannten wir an, daß jeder Mensch von abweichendem oder sogar lasterhaftem Wesen sein und daß jeder normale Mensch sich unpassend benehmen konnte, wenn ihn die Lust übermannte. Trotzdem billigten wir solche Handlungen nicht. Wenn solche Dinge ans Licht kamen, mieden alle anständigen Menschen den Täter oder die Teilnehmer für alle Zeiten, oder er wurde verbannt, möglicherweise streng bestraft, manchmal sogar zum Tod durch die blumenumwundene Schlinge verurteilt. Die alten Männer in der Stadt hatten mich anschaulich und mit wortreichen Reden darauf vorbereitet, daß sich die Sitten in Michihuácan von den unsrigen deutlich unterschieden. Bei den Purémpeche waren alle erdenklichen Arten sexueller Paarungen erlaubt, solange beide oder alle Teilnehmer damit einverstanden waren oder sich zumindest nicht lautstark darüber beklagten. Ich hatte keine derartige Neigung, und wenn sich einige der vielen Frauen, denen ich in Michihuácan begegnete, zuvor mit allem möglichen vergnügten, weil die Männer verschwunden waren, so gaben sie das jetzt mit Freuden auf, als ich erschien. Wohin ich in diesem Land auch kam, überall fand ich eine Überfülle von Frauen und Mädchen. Sie alle boten sich mir an, so daß ich mir die Hübschesten aussuchen konnte. Das tat ich auch. Ich muß gestehen, zunächst fiel es mir nicht leicht, mich an die kahlköpfigen Frauen zu gewöhnen. Manchmal war es sogar schwierig, die jüngeren von Knaben zu unterscheiden, denn beide Geschlechter der Purémpecha kleiden sich beinahe gleich. Doch mit der Zeit bewunderte ich ihre Kahlheit beinahe so sehr, als sei ich selbst ein Purémpecha. Denn ich lernte allmählich zu erkennen, wie der Verzicht auf jegliche Art Schmuck die Schönheit mancher Frauen sogar zu steigern vermochte. Durch das Abschneiden ihrer Haare verringerte sich keineswegs ihre weibliche Glut und Liebesfähigkeit. Ich erlag nur ein einziges Mal einer Fehleinschätzung. Ich mache für diesen Vorfall den Chápari verantwortlich, ein Getränk, das die Purémpecha aus dem Honig der wilden schwarzen Bienen gewinnen. Es ist sehr viel berauschender als spanischer Wein. Ich war für die Nacht in einer Herberge abgestiegen. Unter den Gästen befanden sich ein älterer Fernhändler und ein beinahe ebenso alter Bote. Die Besitzerin war eine alte kahlköpfige Frau. Sie hatte drei ebenfalls kahlköpfige Helferinnen, offenbar ihre Töchter. Im Laufe des Abends trank ich unbesonnen von dem köstlichen Chápari, den man hier ausschenkte. Ich wurde so betrunken, daß mich die jüngste und schönste Dienerin in mein kleines Zimmer führen, mich entkleiden und mir auf mein Lager helfen mußte. Dann bedachte sie unaufgefordert meinen Tepuli mit wundervoll feurigen Liebkosungen, wie ich sie zum ersten Mal an jenem denkwürdigen Geburtstag durch den Mund der Auyanimi in Aztlan erfahren hatte, und später noch oft von meiner Cousine Améyatl und anderen Frauen. Kein Mann ist jemals zu betrunken, um dieses Erlebnis nicht voll Wonne zu genießen.
Deshalb bat ich hinterher die Dienerin, sich zu entkleiden, denn ich wollte ihrer Xacapili dankbar die gleiche Aufmerksamkeit erweisen. In meinem benebelten Zustand wurde es mir erst sehr viel später klar, daß es für eine Xacapili viel zu groß war. Da zuckte ich zurück, aber nicht vor Abscheu, sondern weil ich über meinen Irrtum lachen mußte. Der schöne Junge wirkte verletzt, stand auf, und sein Tepúli schrumpfte augenblicklich beinahe auf die Größe einer Xacapili zusammen. Dieser Anblick inspirierte mich in meinem betrunkenen Zustand von neuem. Deshalb winkte ich ihn wieder zu mir. Als er ging, gab ich ihm trunken und verschwenderisch zum Dank eine Maravedi-Münze. Ich schlief ein und erwachte am nächsten Tag mit erdbebenartigen Kopfschmerzen und nur einer sehr schemenhaften Erinnerung an das, was der Junge und ich alles miteinander ausprobiert hatten.
