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Der Förster trank niemals soviel, daß er nicht bei klarem Verstand blieb.
»Ein schwankender Baum reißt andere mit; ein aufrechter Wuchs gibt anderen Raum«, sagte er halblaut, um eine Kostprobe seines klaren Verstandes zu geben. Zufrieden mit dem Abend verließ er das Gutshaus. Die Pappelallee lag im schwachen Licht eines dünnen Mondes. Jan hatte sich wieder einmal als würdiger Nachfolger seines Vaters erwiesen. Nicht nur bei allen Fragen, die das Dorf betrafen, auch bei familiären Angelegenheiten holte er den Rat seiner drei Freunde ein. Mochte der Bürgermeister Reden schwingen, regiert wurde vom Gutshaus aus; und Johann Franke war einer der Minister. Seine Loyalität Jan gegenüber lag nicht in der äußerst großzügigen monatlichen Spende begründet, sondern in seiner Bewunderung für den umfassenden Intellekt und die Dynamik des jungen Mannes. Dieser Gutsherr wäre wahrhaftig ein wunderbarer Schwiegersohn. Der Förster wußte um die heimliche Liebe seiner Tochter. Und die beiden waren sich nicht unsympathisch. (Das Kitz reibt seine Decke an starken Bäumen.) Bei manchem Dorffest hatten sie miteinander gescherzt und getanzt, so daß man durchaus mehr als Freundschaft vermuten durfte. Immer wenn er im Gutshaus gewesen war, brachte der Förster Jans Grüße für die Tochter mit nach Hause. Die Zeit würde kommen, daß auch dieser van Grunten sich nicht mehr im Wind wiegte. Einmal, nach einem der Hundezüchtertreffen, hatte er den jungen Gutsherrn in Berlin gesehen. Der Durst hatte ihn nachts in eine Gaststätte getrieben. (Wo kein Wasser, wächst auch nichts.) Kaum hatte er sich gesetzt, bemerkte er, daß es sich um ein zweifelhaftes Etablissement handelte. (Wo Wasser ist, wächst auch Unkraut.) Doch schon stand der Kellner neben ihm, und im selben Augenblick entdeckte er Jan und einen etwa gleichaltrigen Mann – in Begleitung von zwei Damen, für deren Gesellschaft allem Anschein nach bezahlt worden war, denn sie gaben sich frivol, mit fast nackten Brüsten. Obszöne Gesten begleiteten ihr Gespräch. Es gelang dem Förster, unbemerkt zu bleiben und das Lokal bald darauf zu verlassen. Er verurteilte das Verhalten Jans nicht. (Ein junger Baum kann sich nach allen Seiten biegen, ohne Schaden zu nehmen.) Die Zeit arbeitete für ein braves Mädchen wie seine Tochter Claudia. Ihre achtundzwanzig Jahre sah man ihr nicht an. (Was lange im Schatten steht, blüht um so besser.) Das Blut ihrer Mutter hatte ihre Seele nicht verdorben. Ihre Mutter ... Er versuchte den düsteren Gedanken zu verscheuchen ... Sie war tot. Und trotz des elenden Anlasses ihres Sterbens und der Umstände seines letzten Blickes auf sie, unter der Aufsicht eines Gerichtsmediziners, war ihm ihr Gesicht sehr schön erschienen. So augenlos. Wie eine Pflanze. Aber ausgerissen mit den Wurzeln. Tot, ermordet! Vertrocknet. Kein Wasser mehr.
Von einem Unbekannten überfallen. Er hatte es nicht fassen können. Ein dummer Streit. Verdammte Eifersucht. Warum mußte sie so schön sein, daß ihm nichts anderes übrigblieb, als sie auf Schritt und Tritt zu verfolgen. All diese Kerle mit Schaum vor dem Mund. Gib zu, gib zu, daß du dich ihnen hingegeben hast! Verdammt, hätte sie an jenem Abend nicht bleiben, sich still in die Küche setzen können, bis sein Zorn, der doch gar nicht ihr galt, sondern allen, die sie anschauten, verraucht war? Dumme Gans! Wäre es nicht sein Recht gewesen, sie umzubringen? Selbst dafür zog sie einen anderen Mann vor! Aus Enttäuschung verkroch er sich. Weit weg von den Menschen, die erst begriffen, was wirkliches Leid war, wenn mit ihnen genauso brutal verfahren wurde. Doch heute fanden Leidtragende, was er damals schmerzlich vermißt hatte: Trost! Was er damals erwartet hatte, Briefe von Menschen, die mitlitten und Mut machten, das verschickte er jetzt selbst, sooft er konnte. Denn der Wald war ihm ein wahrer Freund geworden, hatte ihm gezeigt, wie man das Leben der Menschen sehen mußte, wie die Beobachtung der Natur Trost spenden und Kraft geben konnte. Das war es, was der Förster an die Menschen in den großen Städten weitergeben mußte. Und er tat es ohne Aufsehen um seine Person. Was blieb ihm anderes übrig.
