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Als der schwere schwarze Wagen ins Schleudern geriet und Jakob Finn hinter dem Steuer aus seinem Sekundenschlaf hochschreckte, ahnte er bereits, nun nie mehr in Bergstadt anzukommen, das ihm ein Kommilitone dringend empfohlen hatte, weil sich der dortige Wald so gut für die Untersuchungen seiner Doktorarbeit eignen würde.

Es gelang ihm, den Wagen etwas zu stabilisieren. Für die Kurve war er noch immer zu schnell. Weder der impulsive Druck auf das Bremspedal noch Gegensteuern vermochten die Fliehkraft abzuschwächen. Er verlor die Gewalt über den Wagen und wunderte sich, wie kaltblütig er alles beobachtete, sogar seine falsche Reaktion registrierte er, ohne sie ändern zu können: Mit blockierten Bremsen und bis zum Anschlag gedrehtem Steuer rutschte er über die Fahrbahn, rammte mit dem Hinterteil krachend einen der alten Alleebäume. Der BMW drehte sich, als wollte er den Baum umrunden, und kam mit den Vorderreifen auf dem Feldrand zum Stehen. Der Motor ging aus, und in der plötzlichen Stille, nur unterbrochen vom Knacken des Blechs, löste Jakob Finn seine von Schweiß klebrigen und verkrampften Hände vom Lenkrad und stieß erleichtert die Luft aus. Einen Augenblick blieb er ruhig sitzen, dann öffnete er die Tür und stieg aus. Ein Zittern bemächtigte sich seines Körpers. Das flaue Gefühl im Magen verzog seinen Mund zu einem breiten Grinsen. Erst jetzt dachte er an den Flugzeugabsturz und wunderte sich, daß die Erinnerung nicht gleich gekommen war, denn auch damals hatte ihn die Fliehkraft gepackt. Allerdings war er ohnmächtig geworden ... Er lachte laut, um die Bilder abzuschütteln. Er war ein Glückspilz.

Er stützte sich mit den Händen gegen die Dachkante des Wagens und betrachtete unter seinem Arm hindurch den Schaden am Hinterteil des BMWs. Das Blech war tief eingedrückt und blockierte den Reifen. Die Stoßstange hing schräg. Er würde nicht weiterfahren können. Er sah an sich herunter, doch seine Kleidung war nicht zerfetzt, sein Schoß nicht blutig, so wie damals, als er auf der vom Flugzeug in den Wald gerissenen Schneise aus der Ohnmacht erwacht war.

Er löste sich von dem Wagen, ging einmal langsam um ihn herum. Nein, damit konnte er nicht mehr fahren. Er überquerte die Straße, setzte sich auf einen am Rand liegenden großen Feldstein und lauschte. Nichts als das Summen von Insekten. Keine Autogeräusche. Er ärgerte sich über seine Unachtsamkeit. Nicht einmal an den letzten Wegweiser konnte er sich erinnern, geschweige denn, wie lange es her war, daß er eine Ortschaft durchfahren hatte.

Er betrachtete die Umgebung, eine Landschaft, die ihm unter anderen Umständen reizvoll erschienen wäre, so aber vermittelten die grünen, Ende Mai noch kurz bewachsenen Felder beidseitig der Straße und die dahinter sich sanft erhebenden bewaldeten Hügel nur ein Gefühl von Einsamkeit und Hilflosigkeit. Keine Kirchturmspitze streckte sich in der Ferne über die Bäume, keine Reklametafel am Straßenrand kündigte ein Gasthaus, die nächste Tankstelle oder Autowerkstatt an. Für einen Städter begann in solcher Verlassenheit bereits ein Survival-Training.

Er erinnerte sich an das Geräusch der Hubschrauber, an die Hektik und an das Entsetzen im Gesicht der Retter. Sie hatten ihm den Tod seiner Eltern schonend mitteilen wollen. Er wußte es schon beim ersten Wort. Er hatte überlebt, weil er aus dem Flugzeug geschleudert worden war.

Es war ihm kaum gelungen, um seine Eltern zu trauern. Sie hatten ein Leben ohne ihn geführt. Er war immer nur zu Besuch gewesen.

Zwar heilten seine Verletzungen schnell, doch als ihm die Ärzte eine zweite, winzig kleine Operation (Sie verstehen, geradezu lächerlich!) vorschlugen, begriff er, daß es ihn zum Gespött machen könnte, wenn jemand davon erfuhr.

