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Jakob Finn war nicht mit dem Abschleppwagen nach Weinstein gefahren, sondern hatte nur mit der Werkstatt telefoniert. Erst am nächsten Morgen nahm er den Bus in die Kreisstadt, um den vorliegenden Kostenanschlag zu besprechen.
Drei bis vier Tage würde die Reparatur seines Wagens samt den notwendigen Lackierarbeiten dauern. Nachdem in der Werkstatt alles geregelt war, machte er einen Spaziergang durch Weinstein. Die kleine Stadt besaß eine sehr alte, teilweise sorgfältig restaurierte Innenstadt, der man aber mittels Fußgängerzone jede Eigenheit genommen hatte. Etwa tausend Städte wollten an dieser Stelle mit Weinstein verwechselt werden. Nur weil die Häuser im Norden der Stadt einen Berg bis zur alten Burgruine hinaufkletterten, reduzierte sich die Zahl der konkurrierenden Städtchen um rund die Hälfte. Als die Burg noch keine Ruine gewesen war, hatten die Grafen Weinstein darin residiert. Die Reste des Turms waren von fast jedem Punkt des Ortes aus zu sehen. Überall verleiten Burgruinen dazu, ein Freilichttheater einzurichten, um in den Sommermonaten arbeitslose Musiker oder Schauspieler den Touristen zum Fraß vorzuwerfen. In Weinstein sollte eine Reihe klassischer Konzerte stattfinden, wie Plakate stolz in der gesamten Stadt verkündeten.
In einer Buchhandlung entdeckte Jakob eine Karte des Gebietes um Herzensach, in die auch alle durch das von ihm ausgesuchte Waldstück führenden Wege eingezeichnet waren. Er blätterte zwei Reiseführer der Gegend um Weinstein durch. Im ersten kam Herzensach überhaupt nicht vor. Im zweiten war ein Wanderweg von Weinstein zum Heidberg beschrieben. Die Wanderer wurden mit folgenden zwei Zeilen abgeschreckt: Herzensach, Krs. Weinstein, 87 Einw., 16 km südl. v. Weinstein, am gleichn. Fluß, einf. Gasth., 6 Do.-Zi.
Er ließ die Reiseführer liegen und fand in einem unteren Regal eine kleine Broschüre mit dem Titel 1200 Jahre Weinstein. Der Umschlag war schon etwas verblichen, aber im Stichwortverzeichnis wurde auf Herzensach verwiesen. Auf Seite achtundachtzig las er verwundert: »Aus Dankbarkeit für die Errettung seiner Tochter aus Seenot durch den holländischen Kapitän Cornelius van Grunten schenkte der Graf 1762 dem Holländer die kleine Gemeinde Herzensach und die anliegenden Ländereien.«
Er dachte an das Büchlein des Pastors, vor allem an dessen ganz andere Schilderung des Vorganges, und fragte den jungen Buchhändler nach dieser Ausgabe. Der Buchhändler zuckte mit den Achseln. Er kenne es wohl, doch es lohne sich nicht, es zu führen. Herzensach werde von Touristen kaum frequentiert und liege zu weit abseits der üblichen Wege.
Jakob konfrontierte ihn mit den beiden Versionen der Geschichte,
aber der junge Mann kannte sie nicht. Er berichtete dem Studenten,
er habe erst vor einem Jahr die Buchhandlung übernommen, die total
heruntergewirtschaftet gewesen sei, seine Frau müsse noch nebenbei
arbeiten, Heimatkunde sei nicht seine starke Seite, der
Wasserrohrbruch im Lager verheerend, und hier sei nicht einmal mit
den üblichen Bestsellern ein Geschäft zu machen, weil Weinstein
sich anscheinend zur lesefreien Zone erklärt habe. Er habe noch
nicht einmal den übernommenen Bestand im Reisebuch-Bereich sichten
können. Er wisse auch nicht, was sich in dem vor drei Tagen
angekommenen Paket der Verlagsauslieferung befinde. Überhaupt komme
er zu nichts. Er fiel etwas in sich zusammen, beugte sich über die
Broschüre, die Jakob gefunden hatte, und schüttelte den Kopf über
deren Alter. Der Buchhändler verwies ihn schließlich mit
ausgestrecktem Arm an das nahegelegene Heimatmuseum. Es habe einen
sehr guten Ruf – und er keine Zeit mehr.
