17

Rudolf Pedus stand unbeweglich im Flur des Pfarrhauses und überlegte, welches Werkzeug ihm heute morgen gefehlt hatte. Er hatte sich vorgenommen, es nachmittags aus dem Haus mit in den Brunnen zu nehmen. Es fiel ihm nicht mehr ein. Es herrschte ein Augenblick vollkommener Stille. Selbst von draußen, vom Dorf kam kein Laut. Er lauschte. Er hatte ein leises Rufen gehört. Das Geräusch seines Atems? Ein himmlisches Wesen? Es wiederholte sich und alarmierte ihn.

»Inge?« Seine Frau schlief für gewöhnlich um diese Zeit. Alles blieb ruhig, nur ein Kratzen kam von der verschlossenen Eingangstür. Er öffnete sie, und Trivial stürzte mit einem Satz ins Haus, stürmte, ohne ihn zu beachten, vorbei und hastete die Treppe hinauf. Im ersten Stock stieß er ein kurzes Jaulen aus.

Der Pastor folgte so schnell wie möglich und fand seine Frau ohnmächtig auf dem Boden vor der Schlafzimmertür. Der Hund lag neben ihr und leckte ihre Hand. Rudolf Pedus griff ihr unter die Schulter, hob ihren Oberkörper an, und sie öffnete die Augen.

»Es geht schon wieder«, sagte sie. »Es war nur ...«

»Du sollst dich doch schonen.«

»Es waren die Klöße.«

Er hob die Frau hoch, stieß die Schlafzimmertür mit dem Fuß auf und trug sie auf das Bett.

»Es ist die Krankheit und waren nicht die Klöße.« Er forschte einen Augenblick irritiert diesem Satz nach. War es ein Zitat?

Er strich seiner Frau über die Stirn. Kalter Schweiß. Als sie vor zwei Jahren die schreckliche Diagnose erfahren hatten, da gab es für sie keinen Zweifel: Den Möglichkeiten der modernen Medizin wollte sie sich nicht ausliefern. Die Chance einer Heilung war so gering, daß sie es vorzog, in Ruhe zu sterben. Man hatte ihr drei Monate gegeben, dann noch einmal drei. Das erste Jahr war vergangen, und die Ärzte standen wieder vor ihrem Bett. »Noch drei Wochen!« hatte der Arzt aus Weinstein geflüstert. »Drei Monate«, hatte Doktor Andree sie beruhigt. Nun waren es schon zwei Jahre. Zwar wurden die Schmerzmittel stärker, die Dosis höher, doch sie konnte sich noch immer selbständig bewegen und den kleinen Haushalt führen. Die meiste Zeit aber verbrachte sie auf ihrer Lieblingsbank hinter der Kirche, den Blick auf den Heidberg genießend und eine Decke über den Knien. Sie wußte, daß man dies von einer Sterbenden erwartete. Die Krankheit sah man ihr kaum an. Aber Rudolf Pedus fand, sie sei schöner geworden. Sie übte an ihrem Ausdruck, versuchte ihrem Gesicht ein überirdisches Strahlen zu verleihen und zeigte selten den Schmerz, den sie trotz der Arzneien ab und zu fühlte. Ihre Liebe galt allen Fernsehserien und -filmen, in denen Sterbende im Mittelpunkt standen.

»Ich hole Doktor Andree.«

Sie hielt ihn fest. »Nein.«

Wenn es schlimmer werden sollte, stand Bernhard Andree mit Morphiumspritzen bereit. Er hatte Inge Pedus unterstützt, sich keiner Krebstherapie zu unterziehen. Sie mochte ihn trotzdem nicht.

»Inge!«

Die Frau des Pastors lächelte, hob ihre Hand und strich ihrem Mann die Haare aus dem Gesicht. »Ich danke dir. Bitte hol mir nur die Medizin aus der Küche und etwas Wasser.«

Er nickte. Trivial hatte sich neben das Bett gesetzt und – wie es sich gehört – seine Schnauze der Kranken über die Bettdecke hinweg zugestreckt.

»Paß auf sie auf«, sagte der Pastor und stieg die Treppe hinunter. Er versuchte zu weinen, doch es gelang ihm nicht. Er ärgerte sich darüber. Mit Tränen in den Augen, aber mit einem fröhlichen Gesicht machte man Kranken Hoffnung auf das Jenseits. Er glaubte fest daran. Seine Frau zweifelte. Schon damals, als er ihr auf der Universität begegnet war, hatte sie ab und zu mit Ironie auf seine christliche Überzeugung reagiert:

»Ach, Gott?«

Es hatte ihn herausgefordert. Und deshalb waren sie sich nähergekommen. Wie viele Abende, Nächte, Tage hatten sie nicht diskutiert? Nie war sie ganz überzeugt gewesen. Nur die Notwendigkeit des Glaubens hatte sie eingesehen.

