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Der Fliegenpeter schlug triumphierend mit der Klatsche auf die Theke.
»Er ist nicht mehr hier. Ich habe ihn rausgeschmissen, weil ich gleich wußte, daß was nicht mit ihm stimmt.«
Er feuerte eine Reihe von kurzen Schlägen über eine größere Fläche der Theke ab, erwischte auch zwei, bevor sich das Geschwader wieder in der Luft befand. Er schob die beiden bewußtlosen Fliegen mit der Kante der Klatsche zusammen, um sie mit einem weiteren Schlag gemeinsam endgültig zu erledigen, doch als er ausholte, katapultierte sich eine davon in die Luft, flog auf ihn zu, prallte mitten auf sein linkes Auge und fiel von dort herab auf den Fußboden, in den sicheren Raum unterhalb eines Lattenrostes. Der Angriff war kein Zufall. Der hohen Trefferquote entsprach die ausgefeilte Technik der Fliegen, die sie im Kampf mit ihrem Erzfeind entwickelt hatten. Beide Seiten hatten die jahrelangen Auseinandersetzungen genutzt, um mehr Geschick und neue Taktiken zu entwickeln. Peter Wischberg stand kurz vor der Patentierung seiner Fliegenklatsche mit Nachwippfederung. Doch jetzt schwankte er überrascht zurück, hielt sich mit beiden Händen am Gläserschrank fest, blinzelte heftig mit den Augen und rieb sich schließlich das linke Auge mit der Faust. Als er endlich wieder kampfbereit zur Theke vorrückte, war von der zweiten betäubten Fliege nichts mehr zu sehen.
»Und wo ist er hin?« fragte Wilhelm Weber. Langsam verlor er die Geduld mit dem Wirt.
Peter Wischberg stemmte die Arme in die Hüften, kniff das rechte Auge zu und betrachtete den Wurstfabrikanten mit dem leicht geröteten linken Auge, um dessen Sehkraft zu prüfen. »Ich hoffe, nach meinen eindeutigen Worten läßt er sich hier nicht mehr blicken und ...«
Eine schneidende Stimme unterbrach ihn: »Du hast ihn also vertrieben? Daß ich nicht lache!« Die Mutter des Wirts hatte die Durchreiche zur Küche geöffnet und ihren Kopf in die Gaststube gesteckt. »Ich! Ich habe dem jungen Mann empfohlen, sich woanders einzuquartieren.«
»Und wo ist er?«
»Er wohnt beim Tischler.«
Wilhelm Weber verließ grußlos die Gaststube. Draußen öffnete er seine Faust und betrachtete die Fliege, die er von der Theke genommen hatte. Sie erholte sich zusehends, machte ein paar Schritte, strich sich über die Flügel und startete. Er beobachtete, wie sie aufstieg und eine Zeitlang ziellos kreuzte, bis sie gradlinig durch die geöffnete Tür in die Gaststube zurückflog.
»Du hattest deine Chance«, murmelte er. »Aber ich verstehe dich.«
Und dieser Idiot wollte eine Ferienhaussiedlung am Lichter Moor
bauen? Zum Glück hatte er ihm die Finanzierung nicht fest zugesagt.
Dieser Wirt war ein Mensch, der nicht anders konnte als permanent
... zu lügen. Nein, das war der falsche Ausdruck. Die Wirklichkeit
zu verdrehen. Das traf es eher, denn er schien in dem Augenblick,
wenn er etwas aussprach, von der Wahrheit seiner Worte überzeugt zu
sein. Kein Wunder, daß seine Frau versucht hatte, ihn
umzubringen.
Vor der Tischlerei bestiegen die beiden Gesellen den Transporter. Der Motor heulte auf, und der Wagen schlingerte mit quietschenden Reifen von der Auffahrt auf die Straße, wo er abrupt abgebremst wurde. Die Tür öffnete sich weit, und der Fahrer sprang mit angezogenem linkem Bein heraus. Er fluchte laut, hielt sich mit einer Hand am Führerhaus fest und betrachtete seine Schuhsohle. Er zog einen Schraubenzieher aus der Seitentasche seines Overalls und kratzte damit den Kot von seinem Schuh ab.
Wilhelm Weber betrat die Tischlerei durch die große, angelehnte Doppeltür. Auch der Tischlermeister gehörte nicht zu den Leuten, deren Nähe er freiwillig suchte. Mit Problemen, die den Tischler in seiner Eigenschaft als Bürgermeister betroffen hätten, ging er lieber zum Gutsherrn. Bei Jan wußte er, woran er war: Eine Hand wusch die andere. Verlangte er etwas, mußte er etwas anderes erfüllen. Für das Aufstellen seines Schweinebrunnens – wenn auch im Dorfteich – mußte er die Sache mit dem Studenten erledigen. Und Jan befahl nicht, er bot nur an. Es geschah selten, daß er seinem Wunsch so direkt wie beim letzten Mal Nachdruck verlieh, indem er andeutete, daß er die Geheimnisse des weißen Bungalows kannte. Wilhelm Weber fragte sich, wie Jan in den Besitz solcher Informationen kam.
Das Kreischen der Kreissäge erfüllte die Werkstatt. Der Tischlermeister stand davor und führte einen großen Holzblock immer wieder an das Sägeblatt heran, bis dieser eine annähernd runde Form annahm.
Der Schlachter trat hinter ihn und brüllte gegen die Säge an. Thomas Timber zuckte zusammen, stieß den Holzblock von sich und drehte sich wütend um.
