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Dorothee Wischberg bückte sich und entfernte in der Dämmerung mit einem Papiertuch den feuchten Fleck, den Trivials Schnauze auf der Scheibe der Ladentür hinterlassen hatte. Er mußte sie durch die Scheibe lange angestarrt haben, bis sie es bemerkt hatte. Sie glaubte nun, er habe ihr damit ein Zeichen geben wollen, vielleicht so wie damals vor sieben Jahren, als er ihr – im wahrsten Sinne des Wortes – den letzten Anstoß gegeben hatte und sie in den Wagen gestiegen war, um ihren Mann zu bestrafen und ihr Leben zu verändern. Seitdem achtete sie auf die Zeichen, die ihr der Hund gab. Heute hatte sie Trivial nicht sofort bemerkt, doch als sie aufblickte und hinausging, hatte sich der Hund umgedreht und war verschwunden.
»Was für ein reizender Hintern, wenn du dich bückst, dann ...«
Erschrocken fuhr sie hoch. Ihr Mann hatte sich herangeschlichen und grinste sie an.
»Halt's Maul!« fauchte sie und ging mit schnellen Schritten in den Laden. Hinkend folgte er ihr, kam gerade noch mit durch die Tür.
»Was willst du?« Sie mochte es nicht, wenn er zu ihr kam. Auch er vermied normalerweise die direkte Begegnung. Sie tauschten die notwendigen Nachrichten über ihre Tochter aus. Die schlief bei der Mutter, aß und lebte aber im Gasthof.
»Ich will was einkaufen.« Er tat so, als wäre er ein normaler Kunde.
»Ich habe schon geschlossen.«
»Sicher.« Er wußte wie jeder im Ort, daß ihr die vorgeschriebenen Öffnungszeiten egal waren. Nur die Mittagspause hielt sie streng ein.
Sie ging nach hinten, um das Licht für den Laden und die Schaufenster einzuschalten, stellte sich dann hinter die kleine Theke mit der Kasse und blätterte in der dort aufgeschlagenen Zeitschrift. Ihr Mann stöberte zwischen den Selbstbedienungsregalen. »Du bist mir zu teuer«, brummte er von dort.
»Du hast zwei Möglichkeiten, meinen Laden zu verlassen ...«
»Ich weiß.« Er kam grinsend und mit erhobenen Händen hinter den Regalen vor. »Entweder ganz schnell oder als Leiche, stimmt's?«
»So ungefähr.«
Er ging an dem Zeitschriftenständer entlang und betrachtete die Titelseiten. Dann wandte er sich um, humpelte mit zwei großen Schritten zum Verkaufstresen und stützte sich darauf.
»Ich will wissen, was oben vorgeht.« Er kaute auf seiner Unterlippe, so daß sein Spitzbart sich rhythmisch spreizte und hob. Da der Gasthof nicht unbedingt das Zentrum des dörflichen Lebens war, mußte der Wirt sich die Informationen aus unterschiedlichen Quellen besorgen. Aus seiner Sicht gab es nur drei Bewohner im Dorf, die über alles Bescheid wußten: seine Frau, die Frau des Arztes und der Hund Trivial.
»Woher soll ich das wissen.« Dorothee Wischberg blickte von ihrer Zeitschrift auf.
Sie maßen sich mit den Augen. Der Wirt gab auf. »Ich weiß, daß ich nicht wissen soll, was ein paar andere durchaus wissen, aber ich muß dir sagen, daß ich es weiß. Also?«
»Wenn du schon alles weißt, was willst du dann wissen?« Sie blätterte wieder.
»Du weißt, wie ich es meine.«
Dorothee Wischbergs Ehe war ein Irrtum und ihre Schwangerschaft vorausgegangen. Sie hatte es ertragen. Doch vor sieben Jahren lernte sie ihren Mann hassen. Er betrog sie eines Nachts und machte dies auf eine so verachtenswerte Weise, die sie ihm niemals verzeihen konnte und die einen Teil seines Charakters offenbarte, den sie vorher nicht hatte sehen wollen oder können.