Jakob Finn war der einzige Besucher des Museums. Er traf auf einen kleinen, auskunftsfreudigen alten Mann. Karl Metzger, pensionierter Postbeamter. Er führte das Weinsteiner Heimatmuseum bereits im fünfzehnten Jahr. Die ursprünglich private Sammlung seines Vorgängers samt dem fast dreihundert Jahre alten Kaufmannshaus war nach dessen Tod der Stadt geschenkt worden. Karl Metzger hatte im Gemeindearchiv gestöbert und auf diese Weise die Zahl der Ausstellungsstücke verdoppelt. Mit kleinem Etat, unermüdlichem Einsatz und gründlichem Wissen war es ihm gelungen, ein Museum zu installieren, das wie er mit Zeitungsberichten belegen konnte – als beispielhaft galt und so manchem Historiker mit verläßlichen Auskünften dienen konnte.
Der Museumsleiter freute sich über das große Interesse des Studenten, denn die meisten Besucher kamen nur, um das spektakuläre Modell des Weinsteiner Schlosses zu sehen. Zwei Handwerker hatten die Burg in ihrer Freizeit in zehnjähriger Arbeit gebaut und dem Museum geschenkt. (Wieder einmal darf hier dementiert werden, daß sie das Modell aus Streichhölzern gefertigt hatten.) Die Seitenteile des zwei Meter tiefen und ebenso breiten Holzmodells ließen sich elektrisch öffnen und gaben den Blick frei auf das Innenleben der Burg. Auf Knopfdruck konnten die Besucher Licht in jedem der dreiunddreißig Zimmer machen. Jedes Zimmer zeigte weitgehend die Ausstattung vor dem Brand von 1840, denn kurz vorher hatte ein Zeichner im Auftrag des Grafen auf der Burg gearbeitet. Das verheerende Feuer, bei dem der Graf ums Leben kam, war durch Brandstiftung ausgebrochen. Die Täter konnten nicht ermittelt werden, aber man vermutete sie in bestimmten Republikaner-Kreisen.
Auch der Brandnacht galt das Interesse der Museumsbesucher. Sie war in einem riesigen, schauerlich dramatischen Ölgemälde festgehalten, mit dem brennenden Grafen auf der Spitze des Turms. Die Postkarte mit der Abbildung dieses Gemäldes stand in der Beliebtheit auf Platz eins. (Auf Platz zwei findet sich »Weinstein – Marktbrunnen«: eine Blondine in sehr kurzen Hosen auf dem alten Brunnen in der Fußgängerzone. Platz drei: »Weinstein – Burgruine« – dieselbe Blondine in nicht ganz so knappen Hosen auf der Burgmauer.)
Was das Bild der brennenden Burg nicht zeigte: Der gräflichen Familie war durch das Feuer der Weg nach draußen versperrt. Sie flüchtete auf den Turm. Von dort oben ließ der Graf seine Frau und seinen Sohn mit einem Seil herab. Er selbst konnte sich nicht mehr retten und soll, als ihn das Feuer erreichte, mit einem Flammenschweif direkt in den Himmel aufgestiegen sein. Etliche zeitgenössische Brandbeobachter bezeugten das übereinstimmend. Das jährliche Weinsteiner Feuerwerk erinnert an dieses Ereignis. Dann bieten die Gastwirtschaften auch einen Cocktail namens »Brennender Graf« an, und in der Stadthalle findet der »Flammenball« statt. Vergangenes Jahr hatte ein Händler großen Erfolg mit dem Verkauf kleiner flammenförmiger Anstecker, auf denen stand: »Laß mich deine Flamme sein.« Das Thema ist kommerziell keineswegs ausgereizt. Nur das Theaterstück »Der brennende Graf«, von Volksschullehrer Hermann Albers in klassischen Versen gedichtet, war eine Pleite. Es wurde nur ein einziges Mal aufgeführt. In den fünf Akten wird der heimliche Liebhaber der Gräfin zum Brandstifter erklärt und der Graf zu einem Bösewicht, der den Tod verdient hat. Den Weinsteinern gefiel das nicht. Mochte der Graf auch ein harter und selbstherrlicher Mensch gewesen sein, der seiner Frau allen Anlaß gegeben hatte, sich einen Liebhaber zu nehmen, in der Erinnerung wollten ihn seine Weinsteiner als gütigen Landesherrn verehren.
