21

War es so? Das Idyll Herzensach (war es eins?) hatte ihn innerhalb dreier Tage mit einer besonders schnell wachsenden Kletterrose (seiner eigenen blühenden Begeisterung) umrankt und gefangengenommen. Nun hatte die Kletterpflanze Dornen ausgebildet, und einige der Stacheln hatten sich in seine Haut gebohrt, hatten verhindert, daß er einschlief – wie Dornröschen.

Er wußte nicht, ob es Katharinas Ohrfeige, der Blick des Tischlermeisters oder die Begegnung mit Jan van Grunten gewesen war, was ihn in jene Wirklichkeit zurückversetzt hatte, aus der er gekommen war. Man wollte ihn nicht, lehnte ihn ab, war ihm feindlich gesinnt. Auch der Gutsherr. Erst im nachhinein wurde ihm bewußt, daß er einer Theateraufführung beigewohnt hatte. Der Mann war nicht echt.

Schon gestern hätte er seinen Wagen in Weinstein abholen können, hatte es aber hinausgeschoben, weil er ihn scheinbar nicht benötigte. Er war auch nicht echt gewesen. Beide, der Gutsherr und er, waren sie Zitate aus einem Buch, Figuren aus einem Film. Theater. Selbstvergessen. Zurück in die Wirklichkeit der Schläge und Feindseligkeiten und Fahrpläne. Er stand an der Bushaltestelle nach Weinstein, studierte die Abfahrtzeiten und war in Gedanken bereits in Hamburg. Vier Tage hatte er in den fotorealistischen Kulissen eines Bühnenstücks geschlafen. Wach auf, du Dummkopf, hatte er sich an diesem Morgen gesagt, du träumst. Dieses Dorf war so häßlich, rückständig, öde, verschimmelt wie alle anderen, seine Bewohner verbohrt, einfältig und, wie nicht anders zu erwarten bei einem perversen Bürgermeister, voller idiotischer Macken. Katharinas trotzige Art hatte ihn herausgefordert. Ein Spiel. Was sollte er sich mit ihr abgeben? Schluß. In Hamburg gab es genug Frauen, die interessanter waren.

Jakob Finn lächelte grimmig, fast wäre es diesem Mädchen gelungen, aus ihm einen Dummkopf zu machen. Nein, Herzensach war nur noch Objekt wissenschaftlichen Interesses, man beugte sich mit einem Vergrößerungsglas darüber und beobachtete das putzige Krabbeln. Und wenn man Vergnügen daran hatte, stieß man einen der Käfer an, damit er auf den Rücken fiel. Schon interessant, daß sie sich von allein nicht umdrehen können. Notieren wir das mal! Vielleicht würde es ihm gelingen, die Dauer seines Aufenthalts zu reduzieren. Vielleicht genügte es, alle vierzehn Tage oder einmal im Monat die Messungen und Beobachtungen vorzunehmen? Jemand stieß ihn am Knie. Er sah herab. Der Hund war herangetrottet, hatte sich gesetzt und an sein Bein gelehnt. Der Student fuhr ihm kraulend zwischen die Ohren.

»Falls du sie siehst, sag ihr, sie ist mir egal.«

Trivial drehte den Kopf zur Seite, als verweigere er die Annahme der Nachricht. Nach einer Weile drehte er den Kopf zurück und sah ihm direkt in die Augen.

»Doch, doch, so ist es«, bestätigte Jakob. »Guck mich nicht so an. Sie will mich nicht.«

Ein offener Wagen näherte sich der Bushaltestelle, bog in die Haltebucht und hielt vor Jakob. Eine blonde Frau lachte ihn an. »Nach Weinstein?«

Jakob nickte. Sie spürte, daß er in seinem Gedächtnis nach ihr forschte.

»Ich bin Sabine Weber, die Frau von dem da oben.« Sie deutete mit dem Kopf in Richtung des Bungalows. »Wir sind uns noch nicht begegnet. Steigen Sie ein.«

Er kletterte in den Wagen, und sie fuhr mit quietschenden Reifen los, so daß es ihn in die Polster drückte. Sie lachte und erzählte, daß sie ihn schon beobachtet habe und aufgrund des Dorfklatsches alles über ihn wisse, Dinge, die er möglicherweise nicht einmal selbst über sich wisse.

Er berichtete, daß er die Bilder in ihrer Galerie durch die Fenster gesehen und sich über ein Geschäft dieser Art hier am Ort gewundert habe.

»Ich habe noch eine Galerie in Weinstein, das ist das Hauptgeschäft. Aber ehrlich gesagt, ich verstehe gar nichts von Kunst.«

»Wie können Sie dann Bilder verkaufen?«

»Eben nur deshalb.« Sie lachte übermütig und lud ihn ein, mit in die Galerie zu kommen.

