28
»Dieser Baum«, sagte der Förster und legte seine Hand auf den virtuellen Stamm, »dieser Baum stirbt. Ich schätze, er ist rund zweihundert Jahre alt geworden, und es wird zwei bis drei Jahre dauern, bis wirklich kein Leben mehr in ihm ist.« Er löste sich von dem Baum. Die Kamera fuhr zurück. »Doch sehen Sie genau hin, wie er stirbt: langsam und im Kreise seiner Familie. Doch auch diesen friedlichen Tod gönnen wir Menschen ihm nicht. Sobald die Anzeichen seiner Krankheit zu deutlich werden, kommen die Männer mit den Sägen und bereiten ihm ein vorzeitiges Ende. Warum? Können wir nicht mehr zusehen, wie jemand stirbt? Oder ist es unser schlechtes Gewissen? Wir sind schließlich mit unseren Abgasen schuld an seinem Tod. Aus den Augen – aus dem Sinn?«
Der Monitor wurde nach einem abschließenden Lichtblitz schwarz. Andreas verkroch sich in seinem Sessel. »Was ist schlecht daran? Sag es mir.«
Jakob stand auf. »Du bist der Fachmann.«
»Sie wollen es nicht. Ich begreife das nicht. Ich bin erledigt.« Er sank noch weiter in sich zusammen.
»Dir wird etwas anderes einfallen.« Jakob hatte keine Geduld mehr mit seinem Freund.
Andreas sah ihn an. »Du willst gehen, nicht wahr? Ich bringe dich raus.«
Sie stiegen die Treppe des Studios zum Ausgang hinunter.
»Ich muß nach Herzensach. Ich halte es nicht mehr aus.« Jakob hatte seinem Freund alles über seine komplizierte Beziehung und die unerwiderte Liebe zu Katharina erzählt.
»Hast du ihr geschrieben, wie ich es dir geraten habe?«
»Ach, Andreas, ich kann nicht. Ich habe es wirklich probiert. Mein Papierkorb ist voller Briefanfänge.« Schon mit den Formen der Anrede hatte er mehrere Seiten verbraucht.
»Na ja, du mußt es wissen. Ich wünsche dir Glück ...« Sie waren beim Ausgang angekommen. Jakob legte einen Arm auf Andreas' Schulter.
»Dir wird etwas Neues einfallen.«
»Die kündigen mir.«
»Ist der Förster noch im Haus?«
»Sitzt in der Kantine. Wahrscheinlich beim Jägerschnitzel.«
Die Freunde umarmten einander. Jakob verließ das Gebäude, trat auf den Hof des Geländes, ging an einem geöffneten Studio vorbei, in dem der Aufbau für eine Sportschau mit Zuschauertribünen stand, und erreichte die Kantine. Schon von außen versuchte er durch die Fenster den Förster auszumachen. Es gelang nicht. Förster gingen in Studiokantinen unter. Besonders wenn die Komparsen von »Meine Heimat, meine Melodien« gerade Pause hatten. Er fand ihn in einer Ecke. Er rührte nachdenklich in einer Tasse Kaffee. Er trug eine Jägerkleidung aus dem Fundus.
»Jakob!« Er hob erfreut die Brauen und wies mit der Hand auf einen freien Stuhl. »Ich bin froh, daß es nichts wird. Herzensach ist wirklich eine Zuflucht, und die soll es bleiben. Es kommt mir sogar wie eine Insel vor.«
Ein Aufnahmeleiter ging händeklatschend durch die Gänge zwischen den Tischen. »Auf, auf! Es geht weiter!« Die Trachtenmädchen protestierten schwach. Er kam auch zu Johann Franke. »Das gilt auch für Sie.«
Der Förster sah auf und schüttelte lächelnd den Kopf. Der Aufnahmeleiter war schon vorbei. Erst jetzt bemerkte Johann Franke, daß sich Jakob nicht zu ihm gesetzt hatte. »Bitte, setzen Sie sich doch.«
»Ich bin nur gekommen, mich zu verabschieden.«
Johann Franke stand auf.
»Sie wollen zurück? Nach Herzensach?«
Jakob nickte heftig.
Der Förster sah ihm prüfend in die Augen. »Es ist nicht nur Ihre Arbeit?« forschte er.
Jakob schüttelte den Kopf und grinste. »Sagen wir mal: Ich glaube, es geht um mein Leben ...« Er reichte dem Förster die Hand.
