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Sie hatte sich die Decke über den Kopf gezogen. Es war kalt unter dem prall gestopften Federbett. Aber Katharina hätte jetzt auch vor einem Kaminfeuer oder in einer heißen Badewanne gefroren. Sie wagte nicht, unter der Decke hervorzukommen. Sie wünschte sich weit weg, wollte in dem beeindruckenden Zimmer des Gutshauses genausowenig erwachen wie sonst in ihrer Kammer im Haus des Tischlers. Sie fragte sich, wie der Student in Hamburg wohnte, und stellte sich eine kleine (vergitterte) Kammer vor, mit einer Holzpritsche (mit Strohsack) und einem abgeschabten Tisch, auf dem sich alte, in Leder gebundene und vergilbte Bücher türmten. Sie lachte grimmig. Dieses verdammte Gutshaus verstellte ihr den Blick auf die Realität. Die dicken Mauern, der Marmor, die Ranken, Rosetten, Mäander machten aus ihr eine Art Aschenputtel. Sie sprach anders und dachte anders als sonst (in Ranken, Rosetten, Mäandern). Kein Wunder, wenn der Student in ihrer Phantasie plötzlich in einer Klosterzelle hauste.

Sie streckte den Kopf aus dem Bett. Die Sonne schien und sie hörte die Kirchenglocken. Jetzt kamen ihr die Gedanken aus der Nacht (Ranken, Rosetten, Mäander) absurd und fremd vor. Sie war mitten in der Nacht erwacht und nahe daran gewesen, das Gutshaus zu verlassen. So sehr war sie von Manuela Kotschiks wirrem Gerede verunsichert worden, daß ihr die Sinne einen Streich gespielt hatten. Als sie barfuß und nur mit dem steifen Leinenhemd bekleidet auf der Suche nach einer Toilette durch das Haus geschlichen war, hatte sie die Stimme gehört. Dorothee Wischberg schien noch immer irgendwo im Haus zu sein. War ihre Geschichte von der allnächtlichen und rein sportlich motivierten Klettertour eine Lüge? Doch Katharina hatte nicht herausfinden können, woher ihre Stimme kam.

Sie erinnerte sich sehr klar an die Worte von Dorothee Wischberg und an Jans amüsierte Antworten gestern abend in der Bibliothek. Man hatte ihr etwas vorgespielt. Ein Komödie, bei der sich alle auf ihre Kosten amüsierten. Und Jan hatte mitgespielt. Warum tat er das? Es war gemein. Aber sie war selbst schuld. Sie hatte es mit sich geschehen lassen. Beeindruckt von den dicken Mauern, dem Marmor, den Ranken, Rosetten und Mäandern.

Sie wusch sich, mußte ihr Kleid (auch so eine Reaktion auf das Gutshaus) wieder anziehen, obwohl sie jetzt am liebsten Hosen getragen hätte. Sie ließ die Tür des Gästezimmers bewußt laut ins Schloß fallen und stampfte den Flur entlang. Sie wollte sich nicht dem Haus anpassen. Glaubte Jan, ihr nicht alles mitteilen zu können, was im Gutshaus vor sich ging? Wollte er sie schonen? Oder war sie in seinen Augen ein dummes Bauernmädchen mit begrenztem Verstand, dem man aus diesem Grund nicht alles erzählte?

Andererseits – er hatte ihr schonungslos Geheimnisse seines eigenen Lebens offenbart. Intimitäten. Das paßte nicht zusammen. Da war also etwas, von dem sie noch nichts wußte. Irgend etwas ging in diesem Haus (dicke Mauern, Marmor, Ranken, Rosetten, Mäander, Intrigen, Perversionen) vor, was er ihr, vielleicht nicht einmal mit böser Absicht, verschwiegen hatte. Jan hatte ihre Unwissenheit zu seinem eigenen Vergnügen benutzt. Gut, das kam vor. Aber hinterher hätte er sie aufklären müssen. Sie hatte das verdammte Recht, alles zu erfahren, was in diesem Haus vor sich ging. Und zwar ohne Ranken, Rosetten und Mäander.

Sie verabscheute Situationen, deren Verlauf und Ausgang sie nicht kannte. Die Kontrolle über einen Vorgang zu verlieren war das gleiche, wie sie über sich selbst zu verlieren. Alles mußte aufgeklärt werden, sofort. Eine andere Art zu leben, gab es für sie nicht. Jan war zur Rede zu stellen. Wenn es keine befriedigenden Antworten gab, würde sie gehen. Zwar war der Vertrag unterschrieben, doch trat er erst in ein paar Tagen in Kraft. Und wenn sie es nicht wollte, geschah gar nichts. Notfalls konnte sie mit Hilfe von Jakob Finn sofort aus dem Ort verschwinden. Das war kein so schlechter Gedanke. Je öfter sie an den Studenten dachte, um so mehr gefiel er ihr. Sie lachte laut über sein Liebesgeständnis und hielt sich, als wäre sie bei etwas Ungehörigem ertappt worden, die Hand vor den Mund. Die Erinnerung an ihn verschaffte ihr zumindest wieder gute Laune. Sie ging durch das Haus, die große Treppe hinunter in die Halle. Niemand schien anwesend zu sein. Sie sah in alle offenstehenden Zimmer und entdeckte in dem üppig bepflanzten Wintergarten ein reichhaltiges Frühstücksgedeck. Auf alten Glastischen mit bronzierten gußeisernen Beinen, überragt von Palmenwedeln (was für ein Bild!), stapelten sich frischgebackene Brötchen (was für ein Duft!), englische Marmeladen, ein kleines Büfett mit Champagner, Lachs, Kaviar, großen Schalen voller Obst, darunter auch einige ihr unbekannte Früchte (was für Farben!). Der Luxus im Gutshaus überraschte sie immer wieder.

