6

Ein unruhiger Schlaf quälte Jakob Finn. Mehrmals erwachte er vollkommen desorientiert, wußte sekundenlang weder, wo er war, noch warum. Einmal glaubte er, Stimmen aus der Gastwirtschaft zu hören, doch als er sich im Bett aufsetzte, verstummten die Geräusche. Ein anderes Mal schreckte er scheinbar grundlos hoch, stand schwankend auf und trat ans halb geöffnete Fenster. Doch draußen war alles ruhig. Wolken verdeckten den Mond, und der Asphaltbelag der Dorfstraße wirkte wie ein tiefer, dunkler Graben, der die Erde teilte. Vielleicht war es das, was ihn geweckt hatte: Die Erde brach gerade auseinander. Auf der sich langsam entfernenden Seite fiel aus einem Hinterzimmer (der Backstube?) der Bäckerei ›Kornblume‹ ein dünner Lichtstrahl quer durch den Laden bis zu dem mit Blumen dekorierten Brotkorb im Schaufenster. Ein geschickter Werbemensch hätte es nicht besser anordnen können. Doch niemand sah es. Jakob horchte auf die nächtlichen Geräusche des Dorfes, doch da war nichts außer einem rhythmisch sanften Rauschen, als würde die Erde atmen. Vielleicht zerbrach die Welt doch nicht – statt dessen war der schwarze Graben ihr Mund, der sich nächtens öffnete? Einige Frösche begannen im Dorfteich zu quaken. Links, auf der anderen Straßenseite, knackte etwas an der weißen Friedhofsmauer. Zu ihren Füßen lag ein Schatten, es hätte der große Hund sein können.

Der Student kroch zurück ins Bett. Er schlief ein und träumte: Der Anwalt seiner Eltern eröffnete ihm mit Trauermiene, sein Vater und seine Mutter hätten den Flugzeugabsturz überlebt und säßen im Vorzimmer, um ihn zu begrüßen. Doch als er die Tür öffnete, war da nur ein schwarzer, tiefer Schacht, und er mußte sich krampfhaft am Türgriff festhalten, um nicht hineinzufallen. (In solchen Momenten wurde er sich immer bewußt, daß er träumte.) Dann sah er sich gemeinsam mit seinem Vater über einen Tisch gebeugt. Sie formulierten den Text der Todesanzeige, und Jakob mußte ihn aufschreiben. Am Schluß setzten seine Eltern feierlich ihre Unterschrift darunter. Als er den Text noch einmal durchlesen wollte, kam er immer nur bis zur Überschrift. Sie lautete: »Geschlechtskrankheiten«.

Als er erneut erwachte, warf die eben über die Hügel gekommene Sonne einen Lichtreflex an seine Zimmerdecke. Jakob entdeckte die spiegelnde Fläche in der Seitenscheibe eines Autos. Ein Lieferwagen, der vor der Bäckerei ›Kornblume‹ parkte und beladen wurde. Seine Seitenbeschriftung wies auf die Filialen in Ehrenfelde und Weinstein hin und machte Reklame mit einem großgeschriebenen Slogan, der Jakob an der Werbebranche zweifeln ließ. Er lautete: »Kornblume – Brot ... mit Tränen gebacken!«

Der große Hund saß an der Kirchenwand, die der Friedhofsmauer gegenüberlag, und blickte zu ihm hinauf; schließlich schüttelte er den Kopf, erhob sich, trottete zu dem Bäckerwagen, um gegen einen Reifen zu pinkeln, und zog weiter bis zu dem Haus, das als Arztpraxis ausgewiesen war. Man hatte das zweistöckige Gebäude im Stil den alten Fachwerkhäusern des Dorfes angeglichen. Jakob kniff die Augen zusammen, um die Jahreszahl in dem Balken über der Tür zu erkennen. Der Hund schnüffelte am Holzzaun des üppig mit Frühjahrsblumen bewachsenen Vorgartens, schüttelte noch mal den Kopf, setzte sich und kratzte sich mit dem Hinterbein am Ohr. Plötzlich drehte er sich um und lief im schnellen Trab denselben Weg zurück, bog am Ende der Friedhofsmauer zur Kirche ab und verschwand in dem dahinterliegenden Haus, in dem wohl der Pastor wohnte. Wahrscheinlich war ihm eingefallen, daß er dort sein Frühstück bekam.

Jakob Finn gefiel das Dorf. Nur die Bewohner schienen ihm seltsam. Der Autounfall hatte ihn wie einen Schiffbrüchigen an den Strand einer Insel geworfen, auf der fremdartige Eingeborene lebten. Jakob lachte und trat vom Fenster zurück. Er wurde sich seiner Arroganz bewußt: Daß es Großstädter immer drängte, ihre Lebensform als einzig richtige hinzustellen!