Er erhob sich von dem Feldstein, als auch nach zehn Minuten noch kein Auto vorbeigekommen war, und entschied sich, die Straße zurückzugehen. Er schloß seinen Wagen ab und hatte sich kaum zehn Meter entfernt, als er sich abrupt umdrehte und doch in die andere Richtung marschierte.

Er vermochte später nicht mehr zu sagen, was diesen plötzlichen Sinneswandel bewirkt hatte, doch der Entschluß änderte nicht nur sein gesamtes Leben, sondern beschleunigte in dem knapp drei Kilometer entfernt liegenden Dorf Herzensach erneut eine Entwicklung, die bei den letzten Malen mit einem Toten geendet hatte.

Herzensach, benannt nach dem gleichnamigen Flüßchen, in dessen Biegung es lag und dessen Name den wenigen Reisenden Gelegenheit gab, darüber zu spekulieren, ob es sich um einen leidvollen oder freudvollen Ausdruck handle, und der in einer Untersuchung der Kreisverwaltung Weinstein hinsichtlich der für den Tourismus zu fördernden Gebiete des Kreises so schlecht weggekommen war, sollte Schlagzeilen machen.

Grund für Schlagzeilen hätte es bereits vor mehr als zweihundert Jahren gegeben, als das Herzensacher Tal durch einen Schenkungsakt des Grafen Weinstein in den Besitz des holländischen Piraten Cornelius van Grunten überging. Aus Angst vor den van Gruntens sprach man damals über die wahre Ursache der Besitzübertragung nicht. Heute erzählt sie der junge Gutsherr Jan van Grunten seinen Gästen mit besonderem Vergnügen und in immer neuen Ausschmückungen. (Der Pastor empfindet das als Geschmacklosigkeit.) Aber wer kann schon einen waschechten Freibeuter zu seinen Ahnen zählen? Besagter Cornelius van Grunten stand Mitte des achtzehnten Jahrhunderts als Kapitän in den Diensten der spanischen Krone, doch soll er es mit Freund oder Feind nicht so genau genommen haben, Hauptsache, die unter der Totenkopfflagge eingenommene Beute stimmte. Als er 1761 ein englisches Schiff – in der Annahme, es habe Gold geladen – kaperte, fielen ihm einige adlige Passagiere in die Hände, unter ihnen die zwölfjährige Catharina Clarabella von Weinstein, Tochter des Grafen Weinstein, auf der Reise zu englischen Verwandten (... daß es sich hier um die Winstons handelte, angeblich der englische Name für Weinstein, zu deren Nachkommen Winston Churchill zählte, ist nur ein ebenso beliebter wie dümmlicher Scherz des Gutsbesitzers). Die Piraten durchsuchten das Schiff, doch ihre Information, es habe Gold an Bord, erwies sich als falsch. Cornelius van Grunten ließ in seiner Wut die gesamte Besatzung töten, ebenso alle Adligen bis auf Catharina Clarabella und ihre Begleiterin Sophie, eine Freifrau von Wachenberg. Diese übernahm die schwierige Aufgabe, dem Grafen die Bedingungen für die Freilassung seiner Tochter zu überbringen. Auf einer aus dem Reisegepäck der Damen geraubten Karte von den gräflichen Ländereien hatte der Pirat das Herzensacher Tal eingekreist. Dieses Tal war die Gegenleistung für die Unversehrtheit Catharinas. Tatsächlich nahm der Graf die Besitzübertragung in aller Form vor, jedoch mit dem Zusatz, daß beim Ausbleiben eines direkten Nachkommens der Familie van Grunten der gesamte Besitz an die gräfliche Familie zurückfalle. Der Graf muß sich bei der Abfassung dieses Vertrages besonders raffiniert vorgekommen sein. Heutige Historiker, wie der Frankfurter Michael Leibrandt, sind allerdings der Meinung, er habe damit das Todesurteil für alle Weinsteins unterzeichnet. Die Schlußfolgerung, die van Gruntens hätten an den seltsamen Todesfällen und am mysteriösen Verschwinden der gräflichen Familienmitglieder einen mörderischen Anteil, liegt nahe, ist jedoch letztlich nicht beweisbar.

