53

An diesem Sonntag staute sich die Wärme so sehr im Herzensacher Tal, daß gegen Mittag bereits Temperaturen wie im Hochsommer herrschten. Der Pfarrer schwitzte. Er trug noch seinen Talar und darunter die dicke Kleidung, wie sie um diese Jahreszeit bei einem Gottesdienst in der kalten Kirche normalerweise notwendig war. Er warte vor dem Haus des Tischlers. Langsam wurde er ungeduldig. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Petra Timber hatte sich nur umziehen wollen, bevor sie gemeinsam zum Gutshaus gingen. Katharina mußte die Wahrheit erfahren.

Er drückte mehrmals kurz auf die Klingel und sah zu dem offenen Küchenfenster hinauf. Petra Timber beugte sich mit verheultem Gesicht heraus.

»Pedus – ich kann nicht.« Sie schluchzte und schneuzte sich. »Du mußt es allein machen. Geh zu ihr und sag es ihr. Ich kann es nicht. Wirklich, ich kann es nicht.« Sie schniefte und sah ihn flehend an. Der Pfarrer überlegte, er konnte Katharina die Wahrheit sagen, aber danach wohl kaum besänftigen. Ihre Mutter hatte sich über zwanzig Jahre verleugnet.

»Nein«, rief er, »wenn du Katharina als Tochter behalten willst, mußt du gehen.«

»Der Tischler wird mich verstoßen.« Sie heulte auf wie eine Sirene.

»Aber du gewinnst eine Tochter!« (Die ist mehr wert als der Tischler.) Er senkte die Stimme. »Und ein halbes Gutshaus dazu.« Vielleicht zeigte der Reiz des Kapitals Wirkung.

Der Heulton erstarb. Sie zog den Kopf zurück, und kurz darauf erschien sie vor dem Haus. Sie hatte sich gefaßt, trug ihr dunkelblaues Festtagskleid und lächelte verbissen. »Ich gehe allein.« Sie ließ ihn stehen und überquerte die Dorfstraße. Das Kleid lag unschlüssig auf ihren Hüften. (Früher ...)

»Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Es ist deine einzige Chance«, rief er ihr nach. Sie antwortete nicht. Ohne sich noch einmal umzusehen, betrat sie die Allee zum Gutshaus, als wollte sie dort sofort die Herrschaft übernehmen.

Der Pastor wußte, wie immer es ausging, sie würde nie wieder in das Haus des Tischlers zurückkehren. Vielleicht fand sie tatsächlich ein neues Zuhause auf dem Gut. Vielleicht irrte sie in Zukunft durch eine trostlose Welt, von einer verschlossenen Tür zur anderen. Er sah ihr nach, bis sie hinter der Pappelreihe verschwand. Notfalls würde er sie im Pfarrhaus aufnehmen.

»Pedus?«

Er fuhr herum und blickte in Wilhelm Webers Gesicht, der dabei war, seine Gesichtsmuskeln zu trainieren, indem er mehrmals den Mund spitzte und wieder erschlaffen ließ, dann die Nase rümpfte und schließlich noch die Lippen in die Mundhöhle saugte.

»Willi?«

»Hast du diesen Studenten gesehen?«

»Warum?«

»Er ist bei mir eingebrochen. Er hat meine Meerschweinchen umgebracht. Ich habe ihn überwältigt und gefesselt. Jetzt komme ich zurück und sehe, daß Lisa ihn befreit haben muß. Er hat sie vermutlich mitgenommen. Gar nicht auszudenken, was er mit ihr machen könnte! Ich denke, es ist an der Zeit, diesem Kerl den Hals umzudrehen. Damit tun wir dem ganzen Dorf einen Gefallen.«

»Bist du sicher, daß es so war?« Der Pfarrer wollte ihm eine Chance geben.

»Na klar, habe ich doch selbst gesehen.«

»Ich habe den Studenten bei dir befreit.« Letzte Chance für Wilhelm Weber.

»Du? Nö, glaub ich nicht. Will ich gar nicht glauben.«

»Und dann habe ich ihn in den Brunnen gesperrt.«

»Prima. Laß uns hingehen und ihn umbringen.« Wilhelm Weber rieb sich die Hände.