Angesichts der Fülle bereitwilliger Frauen und Mädchen – von Jungen ganz zu schweigen – und des Reichtums an anderen guten Dingen hätte ich vermuten können, ich sei vorzeitig nach Tonaticuan oder in eines der anderen Paradiese versetzt worden, in denen ewige Freude herrscht. Neben der grenzenlosen sexuellen Freizügigkeit bot Michihuácan in Hinblick auf Essen und Trinken eine erstaunliche Vielfalt – köstliche Fische aus Flüssen und Seen, die man sonst nirgends findet, Eier und geschmortes Fleisch der Schildkröten, die es am Meeresstrand im Überfluß gab, in Lehm gebackene Wachteln, geröstete Kolibris, Schokolade mit einer Prise Vanille und natürlich den unvergleichlichen Chápari. Das Land selbst war mit seinen blumenübersäten, sanft gewellten Wiesen, den glitzernden Bächen und klaren Seen, den üppigen Obstgärten und Feldern ein Fest für die Augen, besonders dann, wenn man den Blick zu den blaugrünen Bergen in der Ferne hob. Ein gesunder, kräftiger junger Mann konnte durchaus in Versuchung geraten, für immer in Michihuácan zu bleiben. Auch ich wäre vielleicht geblieben, hätte ich nicht einen Auftrag zu erfüllen gehabt.
»Ayya, hier werde ich keine Krieger anwerben können«, seufzte ich. »Ich muß weiterziehen.«
»Wie wäre es mit kriegerischen Frauen?« fragte meine derzeitige Gefährtin. Sie war eine blendend aussehende junge Frau, deren dichte Wimpern im Gegensatz zu dem sonst unbehaarten und strahlend schönen Antlitz noch verführerischer wirkten. Sie hieß Pakápeti, das bedeutet Zehenspitze. Als ich sie verständnislos ansah, fügte sie hinzu: »Es war ein Fehler der Spanier, nur unsere Männer zu töten oder zu verschleppen. Sie verkennen die Fähigkeiten von uns Frauen.«
Ich rief belustigt. »Frauen? Kriegerinnen? Unsinn!«
»Du redest Unsinn!« fauchte sie. »Ebensogut könntest du behaupten, ein Mann kann schneller auf einem Pferd reiten als eine Frau. Ich habe spanische Männer und Frauen auf Pferden gesehen. Es hängt vom Pferd ab, wer schneller reitet.«
»Ich habe weder Männer noch Pferde«, erwiderte ich unglücklich.
»Du hast eine Waffe«, sagte Zehenspitze und wies auf meine Arkebuse. Ich hatte den ganzen Nachmittag damit geübt und mit unterschiedlichem Erfolg versucht, Ahuácatin-Früchte von einem Baum neben ihrer Hütte zu schießen. »Eine Frau könnte sie genauso geschickt benutzen wie du«, fuhr sie fort. Ich gab mir große Mühe, nicht laut zu lachen. »Du brauchst mehr von diesen Donnerstöcken, mach welche oder stehle sie …«
»Das ist genau meine Absicht, sobald ich eine Truppe zusammen habe, die groß genug ist, ein solches Vorhaben zu rechtfertigen.«
»Ich brauchte nicht weit in der Gegend herumziehen«, sagte sie, »um für dich eine beachtliche Zahl starker, kampfwilliger und rachsüchtiger Frauen anzuwerben. Abgesehen von jenen, die sich die Spanier als Haussklavinnen oder Bettwärmer genommen haben, würde uns nicht einmal jemand vermissen, falls wir aus unseren Hütten und Häusern verschwänden.« Ich wußte, was sie meinte. Bisher hatte ich auf meinem Weg nach Westen die vielen spanischen Estancias gemieden, die natürlich das beste Acker- und Weideland von Michihuácan besaßen. Da es unter den Purémpecha keine Männer mehr gab und die Spanier glaubten, die Frauen seien nur für Dienste im Haus geeignet, verrichteten Sklaven die Arbeit auf den Gehöften und Viehwirtschaften. Von weitem hatte ich die schwarzen Moros arbeiten sehen. Sie wurden von berittenen Spaniern mit Peitschen beaufsichtigt. Die neuen Herren von Michihuácan pflanzten hauptsächlich Feldfrüchte an, für die es genug Käufer gab – ausländischen Weizen, Süßrohr und eine Grünpflanze, die Alfalfa genannt wurde, sowie Bäume, die fremdländische Früchte trugen, die Manzanas, Naranjas, Limones und Aceitunas genannt wurden. Auf den Feldern mit weniger gutem Boden weideten große Herden von Schafen, Kühen oder Pferden, und es gab Gehege mit Schweinen, Hühnern und Gallipavos. Selbst sumpfiges Land, das früher brachgelegen hatte, nutzten die Weißen für den Anbau einer ausländischen Getreidesorte, die im Wasser gedieh und Arroz hieß. Da die Spanier beinahe auf jedem Stück von Michihuácan etwas anpflanzten, ernteten und Gewinne erzielten, blieben für die überlebenden Purémpecha nur wenige, kleine Felder übrig.