Cornelius van Grunten jedenfalls kam nicht mehr in den Genuß seines Landbesitzes, dafür in den der Freifrau von Wachenberg. Die Unterhändlerin heiratete ihn (was zu Spekulationen Anlaß geben sollte) und hat ihm sicher das idyllische Herzensach wenigstens beschrieben. Wahrscheinlich hatte der Seemann es als Alterssitz auserkoren. Der Pirat wurde 1772 in Lissabon bei einem Landgang von einem Unbekannten erstochen. Die Spanier waren wohl seines Treibens in ihrem Namen müde gewesen und hatten einen Mörder gedungen. Sein Sohn Hendrik, beim Tod des Vaters gerade mal acht Jahre alt, wurde ebenfalls Seemann und setzte die Tradition seines Vaters fort. Die Meinung seiner Mutter Sophie dazu ist nicht überliefert. Mit achtundvierzig Jahren kehrte er zusammen mit einer wilden Horde aus der Karibik zurück und nahm das Tal in Besitz. (War die Mutter dabei?) 1812 baute er als erstes einen Wehrturm, der heute nicht mehr steht, und 1824 ein befestigtes Gutshaus.

Auch wenn die Familie van Grunten es im letzten Jahrhundert gern anders darstellte, die Geschichte des Dorfes hatte lange vor dieser Zeit begonnen. Vermutlich lag bereits eine Germanensiedlung in dieser Biegung des Flusses. Die erste urkundliche Erwähnung stammt von 1612.

Jakob Finn war noch nicht weit gegangen, als er plötzlich auf der anderen Straßenseite, in einem kleinen Birkenwäldchen, eine Bewegung wahrnahm. Ein Tier, vielleicht ein Reh, strich dort herum. Dann sah er zwischen den Blättern ein Stück gelbbraunes Fell, und gleich darauf trat ein etwa hüfthoher, kurzhaariger Hund unbestimmbarer Rasse zwischen den Birken hervor, setzte sich an den Straßenrand und beobachtete ihn mit bernsteinfarbenen, freundlichen Augen. Der Student schnalzte mit der Zunge, was den Hund allerdings nur veranlaßte, den Kopf ein wenig höher zu heben und ihn spöttisch anzusehen. Jakob Finn erinnerte die Haltung an eines seiner Kuscheltiere. Seine Eltern hatten ihn schon früh in ein deutsches Internat geschickt, und so war, bis in die Pubertät hinein, einer seiner wichtigsten Gesprächspartner ein abgewetzter Teddybär gewesen.

Kurz nach dem Hund trat eine junge Frau aus dem Wald, die er im ersten Moment für einen Jungen hielt. Sie hatte sich geschickter und geräuschloser in dem Wäldchen bewegt als das Tier. Ihr hing das blonde, kinnlange Haar in dicken Strähnen übers Gesicht. Sie trug eine derbe blaue Bauernjacke über einem ausgeblichenen grünen Hemd. Die weite, ausgefranste Hose wurde mit einem Strick zusammengehalten. Die Sachen waren keineswegs sauber, so daß Jakob an eine Landstreicherin denken mußte, doch zugleich schien es eine Art Kostümierung zu sein.

»Hallo«, rief er. Hund und Mädchen beobachteten ihn reglos und stumm.

»Ich habe eine Panne«, versuchte er seine Anwesenheit auf der Straße zu erklären und wies mit der Hand zurück zu seinem Wagen. Es rief bei seinen beiden Beobachtern keine Reaktion hervor. Warum sollte sein Pech nicht anhalten und ihm eine Taubstumme mit einem blinden Hund schicken? (Wie ging noch mal die Zeichensprache?)

»Wo ist das nächste Dorf? Ich brauche Hilfe.«

Das Mädchen zog die Nase hoch und kaute auf der Unterlippe. Es sah zu dem Hund hinunter, dann wieder mißmutig zu dem Fremden. Der Hund erhob sich und trottete langsam über die Fahrbahn, um ihn zu beschnuppern. Jakob bestand die Prüfung, das Tier setzte sich dicht zu seinen Füßen. Das Mädchen zuckte mit den Achseln und folgte dem Hund, wobei sie den Fremden nicht aus den Augen ließ, als erwarte sie einen Angriff.

»Gibt es hier ein Dorf?«

Das Mädchen reagierte nicht.