»Kaffee?«

Sie erschrak, erst jetzt bemerkte sie Werner Kotschik. Er löste sich in seinem dunklen Anzug aus dem Schattenspiel der Palmen und großblättrigen Pflanzen hinter dem Tisch.

Sie nickte. Er goß ihr eine Tasse ein. Sie bemerkte nicht nur seine eleganten Bewegungen, sondern auch sein attraktives Äußeres. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, daß dieser große, kräftige Mann mit der kleinen, in sich zusammengesunkenen Haushälterin verheiratet war. Und plötzlich wußte sie, was man ihr gestern abend verschwiegen hatte: Dorothee Wischberg war die heimliche Geliebte von Werner Kotschik. Die beiden paßten gut zueinander. Und sie paßten genau in diesen Raum. Wie ein Paar aus den zwanziger Jahren. Damit klärte sich alles auf, und selbstverständlich war Jan zu diskret, um darüber zu sprechen.

Sie lächelte Werner Kotschik an. Er hatte sicher kein einfaches Leben. So wie er da stand, war er wohl der eigentliche Chef des Alltags in diesem Haus. Aber natürlich kam eine Trennung von seiner geistig labilen Frau, die Gespenster sah und Stimmen hörte, nicht in Frage.

Obwohl sie sich bisher nie dafür interessiert hatte, konnte sie sich die gradlinige Welt der Angestellten im Gutshaus gut vorstellen.

Er kam mit der Tasse hinter dem Büfett hervor und führte sie zu einer kleinen Sitzecke mit Rattanmöbeln.

»Es tut mir leid«, sagte er mit einer Verbeugung, »aber ich kann Ihnen im Moment keine Gesellschaft verschaffen. Der junge Herr ist ausgeritten, und ich kann auch nicht den Verwalter bitten. Er ist ebenfalls nicht im Haus.«

»Ich weiß, ich bin ein wenig spät aufgewacht.« Ihre Stimme war dünn, aber sie wagte nicht, sich zu räuspern.

»Was darf ich Ihnen servieren?«

»Ich weiß es noch nicht. Ich bediene mich selbst. Danke.«

»Bitte.« Er ging, und sie sah ihm nach. Seine erstaunliche Erscheinung, der Duft des Kaffees und der Brötchen, die Sonne, die dem Wintergarten die Stimmung eines Südseestrandes gab, verscheuchten endgültig alle dunklen Zweifel der Nacht. Sie stand auf, öffnete eines der Fenster und sah hinüber zum Waldhang an der Herzensach. Für einen Moment war ihr, als hätte sie Trivial zwischen den Bäumen gesehen. Sie drehte sich um und betrachtete die Vielfalt der Pflanzen in den großen, wertvollen Porzellantöpfen. Viele von ihnen reichten fast bis an die Sonnensegel am gläsernen Dach. Sie ahnte ein Leben, das Lichtjahre von der engen Wohnung des Tischlers, seinen schleimigen Worten, seiner sich duckenden Frau und der staubigen Werkstatt entfernt war. Ein Leben wie im Märchen, in dem sie über alles hinwegflog und auf Herzensach hinunterblicken konnte, als läge dort eine Ansichtskarte auf dem Boden, die sie bei Gelegenheit verschicken würde: Viele Grüße, bin für ein paar Tage in meinem alten Dorf. Nette Leute, aber auf Dauer unerträglich. Eure Katharina van Grunten. Alles wird gut. Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage.

Sie stellte sich vom Büfett einen Teller zusammen und ging (schwebte) zurück zur Sitzecke. Erst jetzt entdeckte sie ein kleines Briefchen (parfümiert?), das unter der Vase mit den Narzissen festgeklemmt war. Es war mit ihrem Namen beschriftet (verschnörkelt?). Warum hatte Werner Kotschik sie nicht darauf aufmerksam gemacht? Sie war abgelenkt gewesen, und er hatte es als selbstverständlich betrachtet, daß sie es bemerkte. Sie öffnete es rasch (mit Herzklopfen?):

»Liebe Katharina, ich hoffe, Du konntest nach diesen seltsamen Ereignissen am Abend gut schlafen. Was für eine verrückte Welt.

Verzeih mir, aber eine alte Gewohnheit treibt mich früh hinaus in den Pferdestall und in den Wald.