Pakápeti sagte: »Du hast davon gesprochen, daß man in diesem Land gut ißt, Tenamáxtli. Ich will dir sagen, wie wir uns ernähren. Die Felder mit Mais, Tomaten und Pfefferschoten, die wir haben, werden von unseren alten Männern und Frauen bearbeitet. Die Kinder sammeln Nüsse, Beeren und den wilden Honig für Süßigkeiten und Chapari. Wir Frauen beschaffen das Fleisch – Vögel, kleine Tiere, Fische, hin und wieder sogar ein Wildschwein und einen Berglöwen.«
Nach einer Pause fügte sie trocken hinzu: »Aber wir haben keine Donnerstöcke. Wir benutzen die uralten Methoden: Netze für die Vögel, Angelleinen und Jagdwaffen aus Obsidian. Außerdem führen wir das traditionelle Handwerk der Purémpe weiter und stellen Lackarbeiten und glasierte Tonwaren her. Diese Dinge tauschen wir bei den Stämmen an der Küste gegen andere Nahrungsmittel und gegen die Schweine, Hühner, Lämmer oder Ziegen der Spanier. Wir leben ohne Männer, und du kannst mir glauben, wir leben nicht schlecht. Aber wir leben nur, weil wir von den weißen Herren geduldet werden. Deshalb sage ich, man würde uns nicht vermissen, wenn wir in den Krieg ziehen sollten.«
»Immerhin lebst du«, sagte ich. »Wenn du in den Krieg ziehen würdest, ginge es dir mit Sicherheit nicht so gut. Vielleicht würdest du sogar dein Leben verlieren.«
»Du weißt, alle Frauen in der EINEN WELT haben gegen die Spanier gekämpft. Die Frauen der Mexica haben bei den letzten Kämpfen in den Straßen von Tenochtitlan auf den Dächern gestanden und Steine, Wespennester und sogar ihren eigenen Kot auf die Eindringlinge geworfen.«
»Das hat ihnen wenig geholfen. Ich kannte eine Mexicatl-Frau, die noch tapferer war. Sie hat weiße Männer umgebracht, aber auch das hat ihr nichts genützt. Sie verlor schließlich selbst das Leben.«
Zehenspitze ließ sich nicht überzeugen. »Auch wir würden gern unser Leben geben, wenn wir dafür die verhaßten Spanier töten könnten.« Sie beugte sich vor. Ihre Lider mit den ungewöhnlichen Wimpern waren weit geöffnet. Sie sah mich eindringlich mit ihren Augen an, die ebenso dunkel und schön waren wie ihre Wimpern. »Versuch es doch mit uns, Tenamáxtli. Mit einem Aufstand der Frauen rechnen die Spanier bestimmt nicht!«
»Damit möchte ich nichts zu tun haben«, erwiderte ich lachend. »Stell dir das vor! Ich an der Spitze einer Heerschar Frauen! Jeder tote Krieger in Tonaticuan würde sich entweder vor Lachen oder vor Entsetzen schütteln. Die Vorstellung ist lächerlich, meine Liebe. Nein, ich muß mir Männer suchen.«
»Dann geh!« sagte sie und setzte sich verärgert auf. »Geh und such dir deine Männer. Ein paar gibt es noch in Michihuácan.« Sie machte eine unbestimmte Geste in Richtung Norden.