»Ich verstehe auch nichts von Kunst«, gab er zu bedenken.

»Dann sind wir schon drei. Ich bin nämlich mit Heidelinde Wulf verabredet, der Malerin aller dieser Bilder, die Sie gesehen haben. Sie behauptet auch, nichts von Kunst zu verstehen.«

»Wie kann sie dann malen?«

»Eben nur deshalb.«

Der Student lachte. »Wahrscheinlich haben Sie recht.«

»Sie ist nicht die einzige Künstlerin in Herzensach.«

»Es gibt noch mehr Maler?«

»Nein, Schriftsteller.«

»Meinen Sie den Pastor?«

Sie lachte und schüttelte den Kopf.

»Wer ist es? Kenne ich ihn?«

»Unser Förster.«

»Ich kenne ihn, aber er hat mir nichts davon erzählt.«

»Er schreibt Briefe. Trostbriefe.«

Sie lachte über seinen Gesichtsausdruck und beeilte sich zu erklären: »Immer wenn er von einem Unglücksfall hört, von einem Todesfall, genaugenommen von einem Mord, dann schreibt er den Hinterbliebenen Trostbriefe. Sie werden in einer Zeitschrift veröffentlicht, und es gibt ein kleines Büchlein davon. Allerdings unter dem Namen Frank Johann!«

»Und so etwas lesen die Leute.«

»Die Leute im Dorf wissen das nicht. Unser Förster mag es nicht, wenn man von seiner Schreibarbeit erfährt. Man muß eine Zeitlang hier leben, um in die Geheimnisse des Dorfes einzudringen.«

»Ja, was ist zum Beispiel mit der Herkunft dieser Katharina?«

»Katharina?« Sie sah ihn fragend an, und er glaubte erklären und beschreiben zu müssen, wer das Mädchen sei. Sie hörte schweigend zu, verlangsamte das Tempo, hielt schließlich in einem Waldstück neben der Straße an und drehte sich ihm zu.

»Sie lieben sie, nicht wahr?«

»Was?« War seine Beschreibung schwärmerisch ausgefallen? »Nein – nein, nein.«

Sie beobachtete ihn schweigend, verzog den Mund, als wollte sie lachen. »Na, dann nicht.«

Er spürte, daß sie ihm nicht glaubte.

»Sie ist mir einfach nur aufgefallen.«

»Vielleicht ist das Geheimnis um Katharina nicht sosehr ihre Herkunft – sondern etwas anderes. Aber im Grund weiß ich auch nichts Genaues. Ich komme nicht aus Herzensach. Obwohl ich mich verbiege, um dazuzugehören. Mein Mann hat mich, ich muß damals geistig verwirrt gewesen sein, hierhergebracht. Noch größerer geistiger Verwirrung ist es zuzurechnen, daß ich ihn geheiratet habe. Ganz zu schweigen von dem totalen Schwachsinn, immer noch nicht geschieden zu sein.«

Sie lachte und fuhr wieder an. »In Herzensach verliert man nicht sein Herz, sondern seinen Verstand.«

»Nicht schlecht. Das habe ich vorhin auch gedacht.«

Sie beschleunigte und schickte ihm einen belustigten Seitenblick zu. Und plötzlich hatte er das Gefühl, daß auch sie eine Rolle spielte. Das Stück hieß vielleicht: Die frustrierte Ehefrau voller Charme und Witz und der ahnungslose Student landen in einem Motel.

»Haben Sie sich nicht auch schon gefragt, was der Name des Ortes zu bedeuten hat?«

»Nein.«

Sie hob warnend einen Finger. »Dunkle Leidenschaften!«

»Ich dachte es mir fast.« Sicher kam gleich ein einsames Motel an der Straße.

»Ich würde Sie gern über alle Geheimnisse des Ortes ausfragen, aber ich weiß nicht, wo ich beginnen soll.«

»Dann könnte ich noch so schnell fahren, wir würden uns keinen Meter von Herzensach entfernen.«

Sie trat das Gaspedal durch. »Sie sollten mir nicht trauen. Ich weiß nichts. Und ich würde Ihnen auch nichts verraten. Außerdem: Ich bin eine Fremde im Ort, und aus meinem Mund klingt alles fremd, was für die Ureinwohner normal ist. Mein Tip: Gehen Sie sonntags in den Gasthof!«

»Man hat mich davor gewarnt. Was geschieht dort?«

»Oder bleiben Sie nachts wach und beobachten Sie, wer sich von Haus zu Haus schleicht.«

»Ich fürchte, ich habe, ohne es zu wollen, eine heimliche Verbindung beobachtet.«

»Erzählen Sie mir lieber nichts davon. Ich müßte alles weitererzählen.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin diskret.«

»Aber wenn Sie in Ruhe leben wollen, dann folgen Sie niemandem und suchen Sie sich ein Quartier in einem anderen Ort. Vor allem verlieben Sie sich nicht in eines der Mädchen aus dem Dorf. Aber ich fürchte, meine Warnung kommt zu spät.«

»Was würde mit mir geschehen?«

Sie hatten Weinstein erreicht. Sie sah ihn nicht an und gab keine Antwort, sondern konzentrierte sich auf die Fahrt durch die engen Gassen. Schließlich parkte sie in einem Hinterhof und stieg aus.