Bitte, warte auf mich, denn eines hat mich dieser Abend gelehrt: Auf Deine Gesellschaft möchte ich nicht verzichten Jan«

Sie lächelte (versonnen?) und steckte den Brief (zwischen ihre Brüste?) zurück in den Umschlag. Alles war gut. In diesem Augenblick hörte sie den Schuß und seinen Nachhall. Es kam aus dem Wald. Sie blickte zum Fenster, stand auf und sah vor ihrem inneren Auge den Förster das Herz des Rehes herausschneiden, um es der Königin zu bringen.

Und als hätte der Knall eine posthypnotische Reaktion ausgelöst, ging sie traumwandlerisch durch die Halle und stieg die Treppen hinauf. Sie erinnerte sich nicht, jemals auf dem Flachdach der Seitenflügel gewesen zu sein, doch sicher gab es einen Zugang. Jetzt mußte sie hinauf. Im zweiten Stock gab es eine Tür, die ins Freie zu führen schien. Sie war abgeschlossen, doch der Schlüssel hing daneben in einem kleinen Kasten. Sie öffnete die Tür. Es war ein Dachgarten, allerdings war er wohl lange nicht benutzt worden. Ein paar verrottete eiserne Gartenmöbel standen herum. Moos bedeckte die Steine. Birken hatten sich ausgesät, wuchsen klein und verkrüppelt in den Ritzen. Um einen Fahnenmast, von dem die Farbe abblätterte und eine Schnur in Fransen herabhing, gruppierten sich zersprungene Töpfe mit vertrockneten Pflanzen. Sie ging zur steinernen Brüstung und sah hinüber zum Wald. Weit entfernt stieg ein Mann einen der Wege zum Heidberg hinauf, verschwand eine Zeitlang hinter Bäumen, tauchte wieder auf. Am Gang erkannte sie den Förster. Dann bemerkte sie unten an der Herzensach zwei weitere Personen, doch sie waren immer wieder von Büschen verdeckt, so daß sie keinen erkannte. Jetzt tauchte einer allein auf, ging in Richtung Gutshaus. Es war der Verwalter. Sie beobachtete, wie er plötzlich die Richtung nicht mehr einhielt, ein Stück zum Dorf ging, dann wieder zum Gutshaus einschwenkte, schließlich einen Weidenzaun überkletterte und sich für das Dorf entschied. Nein, doch zum Gutshaus zurückging.

Wo war der andere geblieben? Jetzt sah sie ihn. Er überquerte die Herzensach auf den im Fluß liegenden Steinen. Es war der Student, der so unbeholfen balancierte. Sie lächelte bei dem Gedanken an seinen Sturz ins Wasser. Auf der anderen Seite ging er ein Stück am Waldrand entlang, setzte sich und sah zum Gutshaus hinüber. Sie winkte, aber er bemerkte sie nicht. Jetzt spürte sie, daß sie ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte. Sie hätte ihm sagen sollen, daß sie sich mit Jan verbinden wollte.

Es war nicht weit bis zum Waldrand, sie konnte hinüberlaufen. Sie ging die Brüstung entlang. Vor dem Stall waren Pferde angebunden. War Jan zurückgekommen, und sie hatte es nicht bemerkt? Ein Stallknecht ging nach vorn. Sie beobachtete ihn. Er verschwand in einem der Landarbeiterhäuser. Ein grauer Wagen bog von der Dorfstraße in die Pappelallee ein, die zum Gutshaus führte. Besuch? Wie spät war es? Sie hatte ihre Armbanduhr im Gästezimmer liegenlassen. Die Kirchenuhr befand sich an der Vorderseite des Turms, war nicht zu sehen. Sie lehnte sich auf die Brüstung und wartete, bis der Wagen vor dem Haus angekommen war. Der Fahrer stieg aus. Er trug eine Uniform. Es war ein Polizist. Er beugte sich zurück in den Wagen, kam mit seiner Mütze wieder hervor und setzte sie auf. War ein Unglück geschehen? Auf der anderen Seite stieg ein Mann ohne Uniform aus. Beide bewegten sich gemächlich. Jetzt stieg noch ein dritter in einem dünnen Trenchcoat aus dem Fond. Er war wesentlich jünger, hatte helles, blondes Haar. Er legte die Hände in den Rücken, streckte sich und sah zum Haus hinauf. Er entdeckte sie und lachte. Katharina zuckte zurück, fühlte sich ertappt. Sie stieg die Treppen hinunter und ging in das Gästezimmer, um ihre Uhr zu holen. Sie lag nicht mehr auf dem Tisch neben dem Bett. Sie suchte das Zimmer ab und fand sie schließlich unter dem Bett. Als sie mit der Uhr wieder hervorkam, hörte sie, wie das Zimmer verschlossen wurde. Sie sprang zur Tür.

»He, hallo!« Sie schlug gegen das Holz. Niemand antwortete. Die Tür blieb verschlossen. Sie legte das Ohr dagegen. Draußen stand jemand. Sie hörte ihn atmen. Erst jetzt erwachte sie. Alles war falsch.