Karl Metzger war während seines Vortrags immer in Bewegung, führte den Studenten in sein kleines Büro, bot ihm Kaffee an und lachte laut, als Jakob Finn ihm von den beiden unterschiedlichen Geschichten um Herzensach berichtete. Dabei schüttelte er sich so, daß sein dichtes graues Haar nach allen Seiten flog, ihm seine Lesebrille von der Nase rutschte und Schuppen auf seine Schultern herabschneiten. Er schob seine Brille wieder zurecht, sah Jakob über den Gläserrand an; seine Augen blitzten vor Vergnügen, etwas aufklären zu können.
»Wissen Sie, eine Zeitlang haben die van Gruntens alles darangesetzt, die Piratengeschichte vergessen zu machen. Etwa zwanzig Jahre lang, von 1910 bis 1930, versuchten sie, eine neue Geschichte über den Ursprung ihres Besitzes zu verbreiten. Damals besaßen sie eine Bank in Berlin, und dazu paßte es nicht, durch einen Piratenakt zu Geld gekommen zu sein. Sehen Sie, selbst heute fällt noch mancher Autor auf diese Fälschung herein. Allerdings ist die Broschüre 1200 Jahre Weinstein vor neunzehn Jahren von einer Agentur hergestellt worden. Da war ich noch braver Postbeamter. Ich dachte, sie sei längst vergriffen. Heute haben die van Gruntens absolut nichts gegen die Veröffentlichung ihrer Herkunft. Sie sind sogar stolz darauf. Ich kenne den alten Hermann gut und auch den jungen Jan.«
Karl Metzger sprang auf, eilte zu einem Regal und nahm einen großen Karton herunter. »Wenn Sie sich für Herzensach interessieren, habe ich hier etwas für Sie – ein paar Stücke, die einen seltsamen Sachverhalt wiedergeben. Leider können wir ja nicht alles ausstellen, und gerade Herzensach kommt ein wenig zu kurz.«
Er öffnete die Schachtel mit den alten Dokumenten, drehte sie so, daß Jakob mitlesen konnte. Doch die Urkunden waren zum Teil vergilbt, gebrochen und die Handschriften oft für einen ungeübten Leser nicht zu entziffern. Karl Metzger zeigte mit dem Finger auf die wichtigen Stellen und las sie vor. Als er bemerkte, daß Jakob die Bedeutung der Texte nicht erkannte, faßte er für ihn zusammen: »Ich bin natürlich kein Rechtswissenschaftler, aber meiner Meinung nach hat Herzensach bei seiner Übertragung auf die van Gruntens als autonomes Gebiet besondere Rechte erhalten, die möglicherweise bis heute unberührt geblieben sind. Bei der Eingliederung des gräflichen Gebietes in das Deutsche Reich ist die Unabhängigkeit von Herzensach übersehen worden. Ein Formfehler, meine ich. Doch danach wäre es noch heute möglich, das kleine Dorf zu einem Freistaat à la Monaco, Liechtenstein oder Andorra zu erklären. Verstehen Sie, mit einem eigenen Recht. Eine Steueroase oder, wenn Sie so wollen, Fluchtburg für Reiche und Verbrecher. Und Jan van Grunten wäre der König von allem.«
Er lachte übermütig. »Wenn man sich das mal vorstellt. Aber daran kann wohl niemand ernsthaft interessiert sein.«
»Wissen das der Gutsherr und die Leute in Herzensach?«
»Ich glaube kaum. Ich habe es selbst erst vor ein paar Wochen herausgefunden. Möglicherweise irre ich mich ja auch. Wenn mein Etat etwas größer wäre, würde ich glatt ein Gutachten in Auftrag geben. Nur aus historischem Interesse, keineswegs um einen Staat namens Herzensach zu gründen.«
Karl Metzger spendierte zum Kaffee eine Tüte Kekse. Die Krümel
prasselten auf Plastikhüllen, rollten über Dokumente und regneten
auf ihn selbst herab. Er hatte Vergnügen daran, mit ausholenden
Bewegungen und sprühenden Lippen all die Geschichten über
Herzensach zu erzählen, die Pastor Pedus in seinem Büchlein nicht
für erwähnenswert gehalten hatte (und die es auch nicht waren).