»Es gibt noch Männer?« fragte ich überrascht. »Purémpecha? Krieger? Verstecken sie sich? Liegen sie im Hinterhalt?«
»Nein«, antwortete sie verächtlich. »Es sind keine Krieger und keine Purémpecha, sondern Mexica, die man hierher gebracht hat, um neue Siedlungen am Pátzcuaro-See zu gründen. Aber ich fürchte, du wirst feststellen, daß diese Männer weit weniger tapfer und sehr viel sanftmütiger sind als ich und die Frauen, die ich für dich anwerben könnte.«
»Ich gebe zu, Zehenspitze, du bist alles andere als sanftmütig. Dein Namensgeber muß sich in seinem Tonálmatl-Buch der Namen geirrt haben. Erzähl mir etwas über diese Mexica. Wer hat sie hierher gebracht? Zu welchem Zweck?«
»Ich weiß nur, was ich gehört habe. Ein spanischer Christenpriester hat aus einem nur ihm bekannten Grund überall an den Ufern des Binsensees Siedlungen gegründet. Da es keine Purempecha-Männer mehr gab, mußte er Männer mit ihren Familien aus dem Land der Mexica herbringen. Ich habe gehört, der Priester verwöhnt die Siedler, als seien sie seine eigenen Kinder. Als ob sie seine kleinen Babys wären.«
»Familienväter«, murmelte ich. »Wahrscheinlich hast du recht, wenn du sagst, daß sie zu keiner Rebellion bereit sind. Vor allem dann nicht, wenn sie von ihrem Herrn gut behandelt werden. Aber wenn es so ist, wie du sagst, verhält sich dieser Priester sehr untypisch für einen Christen.«
Pakápeti zuckte die Schultern, und ich hatte mein Vergnügen, denn sie war nackt, und ihre entzückenden Brüste hoben und senkten sich bei dieser Bewegung einladend. Sie sagte keineswegs herzlich, sondern kühl: »Geh und sieh es dir an. Der See liegt nur drei Lange Läufe von hier entfernt.«
Der Binsensee hat die Farbe von Chalchihuitl, von Jade. Dieser Edelstein ist allen Völkern der EINEN WELT heilig. Die niedrigen, sanft gerundeten Berge, die den See umgeben, sind vom gleichen etwas dunkleren Grün. Als ich auf dem Gipfel eines dieser Berge stand und ins Tal blickte, wirkte der See wie ein strahlendes Juwel auf einem Moospolster. Im See liegt eine Insel. Sie heißt Xarákuaro und muß früher die schönste Facette dieses Juwels gewesen sein. Denn dort befanden sich Tempel und Altäre, die in allen Farben leuchteten und deren bunte und goldene Verzierungen in der Sonne glänzten. Doch Guzmáns Soldaten hatten alle Heiligtümer dem Erdboden gleichgemacht.
Auch die Dörfer und Städte um den See herum waren verschwunden, sogar Tzintzuntzani ›Wo es Kolibris gibt‹, gab es nicht mehr. Es war die Hauptstadt von Michihuácan gewesen und hatte nur aus Palästen bestanden. Der schönste Palast war der Sitz von Tzimtzicha, dem letzten Verehrten Sprecher der besiegten Purémpecha, gewesen. Von dem Gipfel, auf dem ich stand, sah ich nur ein Wahrzeichen, das aus der alten Zeit übriggeblieben war: die Pyramide im Osten des Sees. Sie war bemerkenswert wegen ihrer Größe und Form. Sie schien nicht sehr hoch, sondern eher lang zu sein, und hatte auf ihrer Plattform sowohl runde als auch rechteckige Aufbauten. Ich wußte, diese lyákata, wie eine Pyramide auf Pore heißt, stammte noch aus der alten Zeit. Ein Volk, das lange vor den Purémpecha hier lebte, hatte sie errichtet. Selbst zu Tzimtzichas Zeit war sie bereits eine von Pflanzen überwucherte Ruine gewesen, doch sie wirkte noch immer erhaben und ehrfurchteinflößend.
