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»Der Wald«, sagte Förster Johann Franke, »lehrt uns, jeden Augenblick so zu nehmen, wie er gegeben. Der Wald ist den Menschen das große Gleichnis. Für jedes unserer Probleme weist er auf eine Lösung. Aber es bedarf wohl erst eigener leidvoller Erfahrung und eines daraus resultierenden Rückzugs in die Einsamkeit der Natur, um solche Erkenntnisse zu haben.«

Jakob Finn betrachtete den Förster von der Seite, während der den Blick nicht von der Straße nahm, und glaubte, ein ironisches Blitzen in dessen Augen wahrzunehmen. (Es war aber sicher Einbildung.)

Zufällig war Johann Franke an der Gastwirtschaft vorbeigekommen und hatte sich angeboten, Jakob Finn in dem offenen Geländewagen mitzunehmen, damit der Student sein Gepäck aus seinem Auto holen konnte. Der etwa Fünfzigjährige war ein Förster wie aus dem Bilderbuch – mit einem silbergrauen und sorgfältig gestutzten Schnauz- und Kinnbart, zahllosen Fältchen um die strahlend blauen Augen und einem grünen Hut, in dessen Band bunte Federn steckten. (Die Ähnlichkeit mit der Beschreibung einer gewissen Vogelart ist rein zufällig.)

»Wenn Sie Zeit und Lust haben, fahren wir auf dem Rückweg über den Heidberg, und ich zeige Ihnen, was ich meine. Ich nehme es Ihnen nicht übel, wenn Sie es für die spinnerten Gedanken eines alten Mannes halten, der zuviel allein ist.«

Jakob war es angenehm, dem Mann zuzuhören. Auf geheimnisvolle Weise nahm er ihm das Denken ab.

»Der Mensch ist ein Teil der Natur.« Er wollte dem Förster gefallen und erklärte ihm, daß er auf der Suche nach einem geeigneten Mischwald für seine Doktorarbeit sei. Johann Franke hob die Augenbrauen, und der Student mußte sich eine Reihe detaillierter Fachfragen gefallen lassen. Er bestand die Prüfung.

Sie erreichten die Unfallstelle. Jakob stieg aus, um sein Gepäck zu holen. Als er zurückkam und den Koffer auf die hintere Sitzbank hievte, konnte sich der Förster eine Anspielung auf den teuren Wagen nicht verkneifen.

»Man lebt heute gut als Student?«

Jakob Finn lächelte. »Leider ist mit meinem Wohlstand eine traurige Geschichte verbunden. Meine Eltern sind tot, und ich bekomme aus ihrem Vermögen, solange ich studiere, monatlich eine stattliche Summe. Zweifellos zuviel Geld für einen Studenten. Ich studiere deshalb auch schon länger als notwendig. Das Vermögen selbst wird mir nämlich, so haben meine Eltern es bestimmt, erst nach meiner Heirat übertragen. Es heißt ja, daß der Mensch erst dann vernünftig wird.« Er lachte. »Das dürfte Ihnen gefallen.«

Ein Anflug von Trauer zeichnete sich im wettergebräunten Gesicht des Försters ab, doch gleich darauf lächelte er wieder und reagierte wie erwartet: »Es ist das Beispiel des Waldes. Der Baum, der fällt, vergeht nicht, ohne uns als Balken zur Tragfähigkeit unseres Hauses, unserer Zukunft zu dienen.«

Der Student unterdrückte ein Grinsen und verstaute seine Reisetasche neben dem Koffer.

»Doch kein Baum fällt, ohne gehalten zu werden. Bäume weichen im Gegensatz zu Menschen nicht aus. Holz ist härter als Blut. Fleisch brennt ohne Flammen. Und eine Träne aus Harz weiß man nach Jahrtausenden noch zu schätzen.«

Jakob hatte Schwierigkeiten, den Gedanken des Försters zu folgen. Er kletterte auf den Beifahrersitz. Johann Franke gab keine Erklärung ab, sondern wendete schweigend.