Zwischendurch wurden Schachteln herbeigeschleppt, Kaffeeflecken von
Briefen entfernt und heruntergefallene Kekse zertreten.
Es war bereits Nachmittag, als Jakob Finn wieder im Bus nach Herzensach saß. Er breitete seine neue Karte aus und überprüfte ihre Genauigkeit an dem, was er im Vorbeifahren sah. Als sie an Wilhelm Webers Wurstfabrik vorbeikamen, entdeckte er, wie aktuell die Karte war. Ein Anbau, der kaum zwei Jahre alt sein konnte, war bereits eingezeichnet. Etwa einen Kilometer vor Herzensach bat er den Busfahrer zu halten. Der Fahrer zog verwundert die Brauen hoch, denn es gab kein Haus weit und breit. Jakob erklärte lächelnd, er wolle nach Herzensach, aber ihm sei nach einem Waldspaziergang.
Die Tür öffnete sich zischend, Jakob sprang hinaus in die Sonne und sah dem Bus nach, der die Straße hinab bis zur nördlichen Brücke der Herzensach rollte. Erst jetzt verebbte das Geräusch des Motors, und Jakob war eingehüllt ins Summen der Bienen und Fliegen, übermütige Gezwitscher der Vögel, leichte Rauschen der Bäume und gelegentliche Knarren der Äste. In der Ferne begann ein Specht zu klopfen. Eine Mücke stach ihn in den Nacken. Jakob atmete durch und lächelte, der Förster hatte recht, dies waren die Geräusche und Ereignisse, die den Lauf der Welt bestimmen sollten. Jetzt wunderte er sich, daß er es so lange in der Stadt ausgehalten hatte. Aber dieser zappelige alte Museumsleiter, der wie ein Kobold hin- und hersprang, um mit dem einen oder anderen Dokument seinen Vortrag zu ergänzen, hatte ihn fasziniert. Dieser Mann hatte sich seit seiner Pensionierung vom Postbeamten zum begeisterten Forscher entwickelt.
Jakob Finn bog in einen Forstweg ein, der laut Karte zum Heidberg hinaufführte. Nach rund fünfhundert Metern aber war der Weg, kurz nachdem er von einem anderen gekreuzt worden war, durch die Einzäunung einer Schonung versperrt. Jakob bog in Richtung Herzensach ab. Bald mußte das Gebiet beginnen, das er untersuchen wollte.. Der Student setzte sich auf einen breiten Baumstumpf und schlug die Karte auf. Er fand den Weg und suchte nach Merkmalen, die ihm helfen würden, seinen Wald abzugrenzen. Er war so sehr in die Karte vertieft, daß er nicht bemerkte, wie sich ihm jemand vorsichtig näherte. Erst als über den Kartenrand hinweg Füße und Beine in sein Gesichtsfeld kamen, fuhr er erschrocken hoch.
»Verlaufen?« fragte sie spöttisch.
»Katharina! Ich habe Sie nicht kommen hören.«
Sie trug wieder die weite, ausgefranste Hose, einen Strick als Gürtel und ein löcheriges Hemd. »Na ja, als Waldmensch ...« (Keine Beleidigungen, sonst haut sie wieder ab!)
»Ich habe Sie schon eine Weile beobachtet. Sie bewegen sich im Wald wie ...« (Keine Beleidigungen, er ist nämlich ganz nett.)
»Ich ... ich hatte eigentlich auch gar nicht vor, im Wald ...«
»Das sieht man.« Sie zog die Mundwinkel herab und betrachtete kopfschüttelnd seinen dunklen Anzug.
»Aber verlaufen habe ich mich nicht.« Er zeigte ihr die Karte und tippte auf den Punkt, an dem sie sich befanden.
Sie sah nicht hin, brummte nur. »Egal.« Sie schien zu lauschen.
Jakob faltete die Karte zusammen. »Gut, daß ich Sie treffe ...«
»Halten Sie den Mund!« Sie hob die Hand und ließ sie in der Luft stehen, während sie den Kopf drehte, als höre sie etwas Bestimmtes.
Er wartete, bis sie die Hand sinken ließ.
»Ich muß mich bei Ihnen bedanken«, begann er leise. Sie sah ihn mürrisch an.
