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Er traf sie gleich hinter der Brücke. Sie stieg wortlos ein. Als sie den Wald hinter sich gelassen hatten, sagte sie: »Es ist vielleicht das beste, du setzt mich in Weinstein ab. Ich komme schon zurecht.«

»Aber ich nicht.« Er bremste langsam ab und hielt am Straßenrand.

»Ich habe eine Bitte an dich. Aber vorher mußt du etwas von mir wissen, was ich noch niemandem erzählt habe. Und glaube mir, es ist nicht einfach, darüber zu sprechen.«

Es war nicht einfach. Es gelang ihm nicht immer, ihr dabei in die Augen zu sehen. Er begann mit den Sekunden des Absturzes, ging weiter zu den Stunden unter den Messern der Chirurgen und zu dem Bangen um das Ergebnis der Operation mit der schließlich (damals) niederschmetternden Nachricht, mit der er längst zu leben gelernt hatte. Ein Leben ohne eigene Kinder und mit einer Sexualität, die auf Knopfdruck funktionierte und doch nichts anderes war als Erfüllung ohne Bedürfnis, als Wunsch ohne Erfüllung.

Sie hatte ihm schweigend zugehört.

»Und jetzt«, sagte er, »mache ich dir einfach noch mal einen altmodischen Heiratsantrag. Und wenn du nein sagst, dann nehme ich dich mit nach Hamburg und kümmere mich um dich, wie ich es für einen Freund auch tun würde.«

Sie lächelte, legte ihm ihren Finger auf die Lippen. »Ich bleibe bei dir. Fahr los. Und nach ein paar Kilometern werde ich dich bitten anzuhalten, damit ich dir ein Geständnis machen kann. Ich muß mir noch die richtigen Worte überlegen.«

»Ist das ein vorläufiges Ja?«

Sie nickte.

Er startete den Wagen und wendete auf der Straße.

»Was machst du?«

»Unter diesen Umständen fahre ich zurück.«

»Ich habe doch ja gesagt.«

»Ja. Und ich muß jetzt ein Versprechen halten. Keine Angst.«

Er fuhr in den Ort hinein, und Katharina rutschte tief in den Sitz. »Du bist verrückt.«

Auf der Straße war noch immer niemand zu sehen. Das Dorf wirkte wie ausgestorben. Selbst die Gastwirtschaft schien geschlossen. Er parkte an der Seite des Pfarrhauses. »Warte. Oder willst du mitkommen?«

»Nein, nein.« Sie drückte sich tief in die Polster. »Ich will niemanden mehr sehen.«

Er stieg aus, ging zum Eingang des Brunnens. Er schob den Riegel zur Seite und öffnete die schwere Metalltür. Er stieg die Treppen hinunter bis zur Plattform. Er betrachtete die Hebel der Maschine und überlegte, wie die einfache Melodie gewesen war, die seine Mutter ihn als kleinen Jungen auf dem Klavier gelehrt hatte. Er hatte sie nicht vergessen, nur an den Text erinnerte er sich nicht mehr. Er begann die Hebel zu ziehen, doch schon der zweite Ton mischte sich mit dem ersten, brachte weitere Bleche zum Klingen. Ein ohrenbetäubender Lärm entstand, der an- und abschwoll, als wäre ein Sturm entfesselt, der ständig seine Richtung wechselte, als würden Wellen gegen den Fels branden, wieder und wieder, und die Küste in weiße Gischt hüllen, in Nebel und knatternde Segel. Und in den Aufruhr der Gewalten mischten sich die klagenden Schreie erwachter Ungeheuer. Die Erde bebte.

Es nahm kein Ende, selbst als er die Hebel nicht mehr bediente.

Er stieg wieder hoch ans Licht, war geblendet, beschattete die Augen mit der Hand und sah die schweigende Mauer der Dorfbewohner, bewaffnet mit Knüppeln, Harken und Forken.

Jakob stand ihnen gegenüber, und plötzlich wußte er, wie der Text zu der Melodie gelautet hatte. Es war ein deutsches Lied gewesen:

Den Bauern gehört die Erde,
Den Piraten gehören die Meere,
Den Räubern gehören die Wälder,
Dem Kaufmann gehören die Gelder.

Noch immer lag »Gottes Stimme« mit einem Sirren in der Luft, das höher und höher wurde. Die Bauern standen still, als warteten sie auf den letzten hörbaren Ton. Er verklang und die Menge setzte sich in Bewegung. Langsam wandten sich die Dorfbewohner ab und gingen. Jeder für sich.