Aus ihrer Sicht hatte alles mit dem zunehmenden Körpergewicht ihres Mannes begonnen. Sie war nicht schuldlos daran, weil sie anfangs seinen übermäßigen Appetit gefördert und sich ihm sexuell erst verweigert hatte, als sein Bauch es nicht mehr möglich machte, auf normale Weise zusammenzusein. Voller Ekel erinnerte sie sich genau an jenen Sommerabend, als sie mit zwei anderen Pärchen, alle aus dem Gasthof kommend und leicht betrunken, die Hügel hinaufgezogen waren. Sie wollten sich an einem Schäfer aus Ehrenfelde rächen und seine Schafe aus der Umzäunung treiben. Doch dann hatten sie sich im Stroh der Schäferhütte gebalgt, bis jedes Pärchen sich nur noch miteinander beschäftigte. Ihr Mann hatte mit ihr schlafen wollen, und weil sie sich wehrte, war er zu einem Schaf gegangen, hatte es niedergeworfen, an den Beinen gefesselt und zur allgemeinen Belustigung bestiegen. Sie war erschrocken davongelaufen, mußte aber noch hören, wie er das Tier mit ihrem Namen anfeuerte.
Sie war in den Gasthof gelaufen und hatte sich bis zum Morgen in einem der Gästezimmer verbarrikadiert. Auch am nächsten Tag war ihre Wut auf ihren Mann nicht abgeklungen. Von der Straße aus hatte sie ihn im Hof wirtschaften gesehen und gezittert vor Zorn. In diesem Moment war Trivial vorbeigekommen. Er stieß sie an, schubste sie in Richtung ihres Wagens. Mit Vollgas war sie auf den Hof gefahren und hatte ihren Mann mit der Stoßstange an die Wand gedrückt. Blind vor Wut hatte sie immer weiter Gas gegeben, bis jemand sie aus dem Wagen zerrte. Sie hatte ihren Mann umbringen wollen. Aber es war ihr nicht gelungen.
Sie haßte ihn nach wie vor, aber das Gefühl, ihm schaden zu müssen, verschwand. Aus Rücksicht auf ihn versuchte sie sogar ihr Verhältnis zu Jan geheimzuhalten. Nach jenem »Unfall« war sie ins Gutshaus zitiert worden und hatte alles vor Jans Vater beichten müssen. Er beschloß, sie nicht zu bestrafen und das zerschmetterte Bein ihres Mann auch für ihn Strafe genug sein zu lassen. Jan hatte sie danach nach Hause begleitet, ihr die Perspektive der Trennung und der Selbständigkeit aufgezeigt. Von diesem Tage an wuchs die Beziehung zwischen ihnen, wurde zum Abenteuer. Sie hatte nicht erwartet, daß es über so viele Jahre hinweg anhalten, geschweige denn ein Geheimnis bleiben würde.
»Er wird heiraten, mehr weiß ich auch nicht.«
Sie hatte gewußt, daß sie nicht die einzige Frau in Jans Leben war, zu keiner Zeit an bevorzugter Stelle stand. Er selbst hatte ihr von den anderen Frauen erzählt. Namen nannte er nie. Abgesehen von seinen Berliner Freundinnen gab es noch eine Frau aus dem Dorf, die wie sie manchmal des Nachts ins Gutshaus schlich und unter Jans Decke kroch. Sie wußte nicht, wer es war. Er machte auch kein Hehl daraus, daß er irgendwann ein ganz anderes Mädchen heiraten würde, um einen legitimen Nachkommen zu zeugen. Das machte ihre Beziehung zu dem Gutsherrn auf eigene Weise ehrlich.
Der Wirt grinste breit und zufrieden. »Wunderbar. Endlich heiratet er. Wer ist es?«
Dorothee Wischberg hob die Schultern. »Jemand aus dem Dorf.«
»Wird ja immer besser! Wer?«
»Ich weiß es nicht.«
Der Wirt runzelte die Stirn. »Was heißt das?«
»Daß ich es nicht weiß«, brüllte sie.
Er stand mit offenem Mund vor ihr und begriff nicht, was sie sagte. Sie klappte die Zeitschrift zusammen und legte sie ins Regal zurück.
Ihr Mann schloß den Mund und runzelte wieder die Stirn. »Du willst es mir nicht sagen, nicht wahr?«
Sie sah in sein von Alkohol und fettem Essen gezeichnetes Gesicht, und das Blut schoß ihr in den Kopf. Sie wußte plötzlich, warum sie ihm aus dem Weg gegangen war. Sie wußte, daß sie sich nicht mehr zähmen konnte, daß sie jetzt mit allem, was sie greifen konnte, auf ihn einschlagen und einstechen würde und daß er keinen Schutz hatte, außer der Blindheit ihrer Wut.