»Die Mutter des Wirtes erzählte, ich hätte es Ihrer Fürsprache zu verdanken, daß ich die Wohnung über der Werkstatt beziehen kann.« Er ärgerte sich, daß es so förmlich klang.
Sie antwortete nicht, sondern ging in die Knie, um einen Käfer zu beobachten, der einen langen Grashalm entlangkletterte, bis dieser durch das Gewicht zu Boden gezogen wurde. Er fiel auf den Rücken und begann heftig mit den Beinen zu zappeln. Sie gab ihm mit dem Finger einen Stoß, so daß er auf die Füße kam und eilig davonlief. (Was wollte sie ihm damit sagen?)
Sie erhob sich und stieß schnaubend die Luft aus. »Ich wollte nur meinen Vater ärgern.«
»Ihren Vater? Ich habe in dem Buch von Pastor Pedus Ihre Geschichte gelesen.«
»Gut, er ist nicht mein Vater.« Sie sah ihn wütend an, dann fuhr sie ärgerlich fort: »Dieses blöde Buch! Vollkommen übertrieben und rührselig. Da steht: Ich hätte geweint und geschrien, und erst als der Pfarrer mich aufhob und in die Kirche trug, hätte ich angesichts des Kreuzes gelächelt. So etwas kann nur ein Pfarrer schreiben.«
»Glauben Sie nicht an Gott?«
Sie sah ihn genervt an. »Die Gretchenfrage, ha!«
Er sah es als Chance: »So weit ist es wohl kaum zwischen uns.«
Für sie war es die Möglichkeit einer Zurechtweisung: »Und wird es auch niemals werden!«
Wie konnte er das wiedergutmachen? »Ich hoffe, wir kommen trotzdem miteinander aus.«
Katharinas Abwehr reizte Jakob, sie zu provozieren, doch er hielt an sich, denn er spürte, er würde schnell über das Ziel hinausschießen und sie verärgern.
Sie wandte sich zum Gehen. »Mein Gott ist ein anderer als der aller anderen.«
»Das könnte von Pastor Pedus sein.«
»Sie fangen an zu nerven.« Ihr Miene wurde feindselig. Dann strich sie sich Haarsträhnen aus dem Gesicht und musterte ihn schweigend von oben bis unten; plötzlich verzog sich ihr Gesicht zu einem Grinsen.
»Sie sehen aus wie ein Idiot in Ihrem Anzug. Italienisches Design? Laufen Sie immer so rum? Was sind das für Schuhe? Wie nennt man die? Budapester?«
»Vielleicht sollten wir tauschen. Es macht keinen Unterschied. Was ist das für ein Design?« Es sollte eine Anspielung auf ihre ausgefranste Hose sein, aber er sah sofort, daß sie es ganz anders auffaßte, denn ihr Blick verfinsterte sich abermals. »Natürlich, klar, ich soll mich ausziehen.«
»Hören Sie zu«, beeilte er sich, sie zu besänftigen, »ich habe keinerlei Absichten Ihnen gegenüber. Und wenn Sie wollen, schwöre ich das.« Es war gelogen. Wie sie dort stand in ihrer Wut, hätte er sie am liebsten umarmt, um ihr zu zeigen, daß er nicht so schlecht war, wie sie von ihm und wahrscheinlich von aller Welt dachte. Doch er ahnte, daß er damit genau das Gegenteil bewirken würde. Moment – wenn man mit dem Gegenteil das Gegenteil bewirkte ...
»Am besten gehen Sie nach rechts und ich nach links, so besteht keine Gefahr, daß wir uns heute noch einmal begegnen. Leben Sie wohl.«
Ohne sich umzusehen, ging er den Weg entlang und klemmte sich die Karte zusammen mit der Weinsteiner Broschüre unter den Arm. Kurz darauf hörte er Schritte hinter sich. Sie holte ihn ein, hielt mit ihm Schritt und schwieg. Er verbarg seine Freude, zeigte sich gleichgültig.