»Wie komme ich zu meiner Werkstatt?«

»Kommen Sie mit. Ich stelle Sie der Frau vor, die wie keine andere an jenem Tuch webt, das wie ein Vorhang alles in Herzensach vor fremden Augen verbirgt. Vielleicht haben Sie Glück, und sie läßt Sie dahinterschauen.«

Sabine Weber ließ Jakobs Einwand, endlich zur Autowerkstatt gehen zu wollen, nicht gelten, führte ihn durch einen Torweg in die Haupteinkaufsstraße und dort in ein kleines Haus mit zwei Läden – einer Boutique und einer Galerie. Beide gehörten ihr.

Heidelinde Wulf saß zwischen ihren an den Wänden hängenden und stehenden Werken in der Galerie. Sie war eine außerordentlich schöne Frau mit einem ebenmäßigen Gesicht, das zwischen den bunten Bildern wie eine Ikone aus einem Stummfilm wirkte. Jakob hätte jedes Motiv dieser bis zu einem Quadratmeter großen Landschaftsbilder in der Natur um Herzensach wiederfinden können. Manchmal waren sogar Teile des Dorfes zu sehen. Sabine Weber stellte ihn vor und überließ ihn ihrer Freundin Heide, als hätte sie ihr ein Geschenk mitgebracht. Wie ähnlich die beiden Frauen einander plötzlich waren. (Vielleicht doch aus einem alten Film.) Dann verschwand sie, um in ihre Boutique zu gehen. So plötzlich mit der Malerin alleingelassen, spürte der Student seine Verlegenheit, sagte, er wäre sehr neugierig auf die Künstlerin gewesen und ob sie denn Herzensach für so friedlich halte, wie ihre Bilder es zum Ausdruck brächten. Er hatte vor, ein paar freundliche Worte zu wechseln, sich bald darauf zu entschuldigen und sein Auto abzuholen. Doch die Frau des Arztes antwortete ihm nicht, sie musterte ihn mit einem spöttischen Lächeln (Metropolis? Caligari?) von oben bis unten, so daß er sich noch unwohler fühlte.

Er suchte schon nach einer Formulierung, die es ihm schnell ermöglichen würde zu gehen, da begann sie zu sprechen.

»Sie wissen sicher nicht, daß ich eine geborene Herzensacherin bin.« Es kam langsam und bedächtig wie eine Warnung. (Nosferatu?) Er schüttelte den Kopf.

»Ich bin dort aufgewachsen bei meinem Großvater, der lieber einen Enkel gehabt hätte. Mein Vater hat es nicht ausgehalten und ist kurz nach meiner Geburt davon. Ich mußte bleiben, später bin ich ihm nach. Und ich bin zurückgekommen. Ich habe einen Mann mit nach Herzensach gebracht, der dort gebraucht wurde. Es war eine Art Pflicht. Verstehen Sie?« (King Kong und die weiße Frau?) Mit Abscheu nahm sie eines ihrer gerahmten Bilder auf und hielt es ihm vor das Gesicht. Und da begriff er plötzlich, was das Besondere an diesen Bildern war; er hatte es schon damals gespürt, als er sie durch die Fensterscheiben hindurch angesehen hatte, und nun konnte er es formulieren: Diese Bilder waren voller Wut und zugleich voller Liebe. Sie waren der Versuch, sich etwas zur Heimat zu machen, aus dem man eigentlich fliehen wollte. Sie war eine Gefangene dieser Landschaften, sie haßte sie und liebte sie und konnte sich nicht davon befreien. Ihre Gemälde waren Hilfeschreie, Peitschenhiebe und Liebeserklärungen. Seine Entdeckung machte ihn sprachlos.

Sie faßte ihn am Arm, und er ließ sich willenlos die gewundene Treppe hinunter in den Keller führen, wo sie ihm andere Bilder zu zeigen versprach. Doch unten stieß sie ihn in die Dunkelheit hinein, riß seinem Hemd mit einem Ruck die Knöpfe ab, griff in seine Hose und drängte ihn gegen eine Wand.