Luise Wischberg, die sechzigjährige Mutter des Gastwirts, eine schlanke Frau mit etwas nervösen Bewegungen und verschmitztem Blick, bereitete ihm das Frühstück. Rührei auf gebratenem Speck, selbstgemachte Brombeermarmelade, frisches Bauernbrot und Kaffee, soviel er wollte. Sie entwickelte Ehrgeiz. Er war der einzige Gast. Nachdem sie ihm alles serviert hatte, holte sie sich von der Theke eine Zeitung und ließ sich zwei Tische entfernt nieder. Eine Weile beobachtete sie ihn, freute sich an seinem Appetit, dann sagte sie: »Verhungert ist hier noch keiner.«

Sie blickte auf die Zeitung.

»Ach Gott, waren Sie etwa auch in diesen Auffahrunfall auf der Autobahn verwickelt?«

»Nein.«

»Sechs Tote steht hier und sechzig Autos. Mein Sohn hatte ja auch mal einen Unfall. Sechs sind eigentlich wenig Opfer, meinen Sie nicht auch? Manchmal frage ich mich, ab wieviel Toten eine Nachricht ins Fernsehen kommt. Ich meine, in die landesweiten Nachrichten. Und ab wieviel Toten wird eine internationale Meldung daraus? Was meinen Sie? Ach, jetzt hätte ich es fast vergessen: Das Abschleppunternehmen hat angerufen. Wenn man sich nicht alles aufschreibt. Als mein Sohn den Unfall hatte ... Er hinkt seitdem, haben Sie das bemerkt?«

»Was ist mit dem Abschleppunternehmen?«

»Ach ja, sie können erst gegen Mittag kommen. In meinem Alter wird man vergeßlich. Wissen Sie, mein Mann war hier schon der Wirt, und mein Sohn hat hinten im Hof gestanden, und Dorothee – Sie kennen Dorothee? Nicht?« Sie stand auf und kam mit der Zeitung an seinen Tisch, setzte sich ihm gegenüber: »Ich gebe zu, Dorothee ist ein bißchen zickig, aber nun mal meine Schwiegertochter, sie macht den kleinen Laden nebenan. Zeitungen, Zigaretten und neuerdings Lebensmittel. Wissen Sie, was ich ihr hoch anrechne? Daß sie nie in Versuchung gekommen ist, eine Postkarte von Herzensach herstellen zu lassen. Ich sage das nur, damit Sie nicht überrascht sind, wenn Sie jemandem schreiben wollen. Haben Sie jemanden, dem Sie schreiben müssen? Aber zurück zu Dorothee. Sagen wir mal, sie hatte aus Versehen den falschen Gang eingelegt. Tja, und seitdem hinkt er, mein Sohn.«

Jakob hörte lächelnd zu. Er verstand gar nicht, worum es ging, und fragte nicht nach. Er hätte lieber etwas über den Bauernhof erfahren, den er gestern fluchtartig verlassen hatte, doch jetzt, am frühen Morgen, erschien ihm sein Erlebnis noch unwirklicher. Plötzlich fiel ihm der seltsame gelbbraune Hund mit dem intensiven Blick wieder ein.

»Der Hund ...«, begann er.

»Nein, nein«, unterbrach sie ihn sofort. »Andererseits, so ganz unrecht haben Sie nicht, manchmal benimmt er sich wie einer, und ein guter Ehemann ist er wahrlich nicht. Aber muß man jemandem deshalb gleich in voller Fahrt die Stoßstange ins Knie rammen?«

»Ich meine den großen gelben Hund.«

»Ach, Trivial.« Sie lachte. »Und ich dachte, Sie reden von meinem Sohn. Um Trivial brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Der gehört dem verrückten Pastor Pedus. Wie kann man einen Hund Trivial nennen? Verstehen Sie das?«

In der Küche war ein Klappern zu hören. Ihr Kopf zuckte herum. »Karin, was machst du da?«

Das dicke Gesicht der sechzehnjährigen Wirtstochter erschien in der Durchreiche. Entschuldigend hielt sie ein Glas Milch hoch.

»Zeig sofort die andere Hand!«

Ein zusammengelegtes Marmeladenbrot kam zum Vorschein. Die Großmutter schüttelte den Kopf.

»Mein Gott, wenn du nicht aufhörst zu fressen, kriegst du nie einen Mann.«

Karin zog sich grinsend zurück.

»Sind Sie verheiratet?«

»Nein.«

»Wie alt sind Sie?«

»Achtundzwanzig.«

»Dann kommen Sie wohl nicht in Frage.«

»Nein, nicht so recht.«

Sie lachten beide. Sie griff über den Tisch nach seiner Hand.

»Nehmen Sie es nicht so. Es ist einfach meine direkte Art. Ich sage, was ich denke, und weiß gern, woran ich bin.«

Sie zog die Hand zurück. »Von den heiratsfähigen Töchtern im Dorf kann ich Ihnen guten Gewissens nur die Tochter des Försters empfehlen. Claudia ist zwar schon neunundzwanzig ... vielleicht doch schon zu alt für Sie? Aber sie ist hübsch, und Sie bekommen einen erstklassigen Schwiegervater dazu. Er ist nämlich nicht so wie die Tölpel hier aus dem Dorf. Er kommt aus Frankfurt und ist erst Förster geworden, nachdem seine Frau ermordet worden war.« Sie hatte die Stimme etwas gesenkt, als gelte es, dies als Geheimnis zu bewahren. Sie kam etwas näher. »Hat er Ihnen das erzählt? Sie waren doch gestern lange mit ihm unterwegs.«

Jakob schüttelte den Kopf.