Johann Franke straffte sich, zog die hochgeschlossene grüne Jacke unter dem leichten Lodenmantel glatt, begann kräftig auszuschreiten. Wie ein Atem kam die warme Luft vom Heidberg, und er roch den gesunden Schlaf des Forstes. Der Wald würde ihn niemals verraten.
Er hatte das Ende der Pappelallee erreicht. An der Toreinfahrt lag Trivial, wartete wohl auf seinen Herrn, der sich bei den Treffen im Gutshaus immer als letzter verabschiedete. Der Hund hob schnüffelnd den Kopf, stand auf und streckte sich.
»Hau ab!« zischte der Förster. Er sah die von den Laternen beleuchtete Dorfstraße entlang. Die Fenster der Häuser waren dunkel, nur in der Wirtsstube und in einem Gästezimmer darüber brannte noch Licht. Der Student! Er würde ihn einer peinlichen Befragung unterziehen.
Johann Franke drehte sich um in Richtung Forsthaus.
»Geh zurück!« befahl er Trivial, der ihm folgte.
Nach ein paar Schritten sah er rechts über den alten Häusern das Licht, das nachts niemals erlosch: kräftige Scheinwerfer, die den Säuleneingang des Weberschen Bungalows in seiner fremdartigen monumentalen Häßlichkeit taghell erstrahlen ließen. Aus der Sicht des Försters besaß der Wurstfabrikant alles und zugleich nichts. Ein Mensch, der sich wie ein Räuber schöne Dinge nahm, sich ihrer bediente, ohne ihre innersten Geheimnisse, ihre wirkliche Schönheit zu erkennen.
»Verdammter Mistköter, verschwinde!«
Johann Franke bedauerte Wilhelm Weber und begriff nicht, warum seine Tochter ihn verteidigte. Weber sieht nur Holz, pflegte er seiner Tochter zu sagen, wo andere Bäume sehen.
»Gehst du zurück!« Er trat mit dem Stiefel nach dem Hund. Trivial wich geschickt aus.
Der Förster hatte die letzte gußeiserne Laterne der Dorfstraße hinter sich gelassen und sah die Lampe vor dem Forsthaus durch die Fliederbüsche blitzen. Er überquerte die Straße und bog in den Sandweg ein.
»Elender Köter!«
Der Weg stieg leicht an und führte am Forsthaus vorbei bis zu einem kleinen Bauernhof.
»Haust du ab!«
Das Haus lag im Schatten der hohen alten Kiefern und Fichten des Waldrandes. Das Erdgeschoß war aus roten Ziegeln gemauert, doch darüber erhob sich ein hölzernes Stockwerk, das mit kleinen grünen Holzschindeln verkleidet war. Wütend riß der Förster eine lockere Latte aus dem Zaun und drehte sich damit schlagbereit um. Doch Trivial war verschwunden.
Johann Franke ging um das Haus zu seinen eigenen Hunden. Sie blieben ruhig, als er sich dem Zwinger näherte. Sie kannten seinen Schritt oder hatten durch den leichten Wind längst seine Witterung aufgenommen. Sie drängten sich schwanzwedelnd und schnüffelnd an die Gitter und versuchten seine Hände zu lecken. Er sprach ihnen beruhigend zu, nannte ihre Namen. Er sah, daß Claudia die Tiere gut versorgt hatte, und ging zum Hauseingang. Wie immer hatte seine Tochter auf ihn gewartet und sich mit einem Buch so gesetzt, daß sie den Eingang durch die Tür des Wohnzimmers im Blick hatte. Sie lächelte ihn an, nahm Jans Grüße entgegen.
»Er wird wohl so schnell nicht wieder nach Berlin fahren«, berichtete ihr Vater. »Er sagte, ihr könntet ja wie früher gelegentlich zusammen ausreiten.«
»Hat er es wirklich gesagt?«
Der Förster nickte. Sie sah ihm zweifelnd in die Augen. »Vater? Du hast vom Reiten gesprochen, nicht wahr?«
Er schwieg, zog seinen Mantel aus und knöpfte seine Jacke auf.
»Vater, ich mag es nicht, wenn du so etwas tust.«
»Du liebst ihn doch?«
Sie schlug die Augen nieder. »Ja, das weißt du.«
»Darf mir das Glück meiner Tochter nicht am Herzen liegen?«
Sie umschlang ihn mit beiden Armen. »Du weißt, was mich wirklich glücklich machen würde. Vielleicht sollte ich für dich auf Brautschau gehen.«
»Einem alten Baum pflanzt man nichts in den Schatten, da gedeiht nichts.«
Sie entdeckte das Gesicht des Hundes an der dunklen Fensterscheibe. »Trivial.«
»Und doch ist es wahr.«
»Ich meine den Hund.« Sie ließ ihn los, begleitete ihn durch das mit Geweihen und kleinen ausgestopften Jagdtrophäen geschmückte Wohnzimmer bis zu seinem Sessel am Kamin, auf den ein mächtiger Eberkopf herabschaute. Der bittere Keim des Mißverständnisses folgte ihnen.