»Bist du verrückt, mich so zu erschrecken. Ich könnte mir die Hand dabei absägen.« Er drückte einen Schalter und wartete, bis die Säge stillstand.
»Was willst du?«
»Was wird denn das?« Wilhelm Weber nickte Richtung Holzblock.
»Geht dich nichts an. Brauch ich zum Schnitzen. Scheißholz.« Er zog den Block heran und strich darüber. »Viel zu frisch. Es gibt einfach kein altes, abgelagertes Holz mehr. Letztes Jahr habe ich einen Balken aus dem Teich bei der ehemaligen Sägemühle gefischt. Der lag da garantiert hundert Jahre im Wasser. Wenn der mal durchgetrocknet ist: So etwas ist optimal.«
Er nahm den Holzblock, wickelte ihn in ein Stück Stoff ein und legte das Bündel neben die Bürotür. Wilhelm Weber folgte ihm.
»Wo ist der Student?«
»Weiß ich doch nicht.«
»Du warst doch geldgierig genug, um an ihn zu vermieten.«
»Hehehe!« Der Tischler drohte ihm mit dem Finger. »Das war anders. Meine eigene Familie hat mich über den Tisch gezogen. Mir blieb nichts anderes übrig.«
»Wo wohnt er?«
»Hier oben drüber, in der ehemaligen Wohnung meiner Eltern. Immerhin hab ich ihn auf diese Weise unter Kontrolle.«
»Ist er da?«
»Nee.«
»Hast du einen Schlüssel?«
Der Tischler nickte. »Selbstverständlich.«
»Dann laß uns hochgehen.«
Der Tischler grinste. »Ich war schon oben. Da findest du nichts.«
»Kommt darauf an, was man sucht. Pornohefte?«
»Halt's Maul.« Der Tischler lief rot an.
»Ist das nicht deine Spezialität?«
Thomas Timber spuckte vor dem Schlachter aus. »Fühl dich ja nicht so sicher in deiner Villa.«
»Ach, was willst du? Mich umbringen?«
»Schon gut«, brummte der Tischler, stampfte aus der Werkstatt
und zog einen Schlüssel aus der Hosentasche.
Obwohl die beiden Feinde nicht nur die wenigen Kleidungsstücke des Studenten abklopften, sondern auch Schränke von der Wand abrückten, Matratzen anhoben und Schubladen herauszogen, um ihre Unterseite zu betrachten, war die Untersuchung kurz und vor allem ergebnislos. Die Aufzeichnungen, die sie fanden, betrafen den Wald. Einteilungen, Beschreibungen, Bestandsaufnahmen. Ein Briefkuvert enthielt ein Empfehlungsschreiben, in dem ein Professor die Person, die von dem Studenten in Anspruch genommen werden würde, bat, diesem behilflich zu sein.
Schließlich setzten sich beide an den Küchentisch der Wohnung und sahen einander schweigend an. Die gemeinsame Tätigkeit hatte ihren gegenseitigen Groll etwas besänftigt.
»Er ist schlau«, sagte der Schlachter. »Nichts verrät ihn.«
»Er ist dumm«, sagte der Tischler. »Er mietet die Höhle des Löwen.«
Sie lachten beide. Dann sagte der Tischler: »Du kennst dich doch mit Elektrik aus.«
»Wer sagt das?«
»Meine Frau.«
Wilhelm Weber sprang auf, und um seiner überraschten Reaktion einen Sinn zu geben, bückte er sich und befühlte die Unterseite des Stuhls, auf dem er gesessen hatte. Es war trotzdem sinnlos. Aus den Augenwinkeln versuchte er, die Mimik des Tischlers zu studieren. Wußte der etwas? »Was sagt sie denn?«
»Weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat sie mal gesehen, wie du was mit der Elektrik gemacht hast.«
Weber zählte die Kacheln hinter der Küchenzeile, bevor er antwortete. »Ach ja, richtig.« Er gab seiner Stimme einen gelangweilten Ton. »Ich hab mal die Lampe am Hauseingang repariert, da kam sie gerade zufällig vorbei. Wie kommst du jetzt darauf?«
Der Tischler stand auf und ging zur Küchenzeile. »Ich gucke mir gerade den Wasserhahn an, da hängt doch so ein kleiner Elektroboiler dran. Hier unten im Schrank.« Er öffnete den Unterschrank und bückte sich. »Manchmal hört man doch, daß die kaputtgehen und die Leute einen Schlag kriegen, wenn sie das Wasser anstellen. Ist mancher schon tot umgefallen.«
Wilhelm Weber kam näher. »Ich kenne Leute, die werden ganz lebendig davon.«
»Zuerst ja, aber dann plötzlich nicht mehr. Was meinst du?«
»Hast du Werkzeug?«
»Sicher.«
Der Schlachter kroch mit dem Kopf in den Unterschrank. »Es müßte wie ein Einbaufehler aussehen, der sich erst nach langer Zeit ausgewirkt hat – sagen wir mal durch eine gewisse Bewegung des Gerätes oder des Anschlusses.« Er klopfte gegen die Verkleidung des Boilers. »Ich brauche einen Schraubenzieher, eine Kabelzange und ...«, er, rüttelte an den Wasserleitungen, »... und einen Satz Maulschlüssel!«
»Deine Stimme klingt schon, als käme sie aus einem Grab«, grinste der Tischler.