52

»Halt an«, sagte Dorothee Wischberg. Sie saß hinter Jan und hatte ihn umschlungen. Der Gutsherr zügelte das Pferd kurz vor der Brücke im Norden von Herzensach. Sie ließ sich vom Pferd gleiten.

»Wenn ich von hier aus zurückgehe, sieht es aus, als käme ich von einem Spaziergang.« (Ich tue das dir zuliebe!)

Jan saß ebenfalls ab und küßte sie. (Ich weiß!)

Sie strich ihm übers Haar.

»Mach dir keine Sorgen, sie hat nichts gemerkt. Und wenn – du bist doch ein Meister in äußerst glaubwürdigen Erklärungen. Jedenfalls hatte ich nie Zweifel an deinen Entschuldigungen, wenn du einmal zu unseren Verabredungen nicht gekommen bist oder wenn dein Fenster verschlossen war.« Sie lachte spöttisch. »Deine Ausreden waren immer wunderbar – so phantasievoll.«

Er ging nicht auf sie ein und sah an ihr vorbei. Er dachte an den Anruf seines Berliner Anwaltes in aller Frühe. Er wußte nicht, wie er darauf reagieren sollte. Sie faßte ihn an der Schulter.

»Was ist? Meinst du, sie hat meine Geschichte gestern abend nicht geglaubt? Ich wollte dir damit nur beweisen, daß ich mindestens über einen ebenso kreativen Geist verfüge.« Sie schmiegte sich an ihn. »Wenn dir also eines Tages mein Körper nicht mehr genügen sollte ...«

»... soll ich es in Gedanken mit dir treiben?«

Sie lachten beide.

»Katharina macht mir die geringsten Probleme«, sagte er. »Abgesehen davon, daß sie hübscher ist, als ich dachte.«

»Vorsicht.« Sie hob einen Finger.

»Ich verspreche dir, in Gedanken bei dir zu sein.«

»Ich glaube, du bekommst Probleme.« Sie stieß ihm den Zeigefinger gegen die Brust.

»Die habe ich schon.«

»Was hast du?« Der Spaß war vorbei.

»Ich glaube nicht, daß ich dich damit belästigen sollte. Die Geschäfte in Berlin ...«

»Versuch's einfach mal.«

»Ich frage mich, wieso Gustav Anderson, ohne mir Nachricht zu geben, ins Ausland geflogen ist. Wir waren eigentlich verabredet. Und heute morgen ruft mich unser Anwalt an, er hat erfahren, daß bei der Staatsanwaltschaft Untersuchungen laufen.«

»Das bedeutet ...«

Er schüttelte den Kopf: »Untersuchungen sind immer mal gelaufen. Ohne Ergebnis. Aber warum informiert mich Gustav nicht?«

»Seid ihr denn immer noch beim Schiffeversenken?«

Er lachte als Antwort, um nicht mit ihr diskutieren zu müssen. Sie war eine kluge Frau, aber mehr als ihren Verstand schätzte er ihr Gefühl. Die Schiffe der indonesischen Reederei hatten auf ihren spontanen Vorschlag hin ausschließlich eine Besatzung aus Hongkong-Chinesen bekommen. Die Angehörigen machten keine Schwierigkeiten, wenn sie verschwanden.

Dorothee Wischberg löste sich von ihm und trat einen Schritt zurück. »Du bist verunsichert. Das kenne ich nicht von dir. Was ist los?«

Er hob die Schultern.

»Willst du meinen Rat?« fragte sie von der Seite.

Er nickte bedächtig.

»Hier ist er: Verschwinde. Wenn du selbst nicht mehr weißt, was du tun sollst, hau ab, warte irgendwo, bis sich die Situation geklärt hat.«

»Ich habe das auch gedacht. Aber ist es nicht seltsam? Es ist vollkommen gegen meine sonstige Art. Immer wenn es Schwierigkeiten gab, haben wir die alte Fahne hervorgeholt, die Feinde damit erschreckt und in die Flucht geschlagen. Warum von einem so erfolgreichen Rezept abweichen?«

»Was immer du tun willst, zögere nicht. Nicht der Wille entscheidet, sondern der Wind.«

Es war ein Sprichwort seines Vaters, das sie benutzt hatte, und er kannte den Ursprung. Es war auf die vorderste Seite der Familienchronik geschrieben. Und dort hatte es in seiner Vollständigkeit einen anderen Sinn: Entweder dein Wille entscheidet, oder der Wind treibt dich. Hendrik van Grunten hatte die Familienchronik angelegt, aber Jan vermutete, daß er das Motto schon von seinem Vater Cornelius hatte.