Sie bogen von der Straße in einen Feldweg ein, der bald anstieg und in einen lichten Laubwald führte. Wie der Förster erklärte, war es jener Teil des Forstes, der noch zum Gut gehörte und den die van Gruntens jeden Herbst als Jagdrevier nutzten. 1912 hatte Hubertus van Grunten hier seinen zweiten Sohn Carl erschossen und Mühe gehabt, das Ereignis als Jagdunfall hinzustellen. Carl, damals acht Jahre alt, mit einem verkrümmten Rückgrat zur Welt gekommen und leicht schwachsinnig, von seinem Vater auch »Krüppel« gerufen, war in den Augen der Öffentlichkeit kein glaubwürdiger Jagdbegleiter gewesen. Der ›Weinsteiner Bote‹, damals noch eigenständige Zeitung und nicht wie heute nur zweiseitiger Regionalteil, schrieb: »... so wird der van Gruntensche Forst sein blutiges Geheimnis nicht preisgeben, dessen Ursache vielleicht in einem sich ungewollt lösenden Schusse oder im ungezähmten Willen seines Besitzers zu suchen ist. «

Der mutige Schreiber dieser Zeilen wurde bald darauf seines Postens enthoben, was einerseits die damalige Macht der van Gruntens bewies – und wohl noch ein bißchen mehr.

Der Förster hielt vor der dreihundertjährigen Eiche, die alles mit angesehen hatte, und betrachtete stumm deren starke Wurzeln. Jakob befürchtete schon, er wolle die Patronenhülse von 1912 suchen.

»Selbst unser verrückter Pastor Pedus«, sagte Johann Franke langsam, »wird mir nicht widersprechen, wenn ich behaupte, daß Gott wohl eher unter unseren Füßen als über unseren Köpfen zu finden ist.«

Er fuhr wieder an, und sie erreichten in rascher Fahrt die Grenze des Staatsforstes. Der Wald wurde kräftiger, und der Weg verdichtete sich zu einem für die Strahlen der Abendsonne beinahe undurchdringlichen Hohlweg. Immer mehr Nadelbäume mischten sich in den Laubwald, ließen Raum für gras- und moosweiche Lichtungen, dann wieder standen sie so niedrig und dicht, daß ihre Zweige sich ineinander verfilzten, und strömten einen so intensiv harzigen Duft aus, wie ihn der Student noch nie wahrgenommen hatte.

Ein Fuchs kreuzte ihren Weg, Eichhörnchen sprangen in der Höhe von Baum zu Baum. Rehe und Hirsche verharrten still oder flüchteten, und manchmal lief ein Hase dem Wagen ein Stück voraus. Ein Wald, der dem Studenten so vollkommen erschien wie eine Illustration in einem Märchenbuch. In diesem Wald durfte man Fabelwesen vermuten, die sich mit buckligen Hexen stritten, Zauberer mit langen Bärten sammelten geheimnisvolle Kräuter, um damit Trolle zu vergiften, die wiederum zum Spaß den Geist harmloser Wanderer verwirrten. Zu guter Letzt mußte eine Fee alles wieder in Ordnung bringen.

Johann Franke hatte die Geschwindigkeit gesenkt und hielt oft an, um den Studenten auf Besonderheiten des Bewuchses aufmerksam zu machen, auf den Kampf einiger Pflanzen um das Licht oder auf das optimale Miteinander unterschiedlicher Arten. Jedesmal verband er dies mit einem gewöhnlichen Ereignis aus dem Leben eines Menschen.

Die Fähigkeit des Försters, Natur- und Menschenkenntnis miteinander zu verbinden, war bewundernswert. Jakob konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, einen wirklich weisen Mann neben sich zu haben, und brachte das unverhohlen zum Ausdruck. Johann Franke wehrte ab, jeder Mensch könne diese Beobachtungen machen, behauptete er, man müsse ihm nur genug Zeit lassen.

Wieder stieg der Weg an. Die Nadelbäume blieben zurück, überließen den Birken das Revier, schließlich ging der Wald in niedrigere Sträucher über, und sie erreichten die Spitze des Heidbergs. Ein freier, lehmiger und nur teilweise grasbewachsener Platz, von dem aus man über die in der Abendsonne leuchtenden Baumwipfel hinweg in das Herzensacher Tal blicken konnte.

»Wenn der Tod die Hinterlassenen ohne Trost läßt, so wächst dort nichts mehr«, sagte der Förster düster. Doch Jakob Finns Freude konnte er nicht trüben. Er sprang aus dem Wagen. Der Förster stellte den Motor ab und folgte ihm langsam zum Rand des kleinen Plateaus.

Zu ihren Füßen lag Herzensach. Von hier oben sah auch das Dorf aus wie aus einem Bilderbuch. Die Fachwerkhäuser drängten sich schutzsuchend unter großen Eichen zusammen, und der kleine Fluß hielt alles zusammen in seinem Arm. Nur die Kirche hob mahnend ihren Finger, und das große Gutshaus suchte Abstand vom Gemeinen. Ein einziges Gebäude auf dem gegenüberliegenden flachen Hügel, ein moderner weißer Bungalow (oder war es ein Umspannwerk der Elektrizitätsgesellschaft?), störte die Einheit.