»Fürs einfache Volk.«

Er hatte ihr Arroganz vorgeworfen und sie trotzdem oder gerade deshalb geheiratet. Sie war sein Widerpart, holte ihn lachend zurück auf die Erde und führte ihn in Versuchung. Sie war es, die seinen Glauben so erdverbunden wachsen ließ, weil sie nichts von Gott erwartete. Gottes Hilfe sah sie als mögliche Belohnung an, nachdem man selbst bereits alle Anstrengungen unternommen hatte und gar keine Hilfe mehr benötigte.

Wie entsetzlich war es nun für ihn, diesen kleinen Teufel, diese tatkräftige Frau zu verlieren. Wenn er jemals einen Grund gehabt hätte, an seinem Gott zu zweifeln, dann jetzt. Doch gerade jetzt durfte er vor seiner Frau kein Schwanken zeigen.

In der Küche stützte er sich auf die Fensterbank. Noch immer keine Tränen. Et sah hinüber zu dem Bauernhof, der direkt neben der Kirche lag. Er ballte die Hand und drohte hinüber. Noch nie hatte sich einer aus der Familie bei ihm blicken lassen. Es waren angeblich die Faulsten des Dorfes und dabei keineswegs die Ärmsten. Aber sie gehörten zu denen, die sich am hartnäckigsten seinen Missionsversuchen widersetzten. Sicher, die Kirche war voll am Sonntag, voller als anderswo, aber was waren das für Christen?

Inge hatte ihn nach ihrer Heirat gedrängt, nach Herzensach zu gehen. Hier, hatte sie beim ersten Besuch gesagt, wohnen lauter Heiden. Du wirst sie bekehren müssen, oder sie bringen dich um!

Er wußte nicht, ob er die Dörfler wirklich bekehrt hatte, aber sie hatten ihn nicht umgebracht. Es waren seltsame Menschen, sie arbeiteten wenig, und manchmal schien es ihm, als kämen sie nur zur Kirche, um sich zu treffen und dabei geheime Zeichen eines teuflischen Bundes auszutauschen. Warum standen sie noch so lange nach dem Gottesdienst vor der Kirche, erzählten sich in knappen, rauhen Worten Geschichten, die immer mit einem bösen Lachen endeten? Obwohl sie zu ihm kamen, seinen Rat suchten, hatte er es schwergehabt, ihr Vertrauen zu erwerben. Richtig sicher konnte er sich dessen nicht sein. Er blieb ein Fremder unter ihnen.

Er löste sich von der Fensterbank, nahm die eckige braune Flasche mit dem Schmerzmittel, ein Glas Mineralwasser und brachte beides langsam nach oben.

Er erinnerte sich, wie ihn der einäugige Bischof Lenz kopfschüttelnd angesehen hatte. Sie mochten sich beide, der junge Pastor (noch glühend) und der alte einäugige Glaubensmann. Pedus hätte es ausnutzen können, um eine bessere Stelle zu bekommen. Doch er hatte nur den einen Wunsch geäußert. Lenz hatte bei der Erwähnung des Namens Herzensach überrascht seine Hand gehoben und an der schwarzen Augenklappe gezupft. Erst lange nach dem Tod des Bischofs, Pedus war schon fast zehn Jahre in Herzensach, verstand er plötzlich diese Geste. In der Zeitung war er auf einen Artikel gestoßen, der das Verhalten des Bischofs erklärte. Der ›Weinsteiner Bote‹ druckte einmal wöchentlich die Rubrik »Unsere Heimat«. In einem verschnörkelt gerahmten Kasten wurden historische Ereignisse oder Anekdoten aus dem Weinsteiner Gebiet erzählt, die in der Regel den Namen eines Geländes, Weges oder Berges erklärten. Die Rubrik war an diesem Tage mit »Das Auge des Bischofs« überschrieben. Rudolf Pedus las mit wachsendem Erstaunen, daß der kleine Teich neben dem Lichter Moor im Volksmund diesen Namen trug, obwohl er auf Landkarten überhaupt nicht bezeichnet oder gar nicht abgebildet war. Noch größer war die Überraschung des Pastors, als er erfuhr, von welchem Bischof die Rede war: »... Es ist heute nicht mehr bekannt, warum Bischof Walter Lenz Herzensach besuchte und welche Probleme er mit seinem Pfarrer Gregor Westerwelle zu besprechen hatte, doch ihr Weg führte sie hinunter zum großen See des Lichter Moores und von dort zu einem kleinen Teich. Hier müssen sie sich, vermutlich in ein Gespräch vertieft, niedergelassen haben. Der Angler am Rande des Teiches hatte sie vermutlich nicht bemerkt. Sein Name ist zwar bekannt, soll hier aber nicht genannt werden, weil alles ein unglücklicher Zufall war. Der Angler holte mit seinem Gerät zum Schwung aus, die dünne Angelleine fuhr durch die Luft, und der kleine Widerhaken verfing sich im Auge des Bischofs ...