»Du hast recht.« Er schwang sich aufs Pferd, wendete es, winkte ihr zu, durchquerte den Fluß und preschte in den Wald hinein. Nach einem halben Kilometer verfiel er wieder in Trab. Dorothees Rat war richtig. Er sollte sofort umkehren, den Wagen aus der Garage holen, notdürftig einen Koffer packen und wegfahren. Und Katharina? Er nahm sie einfach mit. Warum nicht eine kleine Reise – nein, eine Weltreise natürlich. In vierzig Tagen um die Welt! Sie war die ideale Begleiterin. Robust und mutig. Und sie konnte noch staunen. Er würde sich daran weiden.

Alles Notwendige konnte man unterwegs kaufen. Abgesehen von Katharina war eine solche spontane Reise nur mit Dorothee vorstellbar. Alle anderen würden auf ihren Pfennigabsätzen ausschließlich jammern.

Das Pferd war in Schritt gefallen, weil es seinen Druck nicht mehr spürte. Er trieb es wieder an und ritt den Heidberg hinauf. Heute war Sonntag. Bis Montag früh hatte er bestimmt noch Zeit. Oben auf dem Thingplatz hielt er das Tier an und schaute hinunter auf das Dorf. Er hörte einen Schuß; er kam vom Waldhang. Er ritt dem Knall entgegen, und nach einer Weile trat der Förster hinter einem Baum hervor.

»Ihr seid zurück und schon auf der Jagd?« genoß Jan seine alte Rolle.

Johann Franke lachte, kam dicht ans Pferd und reichte dem Gutsherrn die Hand hinauf. »Kaum ist der Förster aus dem Wald, tanzen die Füchse auf den Tannenspitzen.«

»Es ist gut, daß Sie zurück sind und für Ordnung sorgen. Ich fürchte nur, Ihre Fernsehsendung wird alles durcheinanderbringen.«

»Sie wissen schon von der Sendung?«

»Schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell.«

»Keine Angst, sie findet nicht statt.«

»Ich hörte, es war eine Idee des Studenten.«

»Ich habe das Gefühl, er wird uns nicht mehr lange erhalten bleiben. Ich denke, wir langweilen und nerven ihn.« Der Förster nahm sein Gewehr von der Schulter und strich liebevoll über den Lauf.

»Ihnen hat er doch Spaß gemacht.«

»Ach, er störte mich nicht.«

»Und Ihr Gesicht auf der Mattscheibe, das hätte Sie nicht gestört? Jeder würde Sie kennen – oder sollte ich sagen: erkennen.« Er wußte schon lange, daß den Förster mehr als nur die Leidenschaft zur Hundezucht in die Großstädte trieb.

»Was wollen Sie damit sagen?«

Für Jan war die Frage ein wenig zu aufmüpfig, dafür bezahlte er das Hobby des Mannes nicht.

»Nicht dein Wille, sondern der Wind treibt dich.« Was für ein schöner Spruch. Er paßte immer.

Er griff die Zügel fester und lenkte das Pferd am Förster vorbei. Dann drehte er sich im Sattel um, hob die Hand und ließ den nachdenklichen Mann zurück.