»Mit fünfzig ist man nicht alt.«
»Ach, Claudia, ich habe die große Liebe meines Lebens schon gehabt. Jetzt laß mir den Wald und meine Hunde als Partner. Beide brauchen mich, und ich brauche sie. Das ist mehr, als manch anderer sagen kann.«
Er setzte sich stöhnend. Sie hockte sich zu seinen Füßen und legte ihren Kopf auf seine Knie.
»Und ich? Ich zähle nicht?«
Er strich ihr über das dunkle, kräftige Haar.
»Was wäre ich ohne dich? Erinnerst du dich an die Sage von den ruhelos wandernden Bäumen? Durch dich habe ich meinen Platz gefunden. Nun finde du deinen.«
Sie blickte mißtrauisch zu ihm auf. »Hör auf damit! Du weißt, was ich meine.«
»Natürlich, und du reitest mit ihm aus.«
»Er liebt mich nicht.«
»Du liebst ihn. Alles andere wird kommen. Denn er kennt dich nicht – nicht wie ich dich kenne.«
»Versprich mir, zu keiner Hundeausstellung mehr zu fahren.«
»Versprich du mir, mit ihm auszureiten.«
Sie nickte heftig, legte ihren Kopf wieder auf seine Knie. Einen Augenblick war nichts zu hören als das Ticken der großen alten Standuhr. Draußen schlug ein Hund an, verstummte aber gleich wieder. Vielleicht ist ihm die Kehle durchgebissen worden, dachte sie. Die beiden Besuche fielen ihr ein. Doch von Sabine Weber konnte sie kaum erzählen.
»Ein Fremder war hier«, sagte sie. »Du warst kaum gegangen, da kam er. Jakob Finn, ein Student. Er sagte, du kennst ihn.«
Der Förster nickte. »Du hast ihn reingelassen.«
»Ja. Er zeigte mir seine weiße Pfote und erzählte mir sein ganzes Leben. Er ist nett.«
Der Förster runzelte die Stirn. »Es kann sein, daß ich mich täusche, aber vielleicht stimmt nichts von dem, was er dir gesagt hat.«
Erschrocken hob sie den Kopf und blickte ihren Vater an. »Was ist mit ihm?«
»Ich bin mir noch nicht sicher, was er wirklich will.«
»Er war offen und lustig. Warum sollte er lügen? Er erzählte mir von seiner Arbeit und sagte, er hoffe auf die Zusammenarbeit mit dir.«
»Ich weiß es nicht, aber wir sollten vorsichtig sein. Hat er dich noch nach irgend etwas anderem gefragt?«
»Er interessierte sich für die van Gruntens.«
»Aha. Nun, du wirst ihm kaum etwas sagen können, was nicht allgemein bekannt ist.«
»Vater, was ist? Was gibt es für ein Geheimnis?«
»Er muß nicht der sein, für den er sich ausgibt. Aber noch ist alles eine vage Vermutung, nichts, was man herumtragen und aussäen könnte. Geduld, mein Kind.«
Der Förster stützte sich auf die Sessellehnen und kam hoch. »Verzeih mir, aber ich geh zu Bett. Die Forstarbeiter sind früh bestellt.«
Sie gab ihm einen Kuß auf die bärtige Wange und ließ ihn gehen. Er stieg die Treppe hinauf, sie griff zum Buch, las aber nicht, sondern lauschte auf die Geräusche ihres Vaters. Nach einer Weile stand sie auf, schlich die Treppe hinauf und legte das Ohr an die Zimmertür ihres Vaters: Zufrieden ging sie auf Zehenspitzen zurück, löschte das Licht im Haus und zog eine Jacke über. Geräuschlos öffnete sie die Haustür und schloß sie hinter sich. Sie sprang über den Sandweg, kletterte über ein Gatter und lief querfeldein. Atemlos erreichte sie die dunkle Seite des Bungalows und klopfte an eine der großen unbeleuchteten Scheiben. Die Glastür wurde aufgeschoben, und kräftige Arme umfingen das Mädchen, dessen Busen sich vom schnellen Atem hob.
»Ich bin gelaufen.«
»Hat er noch so lange seine Briefe geschrieben?«
»Nein, er ist so spät gekommen. Er war bei Jan.«
»Ach ja, diese langweiligen Abende im Gutshaus.«
Sie schmiegte sich an ihn.
»Mein kleines Reh.« Seine Hände strichen über ihre Schultern, wanderten den schlanken Hals hinauf und umfingen ihren Kopf. Er küßte sie.
»Den ganzen Tag stand mir dein zuckender weißer Leib vor Augen. Komm.«
Er führte sie durch den dunklen Raum. Auch im Flur und in allen anderen Räumen waren die Lichter gelöscht. Nur im Kraftraum beleuchtete eine kleine Lampe ein elektronisches Schaltgerät. Hastig zogen sie sich aus. Sie legte sich auf eine der lederbezogenen Trainingsbänke. Er kniete vor ihr nieder und schloß die Elektroden an ihren Füßen an.