Rudolf Pedus hatte den Artikel ausgeschnitten und lange mit sich gekämpft, ob er der Sache weiter nachgehen sollte. Schließlich stand er aber im Archiv des ›Weinsteiner Boten‹ über die großen Sammelordner gebeugt und wurde fündig: Otto Timber, der Vater des heutigen Tischlers, war der Übeltäter gewesen. Er beteuerte seine Ahnungslosigkeit und seine Unschuld in dem Artikel, der kurz nach Verlust des Auges veröffentlicht worden war.

Zweifellos hatte ihm der Bischof nichts von diesem Vorfall erzählt, damit Pedus unvoreingenommen sein Amt antrat. Recht hatte der einäugige Lenz getan, denn hätte der Pfarrer von diesem Unglück gewußt, wer weiß, ob die Entscheidung wirklich für Herzensach ausgefallen wäre, denn schon der tödliche Unfall seines Vorgängers Gregor Westerwelle war kein Willkommensgruß: Die ganze Gemeinde hatte zugesehen, wie der alte Pfarrer nach einer Predigt die Kanzeltreppe hinunterstürzte und sich das Genick brach.

Rudolf Pedus fand es seltsam, daß ihm keiner der Dorfbewohner vom Auge des Bischofs erzählt hatte, doch seine Frau überzeugte ihn davon, daß wohl alle Gemeindemitglieder angenommen hätten, er wisse von diesem Ereignis, so wie er auch vom Unfall (Unfall?) seines Vorgängers wußte.

Seine Frau lag mit kraftlos herabhängenden Armen im Bett. Er richtete sie auf und gab ihr das Glas mit dem Wasser zu halten.

»Wieviel Tropfen?« fragte er beim Öffnen der Medizinflasche.

»Achtzehn«, flüsterte sie, dann: »Zwanzig.« Schließlich noch leiser: »Vierundzwanzig.«

Er wußte, das war die maximale Menge und so viel, daß sie unter den zahlreichen Nebenwirkungen leiden mußte. Er zählte die Tropfen ins Mineralwasser hinein, und sie trank zügig. Danach war sie atemlos und hielt seine Hand fest.

Nach einer Weile sagte sie: »Du mußt etwas tun. Sie werden ihn umbringen.«

Er hob die Brauen.

»Den Fremden, den Studenten.«

»Ich bitte dich, Inge.«

»Du weißt es! Seit zwanzig Jahren weigerst du dich, die Wahrheit zu sehen.«

Er löste ihre Hand von seiner, strich ihr über die Stirn. Sie hatte kein Fieber.

»Es ist gut«, sagte er. Fieber oder nicht!

Sie versuchte sich aufzurichten. »Du weigerst dich, deine täglichen Ahnungen zur Gewißheit werden zu lassen. Dabei haben sie es bei dir doch auch versucht ...«

Sie verstummte stöhnend. Natürlich war er außergewöhnlich vielen Unfällen ausgesetzt gewesen. Doch keiner davon war ein Mordversuch gewesen (oder doch?), wie ihm seine Frau ständig zu beweisen suchte. Er konnte es nicht zugeben, aber seine Sicherheit führte er auch noch auf seine Herkunft zurück. Doch darüber zu diskutieren war ihm unangenehm. Ein Aberglaube.

»Rudolf, ich bitte dich«, sie nahm noch einmal alle Kraft zusammen. »Sag Wilhelm Weber, Bernhard Andree, Förster Franke Bescheid und auch Petra, auch sie ist nicht von hier. Ihr wißt doch, was hier los ist. Ihr seid die Zugereisten. Ihr könnt etwas tun! Ihr müßt es verhindern.«

Sie sank in die Kissen zurück und schloß die Augen. Der Hund erhob sich, schaffte es, ihre Hand mit seiner Schnauze anzustupsen. Sie sah ihn an.

»Ja, ich weiß.« Sie strich ihm über den Kopf. Dann blickte sie wieder zu ihrem Mann. »Er weiß es auch, und ich habe Trivial gesagt, er soll auf den Fremden aufpassen. Aber Trivial ist alt, und so ein Hund ist schnell mal abgelenkt.«

Der Hund schnaufte und runzelte die Stirn.

»Alles wird gut«, sagte der Pfarrer lächelnd. »Du mußt dir keine Sorgen machen.« (Doch Fieber!)

»Ich mach mir Sorgen, auch um dich. Wenn du doch nur sehen könntest, was ich sehe.«

»Ich werde aufpassen.«

»Versprichst du mir das?«

Er nickte. Sie schloß die Augen. Der Pastor streichelte ihre Hände. Der Schmerz verließ ihren Körper, und der Schlaf kam. Trivial runzelte noch immer die Stirn.