Entlang dem Seeufer entdeckte ich einzelne Dörfer. Aber sie schienen in keiner Hinsicht etwas Besonderes zu sein, denn man hatte die Häuser alle niedrig und flach im spanischen Stil aus getrockneten Lehmziegeln erbaut. Im Dorf am Fuß des Berges, auf dem ich stand, sah ich Menschen. Sie trugen die Kleidung der Mexica und hatten meine Hautfarbe. Ich bemerkte keine Spanier unter ihnen. Deshalb stieg ich neugierig hinab und grüßte den ersten Mann, dem ich begegnete. Er saß auf einer Bank neben der Tür seines Hauses und schnitzte mit großer Hingabe an einem Stück Holz. Ich sagte den üblichen Nahuatl-Gruß: »Mixpantzinco«, was soviel bedeutet wie ›Ich erfreue mich Eurer erlauchten Gegenwart … ‹
Er erwiderte nicht auf poré, sondern ebenfalls in Náhuatl, das gewohnte höfliche »Ximopanólti«, was soviel heißt wie »Nach Eurem Belieben …« Dann fügte er freundlich hinzu: »Es kommen nicht viele Mexica hierher, um unser Utopía zu besuchen.« Ich wollte ihn nicht verwirren, indem ich ihm verriet, daß ich eigentlich ein Aztécatl war. Ich erkundigte mich auch nicht nach der Bedeutung des seltsamen Wortes, das er gerade verwendet hatte. Ich sagte nur: »Ich bin fremd in der Gegend und habe erst vor kurzem erfahren, daß in der Nähe Mexica leben. Es ist schön, wieder meine Muttersprache zu hören. Ich heiße Tenamáxtli.«
»Mixpantzínco, Cuati Tenamáxtli«, erwiderte er höflich. »Man nennt mich Erasmo Mártir.«
»Nach dem christlichen Heiligen?« Als er nickte, sagte ich: »Ich habe ebenfalls einen christlichen Namen: Juan Británico.«
»Wenn du Christ bist und eine Beschäftigung suchst, wird dir unser guter Pater Vasco vielleicht einen Platz bei uns geben. Hast du eine Frau und Kinder?«
»Nein, Cuati Erasmo. Ich bin ein einsamer Wanderer.«
»Wie schade.« Er schüttelte mitfühlend den Kopf. »Pater Vasco nimmt nur Siedler mit Familie auf. Doch wenn du eine Weile bleiben willst, wird er dir gastfreundlich eine Unterkunft anbieten. Du findest ihn in Santa Cruz Pátzcuaro, das ist das nächste Dorf westwärts am See.«
»Dann gehe ich dorthin und werde dich nicht länger von der Arbeit abhalten.«
»Ayyo, du störst mich nicht. Der Pater verlangt nicht, daß wir pausenlos wie Sklaven arbeiten, und es ist interessant, sich mit einem neu angekommenen Mexicatl zu unterhalten.«
»Was machst du da?«
»Das wird eine Mecahuéhuetl«, erwiderte er und wies auf ein paar beinahe fertige Teile hinter der Bank. Es waren Holzstücke etwa von der Größe und den anmutig geschwungenen Formen eines Frauenkörpers. Ich nickte, denn ich begriff, was die zusammengesetzten Teile ergeben würden. »Eine guitarra, wie die Spanier sagen.«
Die meisten der von den Spaniern mitgebrachten Musikinstrumente glichen im Grunde denen, die bereits in der EINEN WELT bekannt waren. Das heißt, sie brachten Musik hervor, indem sie entweder geblasen, geschüttelt, mit Stöcken geschlagen oder mit einem gekerbten Stock gestrichen wurden. Doch manche spanischen Instrumente unterschieden sich von unseren, zum Beispiel die Gitarre, die Violine, die Harfe und die Mandoline. Es erfüllte uns alle mit großem Staunen und mit Bewunderung, daß solche Instrumente wohlklingende Musik hervorbrachten, indem man straff gespannte Saiten mit den Fingern zupfte oder mit einem Bogen strich. »Aber wieso«, fragte ich Erasmo, »kopierst du ein neues fremdes Instrument? Die Weißen haben doch bestimmt eigene Leute, die Gitarren herstellen.«
»Keine so geschickten, wie wir es sind«, erwiderte er stolz. »Der Pater und seine Helfer haben uns gezeigt, wie man die Instrumente baut. Er sagt, unsere Mecahuéhuetlin sind selbst jenen überlegen, die aus Altspanien gebracht werden.«