Die Freude über den idyllischen Anblick mischte sich mit Jakobs Erregung, in dem vom Heidberg zum Fluß abfallenden Wald genau jene Landschaft gefunden zu haben, die er für seine wissenschaftliche Arbeit benötigte.

Der Himmel färbte sich goldrot, und kleine weiße Wolken formierten sich zu einem Kreis. Sollte sich alles wie in einem Groschenroman fügen, dachte Jakob, und ihm sein Unglück mit dem Wagen letztlich Glück bringen? Dann mußte er in Johann Franke einen väterlichen Freund finden, der sein Projekt unterstützte. Er wandte sich um zur Realität.

Der Förster hatte sich bereits entfernt. (Hinkte er plötzlich? Kam etwas Schwefeldunst aus seinem Haar?) Er drückte die Zweige eines Gebüschs zur Seite, legte einen der verbliebenen sieben Runensteine frei und winkte Jakob heran.

»Die Historiker sind sich nicht sicher, welche Bedeutung dieser Platz gehabt hat. Die Runen sind verwittert, kaum noch sichtbar und zum Teil unbekannter Art. Manche gehen davon aus, daß es ein Versammlungsort war, ein Fixpunkt in dem Chaos, als das die Welt den Menschen damals erschien.«

Er bückte sich, fuhr mit der flachen Hand über die Zeichen auf dem etwa einen Meter hohen Stein. »Andere sprechen von einem Richtplatz. Einem Platz des Todes. Blut wurde gekocht. Man hat Knochen gefunden. Eine Hexenverbrennung soll hier stattgefunden haben, mehrere Duelle. Und nach dem Krieg hat es ein paar Leute gegeben, die hier oben Selbstmord verübten, weil sie mit ihrer Ideologie den Glauben an die Zukunft verloren hatten. Aus heutiger Sicht waren sie übrigens nicht bei Trost.« Der Förster richtete sich wieder auf. »Trost. Ein interessantes Wort, nicht wahr?« Er griff dem Studenten wie einem Kranken unter den Arm und führte ihn zurück.

»Natürlich werden Sie auch noch eine andere Geschichte über diesen Platz hören. Der Germanenführer Hadegurt oder Heidegurt soll diese Steine hier oben errichtet haben. Einen jeden für einen getöteten römischen Hauptmann. Hadegurts Truppen wurden von den Römern geschlagen, sammelten sich hier und erblickten die Herzensach im Tale. Sie wanderten hinunter, um sich zu erfrischen. Das Wasser des Flusses aber flößte ihnen so viel neuen Mut ein, daß sie den Kampf wieder aufnahmen und die römische Legion in einem Hinterhalt vollkommen aufrieben. Sie finden dieses Ereignis auch in dem Büchlein des Pastors über Herzensach beschrieben. Haben Sie das Buch noch nicht gesehen?«

Jakob Finn schüttelte den Kopf.

»Ich will nichts gegen meinen Freund, den Pastor, sagen – er hat mich in seiner Kirche schon predigen lassen, was auch nicht unbedingt für ihn spricht.« Der Förster lachte laut und nach dem Geschmack des Studenten etwas zu lange. »Nun, ich habe erheblichen Zweifel an der Echtheit dieser Germanensage.«

(Der Förster hat recht. Der anfangs erwähnte Frankfurter Historiker Michael Leibrandt, der die Geschichte dieser Gegend gründlich erforscht hat, kann sogar die Quelle der Sage benennen: Johann Jacob van Grunten hatte sie 1880 erfunden, um den Absatz seines Herzensacher Heilwassers zu fördern. In seinem berühmt gewordenen Aufsatz Wahrheit und Dichtung um die germanischen Helden, veröffentlicht in ›History and Science‹, Boston 1972, behauptet Leibrandt: »Weniger die bewußten politischen Fälschungen historischer Ereignisse stellen den Wissenschaftler heute vor unlösbare Aufgaben – denn hier sind Ziel und Absicht mittels anderer Quellen immer zu filtrieren – als vielmehr jene Erfindungen, welche privaten oder Reklamezwecken dienten und dienen, um einen Ort oder einem Produkt Ansehen zu verleihen.«)

Jakob nickte. »Das Wandgemälde des Gasthofs zeigt diese Szene.«

»Gasthof?« Der Förster zog verächtlich die Lippen herab. »Dieser verdammte Fliegenwirt brütet nichts als Maden aus.« Johann Franke spuckte aus.