»Ein tragischer Fall und so ein schöner Mann. Wissen Sie, manchmal glaube ich, daß Töchter, die nur vom Vater aufgezogen werden, einfach schöner sind. Und wenn der Vater dazu noch Förster ist ...« Sie lachte plötzlich laut. »Wissen Sie, daß ich seine Tochter eben als schußfest bezeichnen wollte, wie einen Hund. Sie sollten Claudia kennenlernen.« Sie kniff die Augen zusammen und lächelte, als gelte es, ihn zu verkuppeln. Er nickte, erzählte von seinem Plan, eine Zeitlang mit dem Förster zusammenzuarbeiten.

»Frisches Blut«, rief sie aus und griff nach seinem Arm, als wollte sie die Festigkeit seiner Muskeln prüfen. Dann ging sie alle anderen Töchter des Dorfes durch, verwarf sie aber nacheinander als zu jung oder zu alt. Die einzige, die Jakob interessierte, schien nicht dabei zu sein, und er erzählte ihr von seiner Begegnung mit dem Mädchen auf der Landstraße.

»Uh«, sagte sie, »Katharina! Die zählt nicht. Nein, die können Sie vergessen. Den möchte ich sehen, der es schafft, sie aufzutauen. Das bedeutet Arbeit. Viel Arbeit, denn sie ist ein hübsches Mädchen, aber sie will nichts davon wissen. Absolut nicht. Sie ist die Tochter des Tischlers, unserem Hallodri von Bürgermeister, und auch wieder nicht, sondern nur sein Pflegekind. Katharina, nein, nein! Es soll ja mal einer einen Stein geküßt haben, bis er weich wurde. Vor zwanzig Jahren – oder ist es schon länger her – lag sie auf einer Stufe vor der Kirche. Ein Findelkind. Vielleicht war das ein Zeichen, und sie wäre besser ins Kloster gegangen. Hockt ja oft genug beim Pastor rum; der hat sie die ersten vier Jahre aufgezogen. Wenn Ihnen Katharina gefällt, haben Sie allerdings einen Vorteil: Bei der Stachelbeere kommt Ihnen keiner in die Quere. Na, was rede ich, lassen Sie uns erst mal darauf anstoßen, daß Sie hier im Ort bleiben.«

Sie ging hinter die Theke und kam mit einer Flasche zurück. »Jetzt gucken Sie nicht so, ich weiß, daß es noch ein bißchen früh ist, aber darauf muß ich mit Ihnen anstoßen. Das ist eine Überraschung. Ein hübscher junger Fremder in Herzensach, was wird man sich das Maul zerreißen – oder Sie umbringen.«

Sie öffnete die Flasche und goß zwei kleine Gläser voll. »Es ist echter Herzensacher Likör, Sorte ›Bumsfidele Brombeere‹. Mein Sohn stellt das Zeug her, aber ich passe auf, daß er nichts Unrechtes hineintut, das ist ihm nämlich zuzutrauen. Er ist ein miserabler Wirt.«

Das Etikett der Flasche zeigte einen von Brombeerranken umrandeten Ausschnitt von Herzensach. Im Zentrum des Bildes stand der Gasthof. »Herzensacher Likör – Bumsfidele Brombeere nach altem Familienrezept« stand in goldener Schrift darüber. Sie prosteten einander zu, und er mußte ihr versprechen, sie über seine Eindrücke vom Dorf auf dem laufenden zu halten.

»Wenn Sie die Möglichkeit hätten fortzuziehen«, fragte er, »würden Sie es tun?«

Sie stutzte. »Sie sind mir einer«, sagte sie und verschaffte sich damit Bedenkzeit. »Sie werden lachen, aber ich würde bleiben, weil ich sehen will, was mit Ihnen geschieht.«

Sie beugte sich über den Tisch und senkte die Stimme. »Tun Sie mir einen Gefallen, und suchen Sie sich ein anderes Quartier, auch wenn ich Sie gern im Hause hätte. Ach was, ich werde einfach etwas für Sie besorgen.« Sie wurde ernst, schwieg eine Weile, schließlich seufzte sie. »Ich muß Sie warnen, kommen Sie niemals sonntags abends in die Gastwirtschaft. Niemals. Versprechen Sie mir das.« Sie legte wieder ihre Hand auf seinen Arm.

Er wollte gerade nachfragen, was denn an den Sonntagen so Schreckliches geschehe, da dröhnte es von draußen, als würde jemand einen riesigen Gong schlagen.

Die Mutter des Wirts legte die Hände auf die Ohren.

»Das ist der verrückte Pastor Pedus. Er spricht wieder mit Gott!«