»Damit er nicht erzählen kann, wie es wirklich war?«

»Meinst du etwa, ich bringe, um ein Beweismittel zu haben, meine Meerschweinchen um, und der Kerl bleibt leben! Wo sind wir denn?«

»In Herzensach. Und die gesamte Bevölkerung ist hinter dem Studenten her.«

»Prima.«

»Außerdem hat deine treue Lisa versucht, ihn wieder einzufangen.«

»Ha! Ich wußte, daß ich mich auf sie verlassen kann!«

Der Pastor verschwieg, daß der Student nicht mehr im Brunnen saß. Er traute Wilhelm Weber nicht, auch wenn dessen Mordlust eher gespielt war. Der Wurstfabrikant war ein einfacher Mann und löste seine Probleme gern mit Gewalt.

Er nahm ihn mit, führte ihn zu Lisas Leiche. Mit dem starken Mann ging eine Verwandlung vor sich. Er fiel in sich zusammen und begann mit erstickter Stimme und unbeholfen von seiner Liebe zu dem Mädchen zu sprechen. Ihr gegenüber hatte er sich noch nicht offenbart. Er hatte seiner Liebe sechs Monate Wartezeit geben wollen, damit sich eventuell auch seine Frau besinnen und zurückkehren könne, »jene Zeit, die auch ein Schwein braucht, um schlachtreif zu werden«, wie er sich ausdrückte.

Er streichelte die Schultern des toten Körpers und gab ein knurrendes Geräusch von sich. Der Pastor stieg über ihn hinweg, holte ein Glas aus dem Schrank und wollte es mit Wasser füllen. Der Schlachter sprang auf und schlug es ihm aus der Hand, dann begann er wüst auf den Tischler zu schimpfen. Schließlich gestand er, daß der Wasserhahn unter Strom stand.

»Der Tischler hat es gemacht. Ich mußte ihm dabei helfen. Nein, warte, es war anders. Ich habe nur zugesehen. Ich verstand gar nicht, was er da machte. Ich bin vollkommen unschuldig ...«

»... an Lisas Tod. Natürlich, du Idiot!« Der Pfarrer wurde zornig. »Da siehst du es: Du hast sie selbst umgebracht. Was ist aus dir geworden? Ein Mörder!«

Wilhelm Weber ließ den Kopf hängen und kaute auf seinen Lippen. »Scheiße, Scheiße, Scheiße«, wiederholte er unablässig. Der Pfarrer machte weiter in seiner Wut.

»Über viele Jahre hinweg haben wir uns regelmäßig im Gutshaus getroffen. Du, Bernhard Andree, der Förster und ich. Gemeinsam mit dem Gutsherrn stellten wir die Vertreter der Vernunft in Herzensach dar. Du weißt, warum das notwendig war.«

»Ja, ja, schon gut.« Wilhelm Weber beugte sich zu Lisas Körper hinab und strich ihr übers Haar. »Dann laß uns jetzt zusammenkommen und sehen, wie wir es wieder hinbiegen.«

»Endlich wirst du vernünftig. Es gibt nämlich noch eine Leiche.«

»Meinst du die alte Maria Glaser?« Er stutzte. »Sollte sie nicht heute oder morgen beerdigt werden? Wir könnten sie zusammen in ein Grab ... und weg ... und Stillschweigen.«

»Willi!« warnte der Pfarrer.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße.«

Sie verließen die Wohnung und gingen hinüber zum Haus des Arztes. Mit der unnatürlichen Wärme waren unzählige Fliegen gekommen, die sich träge in kleinen grauen Wolken über die Dorfstraße bewegten. Manche entfernten sich von ihrer Gruppe, um die Stirn der beiden zu rammen. Aus den geöffneten Fenstern des Gasthofs drangen Lärm und Rauch. Der größte Teil der Gäste vom vorigen Abend schien noch immer zu zechen. Auch die fremde Leiche saß noch auf ihrem Stuhl.

Doktor Bernhard trat aus dem Haus und zog die Tür schnell hinter sich zu.

»Meine Frau ...«, sagte er. Es sollte entschuldigen, warum er den Pastor und den Schlachter nicht hereinbitten konnte. Die beiden wußten, daß Heidelinde Wulf nichts für sie übrig hatte, und nickten.

»Er ist weg«, sagte der Arzt und sah dabei zur Tischlerei hinüber. Der Pfarrer verstand nicht, wen er meinte.

»Er ist geflohen ... ich meine, er ist weggegangen. Das Labor war natürlich offen. Also, ich meine, er konnte ja gehen, wenn er denn wollte. Das wollte ich sagen.«

»Der Student?«

Der Arzt nickte.

»Ich denke, der ist im Brunnen?« fragte Wilhelm Weber. Der Pfarrer hatte keine Lust, es ihm zu erklären.