»Wir?« wiederholte ich. »Du bist nicht der einzige?«
»O nein! Jeder Mann hier in San Marcos Churintzio übt dieses Handwerk aus. Es ist die besondere Aufgabe, die unserem Dorf übertragen wurde, so wie andere Dörfer in Utopía Lackarbeiten oder Kupferwaren oder was auch immer herstellen.«
»Wieso das?« Ich hatte noch nie von einer Gemeinschaft gehört, die sich nur einer Aufgabe widmete. »Geh und rede mit Pater Vasco«, sagte Erasmo. »Er wird dir mit Freuden alles darüber erzählen, wie er unser Utopía ins Leben gerufen hat.«
»Das werde ich tun. Danke, Cuati Erasmo. Mixpantzínco.«
Anstatt zu sagen ›Ximopanolti‹, verabschiedete er mich mit »Vaya con Dios« und fügte fröhlich hinzu: »Komm wieder, Cuati Juan. Ich habe vor, irgendwann zu lernen, wie man mit diesen Instrumenten Musik macht.«
Ich schlug den Weg nach Westen ein, machte jedoch in einer unbewohnten Gegend halt und ging ins Gebüsch, um meinen Mantel und das Schamtuch mit dem Hemd, der Hose und den Stiefeln aus meinem Bündel zu tauschen. So erreichte ich Santa Cruz Pátzcuaro in spanischer Kleidung. Auf meine Frage nach Pater Vasco schickte man mich zu der kleinen Kirche aus Lehmziegeln und der daran angebauten Casa de cura. Der Pater persönlich öffnete die Tür. Er war in keiner Hinsicht so zurückhaltend und unzugänglich wie die meisten christlichen Priester. Er trug auch kein schwarzes Gewand, sondern ein fleckiges Arbeitshemd und eine ebenso fleckige Hose aus schwerem, derbem Stoff.
Ich nahm mir die Freiheit, mich auf spanisch als Juan Británico, Laienhelfer von Fray Alonso de Molina, Notarius der Kathedrale des Bischofs Zumárraga, vorzustellen. Ich erklärte, ich sei auf Geheiß meines Herrn Alonso im Begriff, kirchliche Missionsstationen in den wenig erschlossenen Gebieten zu besuchen, um ihre Fortschritte zu beurteilen und Bericht darüber zu erstatten.
»Ich glaube, du wirst Gutes über uns berichten, mein Sohn.« sagte der Pater. »Es freut mich zu hören, daß sich Alonso immer noch unverdrossen in den Weinbergen der Mutter Kirche abrackert. Der junge Mann ist mir in sehr guter Erinnerung.« Der freundliche Priester nahm mich herzlich auf und schien meinen Schwindel nicht zu durchschauen. Ich stellte fest, daß er tatsächlich ein guter Priester war. Pater Vasco de Quiroga war ein großer, schmaler und streng wirkender, in Wirklichkeit jedoch fröhlicher Mensch. Er war alt genug, um so kahlköpfig zu sein, daß er keine Tonsur mehr brauchte. Aber er war immer noch kräftig, was seine Arbeitskleidung bewies, für die er sich bescheiden entschuldigte.
»Ich sollte eine ordentliche Soutane tragen, um einen Boten des Bischofs zu begrüßen. Aber ich helfe meinen Brüdern gerade, hinter dem Haus einen Schweinestall zu bauen.«
»Laßt Euch durch mich nicht abhalten …«
»Nein, nein, nein. Por cielo, ich freue mich über eine Pause. Setz dich, mein Sohn Juan. Ich sehe, du bist staubig von der Straße.« Er rief jemandem in einem anderen Raum zu, uns Wein zu bringen. »Setz dich, setz dich, mein Sohn. Und erzähl mir. Hast du schon viel von dem gesehen, was wir mit Hilfe des HERRN hier in der Gegend erreicht haben?«
»Nur wenig. Ich habe mich eine Weile mit Erasmo Mártir unterhalten.«
»Ach ja. Er ist vielleicht der geschickteste unserer Gitarrenbauer. Und er ist inzwischen ein gottesfürchtiger Christ geworden. Sag mir, Juan Británico, da du nach einem englischen Heiligen benannt bist, hast du vielleicht schon einmal etwas von dem frommen Don Tomás Moro gehört, der ebenfalls aus England stammte?«