Er ritt wieder hinauf auf den Hügelkamm, quer durch den eigenen Wald und schließlich hinunter zur Herzensach und zum Gutshof. Er band das Pferd vor dem Stall an, ging um das Haus herum und betrat durch die Küchentür das Gutshaus. Es war niemand in der großen Küche. Er holte sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und setzte sich an den gescheuerten Holztisch, auf dem Bündel von Gemüse lagen, frisch aus dem Gewächshaus, feuchte, dunkle Erde haftete noch daran. Er erinnerte sich nicht, Anweisungen für das Mittagessen hinterlassen zu haben. Er trank das sprudelnde Wasser aus einem dicken, abgeschabten Glas, das er schon als kleiner Junge benutzt hatte, und er betrachtete es, als würde er es das letzte Mal sehen. Er sprang auf, warf das Glas mit Wucht in die Spüle, wo es zerbrach. Solche Stimmungen galt es zu bekämpfen. Der Verwalter schaute erstaunt zur Tür herein.

»Oh, Sie sind da?« Er kam auf ihn zu und legte den Finger auf den Mund. »Sie haben Besuch. Die Polizei.«

»Was? Was wollen die?«

»Psst. Sie sitzen in der Bibliothek. Zwei. Und ein Uniformierter steht vor dem Haus. Die treten mit einem Selbstbewußtsein auf, als hätten sie den Durchsuchungsbefehl in der Tasche.«

Jan überlegte, er bewahrte kein Material aus der Firma im Gutshaus auf.

»Was können die wollen?«

»Wenn Sie mich fragen: Es muß mit Berlin zusammenhängen. Hier ist alles einwandfrei. Oder die Leute im Dorf ...«

Werner Kotschik betrat die Küche. Seine Augen flatterten. Er zitterte leicht. »Die Polizei! Was sollen wir tun?«

Es war gerade die Nervosität des Verwalters und die Furcht Werner Kotschiks, die Jan ruhig werden ließen. Eiskalt plante er mögliche letzte Schritte in seinem Haus.

»Wo ist Katharina?«

»Ich glaube, sie ist oben in ihrem Zimmer.«

»Gut. Kein Wort zu ihr. Schließen Sie sie ein. Wie auch immer. Wenn nötig mit Gewalt.« Mit der Aufgabe wuchs Werner Kotschik. Er straffte sich und marschierte davon.

Jan wandte sich Jürgen Vietel zu. »Gehen Sie ins Büro. Rufen Sie den Anwalt in Weinstein und den in Berlin an. Die sollen sich beide bereithalten. Außerdem ...« Er senkte seine Stimme. »Ich hätte es gern, wenn die Garagentür geöffnet und in meinem Wagen der Zündschlüssel stecken würde.« Er ging zur Hintertür, sah durch die Scheiben hinaus. Ein Mann kam um die Hausecke.

»Oh, ist das einer von denen?«

Der Verwalter nickte. »Der war eben noch in der Bibliothek.«

»Dann vergessen Sie die letzte Anweisung.« Er ging mit kräftigen Schritten durch die Küche. »Trotzdem wäre es nett, einen Fluchtweg zu haben.«

»Der Wagen wird auf jeden Fall startbereit sein.«

»Gut, dann zum Angriff!«

Er begegnete dem zweiten Kriminalbeamten bereits in der Halle. Er stellte sich vor. Sie gingen in die Bibliothek und setzten sich.

»Die Polizei an einem Sonntag. Es muß dringend sein.«

»Es geht um den Untergang eines Ihrer Schiffe.«

»Oh, ich glaube, ich bin an diesem Schiff nur indirekt beteiligt über meine Firma in Berlin.«

»Sparen wir uns das«, sagte der Inspektor mit einem milden Lächeln.

Jan zog an seinen Reitstiefeln und öffnete den Gürtel seiner Hose. »Solange man auf einem Pferd sitzt, ist diese Kleidung angenehm, aber kaum steigt man ab ... Wissen Sie, mein Partner Gustav Anderson regelt alle diese Geschäfte ... Bleiben Sie sitzen, ich entledige mich nur dieser engen Reithosen.«

Er stand auf und ging einfach hinaus, durch die Halle, die Treppe hinauf. Er hatte Protest erwartet. Aus den Augenwinkeln beobachtete er den Kriminalbeamten. Er war ebenfalls aufgestanden, folgte ihm, blieb aber in der Halle stehen. Der wollte ihn nicht entkommen lassen.