Vielleicht konnte sie tatsächlich nicht sprechen. Er wollte sie nicht beleidigen und formulierte in Gedanken eine entsprechende Frage, als sie plötzlich den Mund öffnete und ja sagte. Er begriff, daß dies eine Prüfung war.

»Und wo?« fragte er.

Sie blieb stumm, prüfte noch immer.

Er versuchte seinen Unfall und den Schaden am Wagen zu erklären. Schließlich fiel ihm ein, daß es wohl richtig wäre, sich vorzustellen, und er nannte seinen Namen, seinen Herkunftsort, sein Studienfach, bis er etwas ratlos innehielt und lachen mußte.

»Entschuldigung, aber ich komme mir so komisch vor.«

Ihre einzige Reaktion war ein noch finsterer Ausdruck. (Er war also nicht komisch.) Dann zuckte sie mit dem Kopf nach links und sagte knapp: »Da lang.«

Sie ging voraus. Der Hund schloß sich an, blieb aber im Lauf des Weges immer weiter zurück. Jakob beobachtete die junge Frau von der Seite, schätzte ihr Alter auf etwa zwanzig Jahre und entdeckte unter ihrem finsteren Blick eine hübsche, schmale Nase und einen außergewöhnlichen Mund, dessen Winkel wohl von Natur aus einen leichten Schwung nach oben hatten wie bei einem dünnen Lächeln (hauchdünn). Ein vollkommen düsterer Ausdruck würde ihr deshalb nie gelingen. Sie gefiel ihm.

»Wie weit ist es?«

»Nicht weit.«

»Ist das Ihr Hund?«

»Nein.«

»Wie heißt der Ort?«

»Herzensach.«

»Wie?«

»Sie haben es schon richtig verstanden.«

Dies war die Unterhaltung auf dem ersten Kilometer. Jeder andere hätte aufgegeben, doch Jakob amüsierte sich über ihre Wortkargheit, über ihr abweisendes Verhalten und versuchte sie weiter zu provozieren.

»Wohnen Sie da?«

»Möglich.«

Er ging schneller, um direkt neben sie zu kommen, ihr ins Gesicht zu sehen, doch auch sie beschleunigte den Schritt, so daß es fast zu einem Wettrennen ausartete. Er war sich nicht sicher, ob es ihre abwehrende Haltung war oder die Entdeckung ihrer Schönheit, was in ihm den Wunsch reifen ließ, sie unbedingt für sich einzunehmen.

»Gibt es da, in diesem ... gibt es da eine Tankstelle?«

»Nö.«

»Wie groß ist denn der Ort?«

»Klein.«

Die Straße stieg jetzt leicht an, bildete einen Damm, der auf eine Brücke mit steinernem Geländer zuführte.

»Kommt da ein Fluß?«

»Blöde Frage.«

»Wie heißt der?«

Als Antwort drehte sie ihren Kopf leicht, und er bekam einen genervten Blick.

»Sie sind nicht sehr gesprächig, was?«

»Hören Sie zu«, sagte sie scharf und blieb stehen, »wenn Sie mit mir anbändeln wollen: Ich bin nicht die richtige Person dazu.«

»Ich wollte nur freundlich sein.« Er zog aus Spaß den Kopf etwas ein, als erwarte er einen Schlag, und grinste sie an. »Ich bin Ihnen ziemlich ausgeliefert.«

Sie schwieg, und er war sich nicht sicher, ob es nicht doch ein Lächeln war, das ihre Mundwinkel willentlich herstellten.

»Außerdem«, beeilte er sich hinzuzufügen, »habe ich keine andere Absicht, als mich abschleppen zu lassen.«

»Genau das dachte ich mir.«

Er wurde sich des Doppelsinns bewußt. »Ich meine das anders.«

»Umgekehrt?«

Er lachte. Sie ging schneller.