»Nein, Pater. Aber – verzeiht – man hat mir zu verstehen gegeben, daß die Menschen in England Weiße sind.«
»Das sind sie!« Er nickte mit leuchtenden Augen. »Moro oder genauer gesagt Morus war sein Name. Das hat nichts mit seiner Rasse oder seiner Hautfarbe zu tun.« Der Pater seufzte. »Morus wurde erst vor kurzem ungerechtfertigt und auf schändliche Weise getötet. Der König von England, der ein verachtenswerter Ketzer ist, hat ihn hinrichten lassen. Christliche Frömmigkeit war sein einziges Verbrechen. Wenn du Don Tomás nicht kennst, dann weißt du vermutlich auch nichts von seinem berühmten Buch De optimo Republicae statu …«
»Nein, Pater.«
»Oder von Utopía, das er in diesem Buch entworfen hat?«
»Nein, Pater. Ich habe nur gehört, daß Erasmo dieses Wort verwendet hat.«
»Wir versuchen, hier an den Ufern dieses paradiesischen Sees Utopía zu schaffen. Ich wünschte nur, ich hätte schon vor vielen Jahren damit anfangen können. Aber ich bin noch nicht so lange Priester.« Ein junger Mönch kam herein und brachte zwei kunstvoll geschnitzte und lackierte Holzbecher, eindeutig das Werk eines Purémpecha. Er reichte sie uns, zog sich schweigend zurück, und ich trank dankbar von dem kühlen Wein.
»Die meiste Zeit meines Lebens«, fuhr der Pater fort, und es klang reumütig, »war ich ein Richter, ein Jurist. Das eine will ich dir sagen, junger Juan, jede Form der Juristerei ist korrupt und ein Greuel. Gott sei Dank begriff ich schließlich, wie sehr ich mich und meine Seele beschmutzte. Danach habe ich die Richterrobe nie mehr angezogen. Ich legte die heiligen Gelübde ab und wurde schließlich geweiht, so daß ich jetzt statt der Robe die Soutane trage.« Er lachte. »Natürlich haben mir viele meiner früheren Gegner am Gericht mit Freuden das alte Sprichwort vorgehalten: ›Hartóse el gato de carne, y luego se hijo fraile.‹«
Es dauerte einen Augenblick, bis ich mir das in Gedanken übersetzt hatte. ›Die Katze hat sich den Bauch mit Fleisch gefüllt, bevor sie zum Mönch wurde.‹ Er fuhr fort: »Das Utopía, das sich Thomas Morus vorstellt, ist eine ideale Gemeinschaft, deren Bewohner unter idealen Bedingungen leben. Die Übel, welche die Gesellschaft hervorbringt – Armut, Hunger, Elend, Verbrechen, Sünde und Krieg –, sind dort alle überwunden.« Ich unterließ es, ihn darauf hinzuweisen, daß es selbst in einer idealen Gemeinschaft Menschen geben würde, die möglicherweise auf das Recht, zu sündigen oder Krieg zu führen, nicht verzichten wollten. »Deshalb habe ich dieses schöne Stück von Neugalicien mit Siedlerfamilien bevölkert. Neben der Unterweisung in den christlichen Geboten bringen ich und meine Brüder ihnen die Benutzung europäischer Werkzeuge bei. Sie lernen von uns die neuesten Methoden in Ackerbau und Viehzucht. Darüber hinaus wollen wir jedoch nicht in das Leben der Siedler eingreifen oder uns einmischen. Nun ja, Bruder Augustin hat ihnen gezeigt, wie man Gitarren baut. Aber wir möchten ihnen nicht nur das Neue bringen. Wir haben alte Männer der Purémpe gefunden, die sich überreden ließen, die alten Streitigkeiten mit den Mexica zu vergessen. Sie unterweisen die Siedler in den uralten handwerklichen Fertigkeiten und Gewerben. Jetzt widmet sich jedes Dorf einem Handwerk in der besten Tradition der Purémpecha – Holzbearbeitung, Keramik, Weberei und so weiter. Siedler, die solche Fertigkeiten nicht erlernen können, leisten ihren Beitrag zu Utopía, indem sie die Felder bestellen oder Schweine, Ziegen und Hühner züchten.«
»Aber Pater Vasco«, sagte ich. »Welche Verwendung haben Eure Siedler für Gitarren? Erasmo, mit dem ich gesprochen habe, konnte nicht einmal daraufspielen.«