Jan hatte schon beim ersten Blick des Inspektors und dann an seiner Tonlage gemerkt, daß der in seiner kleinen Tasche nicht nur einen Durchsuchungs-, sondern auch einen Haftbefehl bei sich trug. Er hatte nicht die Absicht zu fliehen, aber er wollte sein Haus in der geplanten Ordnung zurücklassen. Die Zukunft mußte geregelt werden. und dazu benötigte er noch zehn Minuten ohne die Aufsicht staatlicher Organe. Es mußte eben alles ein wenig schneller gehen. Wenn er Glück hatte, war das Ergebnis das gleiche.

Auf dem oberen Treppenabsatz erwartete ihn Werner Kotschik und gab ihm den Schlüssel zum Gästezimmer.

Jan öffnete die Tür und schloß sie hinter sich wieder ab. Katharina saß auf dem Bett, wollte etwas sagen, aber er legte den Finger an die Lippen.

»Entschuldige, aber es ist etwas Gräßliches geschehen, mit dem niemand rechnen konnte.« Er setzte sich zu ihr.

Er hatte eine phantastische Geschichte im Kopf, entschied sich aber doch für eine Variante, die sich der Wahrheit annäherte. (Er ließ die toten Seeleute aus.) Er gab sich die Schuld am Untergang der Schiffe. (Er ließ die Sprengladung im Bauch des Frachters aus.) Er sprach von mangelnden Sicherheitseinrichtungen und davon, daß er es hätte verhindern müssen. Er machte sich Vorwürfe. Und nun hatte er zu büßen. Die Polizei! Sie hörte ihm stumm zu. (Begriff sie überhaupt, was er sagte?)

Er sah ihr traurig ins Gesicht. »Verstehst du, ich habe nur noch wenig Zeit, meinen Vertrag mit dir zu erfüllen.« Er war sich seines Sieges über sie sicher. Er spielte Hilflosigkeit. »Verstehst du?«

Sie stand auf. »Du ... du willst jetzt?«

»Ich weiß ja ... aber verstehst du nicht, ich fühle mich dir gegenüber verpflichtet.« (Er war großartig.)

»Nein.« Sie wich zurück.

»O Katharina, um alles in der Welt, ich werde für lange Zeit in einem kalten, zugigen Gefängnis sitzen und nichts für dich tun können. Diese Vorstellung allein. Ich kann dich nicht ohne Vorsorge zurücklassen. Es wäre gemein. Aber dazu ... Bitte ...«

Die dumme Gans wich vor ihm zurück.

»O Katharina! Was sollen wir denn sonst tun? Es muß sein. Ich wollte, es könnte anders ...« Er schluchzte. Begriff sie denn nicht den Ernst der Lage? War sie zu dumm dafür? Das hätte er nicht gedacht.

»Ich kann doch nicht ...«

Er sah ihre Angst. Es machte ihm Vergnügen. Gleich würde sie aufgeben.

»Katharina, es muß sein.« Er ging auf die Knie. Das überzeugte jede Frau. »Bitte.

»Aber es geht nicht, ich ...«

Er begann zu weinen. Jetzt würde sie fallen.

»Du mußt keine Angst haben. Ich werde dir nicht weh tun.« Seine Stimme erstickte fast auf wunderbare Weise.

»Nein. Nein!« Sie kletterte auf die Fensterbank, hockte sich dicht an die Scheibe.

Was war das? Er runzelte die Stirn. Sie schien absolut nicht bereit zu sein. Trotz seines Einsatzes. Fassungslos sah er zu ihr hinauf. Sie hatte die Arme um die Beine geschlungen.

Und mit einem Mal spürte er das Wachsen seiner Wut. Gut, es ging auch anders. Seine Pläne mußten gelingen. Es ging auch anders, ganz anders. Er stand langsam auf, näherte sich ihr mit einem Lächeln. Er konnte auch andere Saiten aufziehen. Blitzschnell griff er in ihr Haar und zog sie zu sich heran. Mit der freien Hand schlug er ihr ins Gesicht. »Es geht auch anders, mein Schatz! Du willst es wohl so!«