Nach einer Weile sagte sie: »Ich zeige Ihnen jetzt was, damit Sie nicht wie ein Trampel durch den Wald laufen und alle Tiere verscheuchen.«
Sie bog zwischen zwei Bäumen ab, und er folgte ihr, mußte sich vor Ästen ducken und durch das Unterholz schlagen. Sie bog die Zweige mit Absicht zurück, so daß sie ihm ins Gesicht schlugen. Er war sicher, es hätte auch einen bequemeren Weg gegeben. Schließlich standen sie vor einem Dornengebüsch. Sie hielt an, legte den Finger auf den Mund, prüfte die Windrichtung, dann zwängte sie sich durch die Dornen. Jakob blieb mit seiner Kleidung hängen. Ihr Grinsen war reine Schadenfreude. Plötzlich ging sie auf allen vieren und schob sich unter ein Gebüsch. Sie winkte ihn neben sich und legte den Finger auf den Mund. Er kroch hinter ihr her. Vor ihnen brach der sandige Boden steil ab und öffnete sich zu einer Mulde. Seitlich befand sich ein Fuchsbau, in dessen Eingang zwischen niedrigem Gesträuch vier kleine Füchse spielten. Sie jagten sich, fielen übereinander her und rauften miteinander.
Katharina sah Jakob an. Zum ersten Mal hatte sie ein vollkommen argloses Lächeln auf den Lippen. Sie sahen dem übermütigen Treiben zu, bis ein Geräusch die Tiere in die Höhle flüchten ließ.
Als sie zurück auf dem Weg waren, lachte Katharina über sein verändertes Aussehen. Sie zupfte schadenfroh an seinem Jackett und tupfte mit den Finger auf die Kratzer an seinen Händen und Wangen. »So sehen Sie schon besser aus«, kicherte sie.
»Aber ich muß sagen, es hat sich gelohnt.« Er stimmte in ihr Lachen ein, lachte über seinen Anzug (italienisches Design!) und über seine Schuhe (Budapester!). »Nächste Woche hole ich passende Kleidung aus Hamburg nach. Ich hoffe, Sie zeigen mir dann die anderen Geheimnisse des Waldes.«
»Nein«, sagte sie, und ihr Gesicht nahm den abweisenden Ausdruck wieder an. »Dies war eine Ausnahme. Bilden Sie sich nicht ein, ich wäre Ihnen irgendwie freundlich gesinnt.«
»Schon gut.«
Sie beschleunigte ihren Schritt und bog in einen abwärts führenden Weg zum Dorf ein.
Er ließ sie vorgehen. »Trotzdem: danke.«
Als die ersten Häuser in Sicht kamen, holte er sie ein. »Darf ich Sie etwas fragen?«
Sie kniff die Lippen zusammen und sah nicht zu ihm.
»Wie gesagt, ich will nichts von Ihnen, außer daß wir vielleicht Freunde ... nein, auch das nicht ... daß wir einfach gute Nachbarn werden. Das soll mir genügen.«
Er bekam einen mißtrauischen Blick.
»Was ist es, was Sie an Männern nicht mögen?«
»Ich hasse sie.«
»Was hassen Sie an ihnen?«
»Alles.«
Er begriff, daß sie nicht über ihre Einstellung sprechen wollte, doch plötzlich ergänzte sie: »Vor allem hasse ich es, wenn ein Idiot wie Sie daherkommt und glaubt, er könne meine Meinung ändern.«
Sie waren hinter dem Gutshaus an die Herzensach gekommen. Es gab keine Brücke. Katharina sprang über die im Fluß liegenden Steine und rannte auf der anderen Seite davon.
Er sah ihr nach und setzte sich ins Gras. Er fühlte eine seltene Schwere in seiner Brust. Jetzt wußte er sicher, er liebte dieses Mädchen, aber er wußte auch um die Vergeblichkeit seiner Sehnsucht. Wenigstens im Augenblick.
Nach einer Weile schüttelte er seine Gedanken ab und versuchte wie sie über die Steine zu springen. In der Mitte rutschte er ab, fiel ins Wasser. Er schlug lang hin und richtete sich schnell wieder auf. Es war nicht tief. Als er auf dem glitschigen Untergrund Halt fand, ging es ihm nur bis zu den Oberschenkeln. Er watete zu einer flacheren Stelle und kletterte auf einen Felsbrocken. Er war vollkommen naß. Das Wasser lief an ihm herunter. Er sah zum Ufer. Trivial hockte auf der Kuppe der Böschung. Er betrachte Jakob aufmerksam von oben herab, dann kratzte er sich und schien zu grinsen.