»Danach werde ich auf Nimmerwiedersehen aus Ihrem Leben verschwinden.«

»Sicher.«

Alles ergab einen anderen Sinn. Sie reizte ihn. Er hatte noch nie ein Mädchen kennengelernt, das so kühl und abwehrend gewesen war. Wieder mußte er sich bemühen, mit ihr Schritt zu halten. Er würde schon herausfinden, wer sie war. »Wenn Sie mir Ihren Namen sagen, schreibe ich Ihnen, wenn alles erledigt ist, eine Postkarte als Dank. Oder meinetwegen auch, damit Sie erkennen können, wie groß die Entfernung zwischen uns ist.«

»Ha!«

»Sie haben mich durchschaut.«

»Männer!«

Sie hatten die Brücke erreicht. Jakob blieb stehen und beugte sich über das Geländer, um in den etwa zwei Meter breiten, von Schilf umsäumten Fluß zu sehen, dessen klares, sprudelndes Wasser unter dem dunklen Bogen der Brücke verschwand. Der obere Teil der Brücke bestand aus einer modernen Betonkonstruktion, in die man das alte Geländer aus Naturstein eingepaßt hatte. Die Fundamente stammten aus früheren Zeiten. Es ist allerdings nie untersucht worden, ob es noch jene Steine sind, aus denen Hendrik van Grunten einst die Brücke errichten ließ. Auf jeden Fall geht der Bau dieser sowie der zweiten Brücke am anderen Ende des Dorfes auf ihn zurück. Vorher hatte es eine nur im Sommer gut passierbare Furt in der Herzensach gegeben. Die Landstraße nach Weinstein führte ursprünglich nicht durch Herzensach, sondern über den Heidberg. Hendrik van Gruntens Brücken- und Straßenbau sorgte für eine kürzere und bequemere Strecke. Er ließ sich von den Kaufleuten die Durchfahrt bezahlen. Zwar führte er selbst nie darüber Buch, aber aus alten Handelsabrechnungen, die heute im Archiv des Weinsteiner Heimatmuseums liegen, gehen diese Abgaben hervor. Es gibt sogar einen Brief des damals bedeutenden Handelsherrn Farianus, in dem er die Machenschaften Hendrik van Gruntens anprangerte, beispielsweise nicht nur bei der ersten Brücke einen Wegzoll zu kassieren, sondern auch bei der zweiten: »... so ist bei allen befahrenen Wegen Hendericus van Gruntens doppelter Wegzoll als etwas Räuberisches, den privilegierten Ständen dem einfachen Handelsmann gegenüber kaum Würdiges anzusehen, das bei entsprechend höherer Amtsstelle einmal von uns eingeklagt werden sollte ...«

Wegen der schönen Handschrift und des guterhaltenen, verzierten Siegels ist dieser Brief im Weinsteiner Heimatmuseum in einer Vitrine ausgestellt. (Nur deshalb!)

Jakob glaubte, in dem Wasser des Flusses einen langen silberglänzenden Fisch zu sehen. Er blickte auf. Das Mädchen war, wie er es gehofft hatte, ebenfalls stehengeblieben, um über die Brüstung zu schauen.

»Fisch?«

»Möglich.«

»Sie wissen nicht, was für ein Sternbild Sie haben?«

Sie lachte zum ersten Mal.

»Was ist eigentlich so gefährlich an mir?«

»Sie sind ein Mann.« Es schien ihr als Erklärung ausreichend.

»Das tut mir leid.«

»Sollte es auch.«

Der Hund war herangekommen und blieb jetzt an ihrer Seite. Sie schritt wieder schneller voran.

»Und als Hund? Würden Sie mich akzeptieren?«

»Hunde tun, was ich will.«

»Dachte ich mir.«

Die Straße machte eine Biegung nach links, gabelte sich. Eine Abzweigung führte zu dem sieben Kilometer entfernten Ehrenfelde. Der zweite, nach links zeigende Wegweiser war zerkratzt und übermalt. Jakob rekonstruierte das Wort »Herzensach«. Am Ende der Kurve reckte sich ein Kirchturm über hohe, ausladende Bäume, und zwischen Fliederbüschen wurden alte Fachwerkhäuser sichtbar. Und ihm kam der verlockende Gedanke vom einfachen und ruhigen Landleben.

»Wo kann ich telefonieren?«

Sie wies auf das erste Gehöft auf der linken Seite und blieb stehen. Es war offensichtlich, daß sie ihn nicht weiter führen wollte.

Jakob bedankte sich, fragte noch einmal, ob er nicht doch eine Postkarte schreiben solle. Sie schüttelte den Kopf. Auch andere Vorschläge, ihr seine Dankbarkeit zu beweisen oder sie wiederzutreffen, führten bei ihr nur zu zusammengepreßten Lippen. Er hatte keine Chance. Nicht einmal ihren Namen hatte er herausbekommen. Schließlich bog sie ohne Gruß auf einen Feldweg ab. Nur der Hund sah sich noch einmal um.