»Wir verkaufen die Gitarren und anderes Kunsthandwerk an die Händler in der Stadt Mexico. Viele Instrumente werden von Zwischenhändlern erworben, die sie nach Europa schicken. Wir erzielen für die Gitarren gute Preise. Auch das meiste der Erzeugnisse unserer Bauern und Hirten wird verkauft. Von dem Geld teile ich einen Anteil gleichmäßig unter den Familien der Dörfer auf. Doch das meiste unserer Einnahmen geben wir für neue Werkzeuge, Samen für die Aussaat und Zuchttiere aus. Alle Investitionen kommen Utopía als Ganzem zugute und helfen, das Leben zu verbessern.«
»Das klingt praktisch und sehr lobenswert, Pater«, sagte ich, und das war ehrlich gemeint. »Vor allem da ihr, wie Erasmo sagt, Eure Leute nicht zwingt, wie Sklaven zu schuften.«
»Válgame Dios, no!« rief er. »Ich habe die infernalischen Obrajes in der Stadt und anderswo gesehen. Unsere Siedler mögen einer tieferstehenden Rasse angehören, aber sie sind Menschen, und inzwischen sind sie Christen, also keine unvernünftigen Tiere ohne Seele. Nein, mein Sohn. Hier in Utopía gilt die Regel, daß die Leute nur sechs Stunden am Tag und sechs Tage in der Woche arbeiten. Die Sonntage sind natürlich dem Gebet geweiht. In der übrigen Zeit können die Leute tun und lassen, was sie wollen. Sie bestellen ihre eigenen Gärten, erledigen persönliche Dinge und kommen mit anderen zusammen. Wäre ich ein Heuchler, könnte ich sagen, ich bin allein schon deshalb ein Christ, weil ich kein Tyrann bin. Doch in Wahrheit arbeiten unsere Leute schwerer und produktiver als alle mit der Peitsche angetriebenen Sklaven und Arbeiter in den Obrajes.«
Ich sagte: »Erasmo hat mir noch etwas erzählt, nämlich daß Ihr nur verheirateten Männern und Frauen erlaubt, sich in Utopía anzusiedeln. Würden unverheiratete Männer und Frauen, die nicht mit Kindern belastet sind, nicht noch mehr arbeiten?«
Die Antwort auf diese Frage schien ihm nicht leichtzufallen. »Du hast da ein ziemlich heikles Thema angeschnitten. Wir maßen uns nicht an, den Garten Eden neu geschaffen zu haben, und so ist es nicht verwunderlich, daß wir mit Eva und der Schlange kämpfen.« Er lachte leise. »Ich sollte besser sagen, mit Eva als der Schlange.«
»Ayyo, verzeiht, daß ich gefragt habe, Pater. Ihr müßt die Purémpe-Frauen meinen.«
»Richtig. Nach dem Verlust ihrer eigenen Männer haben die Frauen erfahren, daß in Utopía junge, starke Männer leben. Sie sind immer wieder hier eingefallen, um, wie soll ich sagen, unsere Männer zu verführen. Am Anfang waren sie eine wahre Plage.« Er seufzte und runzelte die Stirn. »Bis zum heutigen Tag tauchen gelegentlich Frauen auf und belästigen die Männer. Ich fürchte, nicht alle unsere Familienväter können der Versuchung widerstehen. Aber ich bin sicher, unverheiratete Männer lassen sich sehr viel leichter verführen. Und Ausschweifungen dieser Art könnten zum Untergang von Utopía führen.«
Ich sagte anerkennend: »Mir scheint, Pater Vasco, Ihr habt alles wohl durchdacht und fest in der Hand. Das werde ich mit Vergnügen dem Notarius des Bischofs berichten.«
»Aber verlaß dich nicht nur auf meine Aussagen, mein Sohn Juan. Geh um den ganzen See herum. Besuche jedes Dorf. Du brauchst keinen Führer. Ich würde ohnehin nicht wollen, daß du den Verdacht hast, nur die musterhaften Seiten unserer Gemeinschaft vorgeführt zu bekommen. Geh allein. Sieh die Dinge, so wie sie sind, unverhüllt und ungeschönt. Bei deiner Rückkehr werde ich mich freuen, wenn du sagen kannst, wie San Diego es einmal ausgedrückt hat, daß ein Mensch an ›seinen Taten‹ gemessen wird, nicht allein an ›seinem Glauben‹.«