Erschrocken über den plötzlichen Ausbruch offenen Hasses, zuckte der Student zurück. Eine solche Regung hatte er von dem Förster nicht erwartet. Doch Johann Franke hatte sich bereits wieder im Griff. Lachend sagte er: »Vielleicht findet eines Tages jemand den Mut, diese Traum- und Schaumhöhle auszuräuchern. Ich fürchte nur, eher wird man mich erschießen.«

Er wandte sich von dem Blick ins Herzensacher Tal ab und ging zur gegenüberliegenden Seite des Plateaus. Für ihn war das Thema damit offensichtlich erledigt. Jakob Finn wagte nicht, nach der Bedeutung dieser Prophezeiung zu fragen, und vergaß sie bis zu jenem Tag, an dem sich die vom Förster gemachten Anspielungen mit Bedeutung füllen sollten.

Der Förster stützte sich auf einen der Runensteine, betrachtete seine hohen Schnürstiefel, hob den rechten Fuß und schabte mit einem Stöckchen etwas Kot von der Hacke. Jakob Finn nahm die Gelegenheit wahr und brachte seinen Wunsch vor, jenen Waldhang nördlich von Herzensach mit Unterstützung des Försters zum Objekt seiner Doktorarbeit zu machen.

Johann Franke klopfte ihm auf die Schulter. »Willkommen in der Höhle des Löwen. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit. Ich werde Sie nach besten Kräften unterstützen. Und wenn Sie einen Waldarbeiter brauchen, sagen Sie es einfach. Sie bekommen ihn. Aber passen Sie auf, daß er Sie nicht im Wald umbringt.«

Soviel Entgegenkommen hatte Jakob nicht erwartet.

Die Freude des Försters war echt. »Kommen Sie am besten gleich an einem der nächsten Abende zu uns, damit wir alles besprechen können. Meine Tochter Claudia wird sich freuen, Sie kennenzulernen. Und natürlich muß ich Ihnen meine Hunde zeigen.«

Sie gingen zu dem Geländewagen, und Johann Franke erzählte überschwenglich von seinen Schäferhunden, deren Rassenmerkmalen und von seinen Zuchtversuchen. Gleichzeitig aber spöttelte er über das gesamte Zuchtwesen, schließlich sei der deutsche Schäferhund vor rund hundert Jahren regelrecht erfunden worden. Die Begeisterung des Försters und seine gleichzeitige Distanz faszinierten Jakob, denn er kannte diese Fähigkeit als wesentliche Voraussetzung für erfolgreiche Forschungsarbeit.

Auf den Wegen durch den Staatsforst wurde der Förster schweigsam und nahm nur manchmal sein altes Thema vom Wald und den Menschen auf.

Jakob berichtete ihm von seiner Begegnung mit dem Mädchen und dem Hund. Der Förster lachte, und Jakob spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß, als hätte er etwas Verbotenes offenbart.

»Katharina, unser Findelkind«, spottete der Förster, »wäre wohl lieber gar nicht zur Welt gekommen oder wenn schon, dann ein Mann geworden. Ich habe nichts gegen ihre Streifzüge durch den Wald. Sie bewegt sich geschickt. Aber der Hund gefällt mir nicht. Ich weiß, er ist den Dorfbewohnern lieb und teuer – von dieser abergläubischen Bande ist nichts anderes zu erwarten –, aber es ist ein Hund, und er wird seine Natur nicht ablegen. Nun, er ist klug und geht mir nicht nur im Wald aus dem Weg.«

Der Förster schwieg, und Jakob versuchte sich das Bild Katharinas zu vergegenwärtigen.

Sie kamen über die Landstraße von Norden nach Herzensach zurück. Gleich am Dorfeingang zweigte ein Weg ab. Der Förster erklärte, daß er am Waldrand entlang zum Forstamt führe, und bekräftigte seine Einladung. Dann setzte er Jakob vor der Gastwirtschaft ab. Er reichte ihm das Gepäck hinunter und gab Jakob die Hand. »Wir sehen uns.«

Er gab Gas, fuhr an und bremste im selben Moment.

Er hob die Hand und wies über das Haus des Arztes hinweg. Der obere Teil des Gutshauses war dort in der Dämmerung zu sehen. In einem der Fenster wurde Licht gemacht. Johann Franke drehte den Kopf zurück.

»Sehen Sie, um diese Zeit werden die Positionslichter gesetzt.« Sein Lächeln verlor sich. »Vielleicht ist alles, was Menschen tun, auch das Böse, nur der Versuch, ein Ordnungssystem zu entwickeln, in dessen Mittelpunkt sie selber stehen. Sie wollen die Welt auf sich aufmerksam machen und auf sich ausrichten.«

Der letzte Rest von Freundlichkeit war aus dem Blick des Försters verschwunden. Seine Augen waren starr und unbarmherzig wie die eines Raubvogels.