Er hatte sein zerrissenes Hemd unter der Jacke verborgen, war zur Werkstatt gehetzt und hatte seinen Wagen ausgelöst. Weg von hier! Raus aus diesem Horrorfilm! Nach Hamburg. Erst auf der Autobahn war er ruhiger geworden, hatte das Ereignis noch einmal an sich vorüberziehen lassen. Was hatte die Hexe von ihm gewollt? Nicht das, was er gedacht hatte. Es war fast, als hätte sie sein Geheimnis gekannt. Dieser gezielte Griff nach seinem Geschlecht. Er hatte entdeckt, was sich hinter ihrer Malerei verbarg. Und sie hatte gewußt, wie man sich seiner mit Gewalt bediente. Eine Hexe. Weg von hier! Nach Hamburg. Er beschleunigte, hatte den Wagen fast schon auf Höchstgeschwindigkeit gebracht. Sie hatte es gewußt, aber nichts getan. Doch ein Zufall? Die Narben! Vielleicht hatten seine Narben alles verraten. Ihr spöttisches Lächeln. Sie hatte es gewußt, als er hereinkam. Frauen sehen es doch. Aber sie hatte nichts gewollt. Ihre Finger waren hervorgeschnellt, und die Nägel hatten vier rote Streifen auf seinem Bauch hinterlassen, in denen das Blut perlte. Sie hatte ihn nur kennzeichnen wollen. Er war ihr Opfer.

Bloß weg! Nach Hamburg. Nie wieder nach Herzensach. Er trat auf das Gaspedal.

Was für eine Szene! Kein Film. Kein Spaß mehr. Noch jetzt schnürte es ihm die Kehle zu, drückte seine Brust zusammen. Dieses Dorf war verrucht, voller perverser Leidenschaften, Sexus und Gewalt. Alles Hexen. Wer weiß, ob nicht insgeheim blutige Kulte ausgeübt wurden, teuflische Kreise gezogen. Weg von alldem! Nach Hamburg. Nie mehr zurück. Kein Wunder, daß Katharina sich mit allen Mitteln ihrer Haut wehren mußte. Eine Ausfahrt kam. Er bremste ab. War sie Opfer oder Täterin? Wenn er einfach zurückfuhr und sie mitnahm? Ohne jeden Anspruch. Ihr einfach die Chance zu fliehen gab? Er fuhr langsam von der Autobahn herunter. Er mußte etwas tun! Nein, sie war alt genug, um für sich selbst zu sorgen. Er kreuzte die Landstraße und fuhr auf der anderen Seite die Auffahrt zur Autobahn wieder hinauf. Nein, der Entschluß stand fest: Nie wieder nach Herzensach. Es war genug der Erniedrigung. Nach Hamburg.

An der nächsten Raststätte parkte er, betrachtete seinen Bauch; wenn er Pech hatte, würden sich die Wunden entzünden. Er versteckte sie unter seinem Hemd und schloß die Jacke darüber. Die Frau des Fabrikanten mußte gewußt haben, was die Malerin mit ihm machen würde. Doch, von Anfang an. In der Erinnerung las er es ihren Augen ab. Sie hatte ihn als Opfer ausgewählt und der Malerin zugeführt. Er stieg aus und ging die geparkten Wagen entlang zur Raststätte. Plötzlich drehte er sich irritiert um. War er eben am Wagen des Försters vorbeigegangen? Es war das Auto von Johann Franke! Vorsichtig näherte er sich den großen Fensterscheiben des Restaurants. Tatsächlich saß der Förster an einem der Tische und trank ein Glas Wasser. Was machte der hier?

Jakob eilte zurück, auch den Förster wollte er nicht mehr sehen. Er fühlte sich von ihm betrogen. Warum hatte er ihm nichts von seinen Trostbriefen erzählt? Warum sollte er? Nein, Johann Franke war vielleicht der einzige anständige Mensch in Herzensach. Trotzdem wollte er sich jetzt nicht vor ihm rechtfertigen, warum er Herzensach für immer verließ. Er stieg in seinen Wagen und fuhr weiter. Nach ein paar Kilometern spürte er, daß er, ohne es zu wollen, langsamer wurde. Das Gaspedal widersetzte sich ihm. Er dachte an die Tochter des Försters. Wie sanftmütig, wie verständnisvoll war sie gewesen. Wenn er jetzt zurückfuhr, würde der Vater nicht dasein. Sie war allein ... oder saß mit Katharina zusammen und beide lachten ... lachten über ihn. Diesen Trottel! Und dann kam auch noch Heidelinde Wulf zur Tür herein. Soll ich euch mal was erzählen? Alle drei kreischten auf. Nach Hamburg. Nie mehr Herzensach. Nie mehr. Ein Wald fand sich überall.