Er sah allmählich ein, was er für unmöglich gehalten hatte, nämlich daß seine Frau nicht wußte, wer die Auserwählte des Gutsherrn war, und registrierte gleichzeitig, daß in ihr etwas vorging, was seine Flucht dringend notwendig machte. Bevor er die Ausgangstür erreichte, streckte sie ihn mit einem Schlag des Grußkartenständers nieder.
Vielleicht wäre Dorothee Wischbergs Wut mit diesem Schlag verraucht gewesen, wenn ihr Mann nicht nach vorn gefallen wäre und versucht hätte, sich mit den Händen abstützend, wieder hochzukommen. Diese Stellung erinnerte sie so sehr an seine Begattung des Schafes, daß sie mit aller Kraft am Zeitschriftenregal zerrte, um es aus dem Gleichgewicht zu bringen und über ihm zusammenstürzen zu lassen.
Atemlos stand sie da, hörte das Wimmern ihres Mannes unter dem Regal. Sie nahm die Bewegung wahr, wie er sich von der Last zu befreien versuchte und es nicht schaffte, und das schien ihr so, als würde das Regal ihren Mann begatten – eine gerechte Strafe. Ihre Wut war wie weggeblasen, und das Chaos im Eingang ihres Laden löste nun bei ihr ein hysterisches Lachen aus. Sie lachte weiter, selbst als der Student die Ladentür aufstieß und mit erschrockenem Gesicht stehenblieb.
Sie lachte und sah zu, wie Jakob Finn die unter dem Regal herausragenden Arme des Wirtes entdeckte, an ihnen zog. Sie lachte noch immer, als er das Regal aufstellte, den Wirt von den Zeitungen und Zeitschriften befreite und ihm auf die Beine half.
Erst als beide Männer sie anstarrten, ging ihr Lachen in ein Glucksen über und erstarb.
Peter Wischberg humpelte stöhnend ein paar Schritte zur Seite und faßte sich ans Kreuz, aber er schien nicht ernsthaft verletzt zu sein.
»Was ist passiert?« fragte Jakob Finn.
»Der Gutsherr wird heiraten«, sagte der Wirt, ergriff jetzt seinerseits den runden Grußkartenständer und versuchte sich damit auf seine Frau zu stürzen.
Die Antwort verwirrte Jakob Finn so sehr, daß er nicht einschritt. Doch Dorothee Wischberg hatte das Unheil kommen sehen und war der plumpen Bewegung ihres Mannes ausgewichen. Und während er über das Drahtgestell fiel, fragte sie, als wäre nichts geschehen, den Studenten: »Sie wünschen?«
»Ich brauche Ihre Hilfe!«
Peter Wischberg kam hoch und drückte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hände gegen die Brust.
»Ich bringe dich um«, sagte er langsam zu seiner Frau. Sie zeigte nach draußen, als wäre die Straße der geeignete Platz dafür.
Dem Studenten gelang es, beider Aufmerksamkeit zu erhalten. »In
der Kurve am Dorfeingang liegt ein Mann.« Als beide ihn fragend
ansahen, ergänzte er: »Er ist weder betrunken noch verletzt. Ich
weiß nicht, was er hat.«
Zu dritt eilten sie die inzwischen vollkommen dunkle Dorfstraße hinunter. Die Wolken flohen vor ihnen, rissen kurz auf, um dem Mond Gelegenheit für ein kaltes und hastiges Signal zu geben. Eine Windbö bürstete die Baumwipfel. Dann standen sie über den Mann gebeugt. Der Wirt lächelte hilflos, setzte zu einer Erklärung an, aber seine Frau nahm ihm das Wort, erklärte, es handle sich um eine seltene Form der Katatonie, eine Art Trance, genetisch bedingt, nur hier im Ort anzutreffen, er solle sich keine Sorgen machen, sie und ihr Mann würden sich um alles kümmern.
Sie schickten ihn weg. Er schwankte einen Augenblick, als wäre er ein vom Wind bewegter Baum, dann ging er. Er glaubte ihr nicht.