»Wo kann er hin sein?« Dem Arzt gelang es ganz kurz, den Pfarrer und darauf auch den Schlachter anzusehen. »Ich habe ihm nämlich eine Spritze ... also, nur so zur Beruhigung ... aber sie, also sie bewirkt ... wie soll ich das sagen ...« Er ließ es bleiben. Es war zu kompliziert. Und wer sollte dafür Verständnis haben.

»Wir müssen ihn suchen und in Sicherheit bringen. Ich fürchte, die Dorfbewohner wollen ihn immer noch töten. Wir sind die einzigen, die das verhindern können.« Der Pfarrer spürte, daß die beiden nur geringes Interesse daran hatten. Der Arzt sah die Straße hinauf und hinunter, als erwarte er jemanden, und Wilhelm Weber lehnte sich gegen die Hauswand und nahm mit großem Interesse seine Fingernägel in Augenschein.

Es entstand ein langes Schweigen.

»Verdammt«, vergaß sich der Pastor. Er schüttelte unwillig den Kopf. Danach legte er sich eine überzeugende Predigt zurecht. Aber bevor er damit beginnen konnte, sagte der Schlachter: »Ist der wirklich tot?« Der Pastor folgte der Linie des ausgestreckten Fingers. Sie endete bei dem vor dem Gasthaus auf eine Stuhl sitzenden Mann.

»Doch nicht tot, oder?« Der Arzt suchte Hilfe beim Pfarrer.

»Nicht tot?« Weber runzelte die Stirn.

»Doch, doch«, bestätigte Rudolf Pedus.

»Doch tot?« Der Arzt.

»Ja, doch.« Der Pfarrer.

»O Gott.« Der Arzt.

»Was jetzt?« Weber, gereizt.

»Tot.« Der Pastor zuckte mit den Schultern.

»Ich geh dann.« Der Arzt drehte sich um.

»Moment.« Rudolf Pedus hielt ihn am Ärmel fest. »Gehen wir hinüber.« Zu dritt würde es ihnen vielleicht gelingen herauszufinden, wer das war und wie es geschehen war. Und vielleicht gelang es ihnen sogar, dem trunkenen Treiben im Gasthof ein Ende zu bereiten.

Der Arzt untersuchte die Leiche notdürftig, ohne sie vom Stuhl zu binden, und gab seine Einschätzung ab, daß der Mann nicht an der Schußwunde in der Schulter, sondern schon vorher gestorben sei. Wahrscheinlich trotz seiner Jugend an Herzversagen. Den fehlenden Daumen hätte der Pastor erklären können, tat es aber nicht.

Mit schnellen Schritten kam der Gutsverwalter die Straße herunter. Schon von weitem rief er: »Lassen Sie mich sein Gesicht sehen!«

Er drängte sich an dem Arzt vorbei, hob den Kopf des Toten und ließ ihn erleichtert wieder fallen. »Entschuldigen Sie, ich dachte, es wäre mein Bruder.«

»Ihr Bruder?« Der Pfarrer kannte die Geschichte. Wieso?« Jürgen Vietel winkte ab. »Es gibt Wichtigeres. Der Gutsherr ist soeben verhaftet worden.«

»Was?« Ein Mann hing aus dem Fenster der Wirtschaft. Er hatte mitgehört.

Die Nachricht bewirkte, daß sich die Zecher nach und nach auf der Straße versammelten. Jürgen Vietel erzählte die ganze Geschichte. Und während sie von Mund zu Mund weitergegeben, verändert wurde (mal war der Gutsherr bereits erschossen worden, mal an das Gatter der Einfahrt gefesselt, dann wieder bereits auf der Fahrt zu einer Sträflingsinsel), während sich die Sachlage allmählich klärte und die berauschte Menge sich immer mehr an der Idee berauschte, den Gutsherrn zu befreien, standen sich Jürgen und Dieter schweigend gegenüber. Schließlich grinsten sie einander an und nahmen sich lachend in die Arme.

»Ich habe dir die Leiche mitgebracht«, sagte Dieter.

»Du süßer Idiot.« Jürgen küßte seinen Bruder auf die Wange. »Hoffentlich hast du ihn nicht umgebracht?«

»Nein, die Zeiten sind vorbei.«

Sie sahen einander in die Augen, registrierten nicht, daß die Menge immer lauter und hitziger diskutierte, was zu tun sei, bis sich alle mit der Absicht entfernten, zu den Waffen zu greifen und Jan zu befreien. Sie küßten sich, während der Pastor die Menge aufzuhalten versuchte.

Der Arzt und der Schlachter unternahmen nur halbherzige Versuche einzugreifen, denn immer wieder wurde auch der Ruf laut, der Student sei an allem schuld. Das gefiel ihnen.