»Dann wünsche ich Ihnen, daß Sie die richtige Entscheidung treffen.« Er amüsierte sich. »Sagen wir es mal so: Ich nehme an, Sie fahren nicht wegen meiner Tochter zurück.«
Jakob nickte. Das Gespräch begann unangenehm zu werden. »Grüßen
Sie meine Tochter. Ich komme bald.«
»Katharina, ich möchte, daß du weißt, daß ich dich liebe und daß ich alles tun werde ... ach Mist!« Seit einer halben Stunde befand sich Jakob Finn auf der Autobahn und formulierte Sätze, die er Katharina sagen wollte. Doch alles, was ihm einfiel, klang entweder seltsam steif und förmlich oder war romantisch verkitscht. Bei solchen Worten würde sie ihn einfach stehenlassen und mit Trivial davongehen. Beide mit hocherhobenen Nasen. Dabei war es doch ganz einfach. Er mußte ihr nur sagen, daß er eigentlich gar keine Frau lieben konnte, das heißt, eigentlich schon, also ganz bestimmt sogar, nur war er in seinen Möglichkeiten einer Frau ähnlicher als einem Mann. Das galt es zu sagen.
»Katharina, bitte, hör mir zu. Ich verlange nichts. Ich quäle mich seit Tagen und möchte dir sagen ...« Oje, Katharina verschwand zwischen den Bäumen, und seine blöden Sätze hatten sich auch noch gereimt. Es mußte alles ganz anders sein. Aber wie? Vielleicht so: »Katharina, ich will dir nur sagen, daß ich die Männer, die du nicht magst, auch nicht mag, weil ...«
Jakob stöhnte auf. Genau solche verzwickten Sätze, die kein vernünftiges, sondern nur ein stotterndes Ende fanden, würde er wohl loslassen. Seine Lächerlichkeit war vorprogrammiert. Katharinas spöttisches Lachen dröhnte ihm schon im Ohr. Und selbst Trivial drehte den Kopf zur Seite, als hätte er ein Stinktier vor sich. Was sollte er bloß tun? Und wenn er sich einen Fürsprecher suchte? Es mußte doch jemanden im Dorf geben, dem er seine Liebe zu Katharina gestehen konnte und der für ihn den Boden vorbereitete. Die geeignetste Person war zweifellos Claudia. Doch sie war womöglich selbst in ihn verliebt. Ein Problem, das er auch dringend zu lösen hatte. Wen gab es noch? Wenn er zu dem Gutsherrn ging? Die Geschichte mit dem Weinstein-Nachfahren mußte sich doch nun in Luft aufgelöst haben. Alle im Dorf akzeptierten ihn, mehr noch: Sie ordneten sich ihm unter. Dieser Jan van Grunten hatte nicht nur die Position eines kleinen Königs, er spielte sie auch aus. Vielleicht mußte er sowieso seine Erlaubnis zu jeder Eheschließung geben. Eheschließung? Wollte er Katharina heiraten? Ja, das war es doch: »Liebe Katharina, ich will dich heiraten!«
Er lachte laut. Nein, so ging es auch nicht. Wenn er schon einen Heiratsantrag machen wollte, hatte er vorher noch etwas anderes zu gestehen: Dann mußte er unbedingt von seinem Unfall erzählen, sonst hätte sie falsche Erwartungen, falsche Vermutungen, falsche ... Vielleicht ein wenig verschlüsselt, etwa so:
»Meine Liebe zu dir ist bedingungslos. Du kannst tun und lassen, was du willst. Du kannst mich auf der Stelle heiraten oder mich in des Pastors Brunnen stoßen. Du hast keine Verpflichtungen. Ich verlange nichts, ich kann gar nichts verlangen, weil mein Verlangen ... Ich gebe dir alle Freiheiten, nur laß mich dir täglich sagen, daß ich dich liebe. Es soll mir genug sein. Ich will mich wie ein Hund zu deinen Füßen ...«
Jakob spürte, daß ihn die eigene Rührung überwältigte. So ein Quatsch. Alles war zu pathetisch, vollkommen unpassend für eine Frau wie Katharina. Warum hatte er keine Erfahrungen mit diesem Typ? Weil er noch nie einem solchen Mädchen begegnet war. Weil er sie wie keine zuvor liebte. Weil er zum ersten Mal richtig liebte. Weil er sich noch nie einer Frau offenbart hatte. Jetzt war dieser Moment gekommen. Er würde es nicht fertigbringen. Und wenn sie ihn auslachte?
Vielleicht war die Idee, einen Fürsprecher vorzuschicken, doch die richtige. Es war zu wichtig, um ein falsches Wort zu riskieren. Und wenn sie nein sagte, kam er ohne weitere große Verletzungen davon. Der Förster könnte sein Fürsprecher sein. Jakob überlegte, wie der Förster zu Werke gehen würde. Ein Waldspaziergang natürlich. Er hörte schon Katharina über die Vergleiche des Försters lachen. Die Bienen und die Blüten ... Nein, der Förster kam nicht in Frage. Der Pfarrer? Wie würde der es beginnen? Gab es in der Bibel Gleichnisse, die für solche Fälle herangezogen werden konnten? Jakob kannte sich nicht genug aus. Adam und Eva waren ungeeignet, weil sie nur aus seiner Rippe war. Das würde Katharina nicht akzeptieren. Und außerdem: Galt der Pfarrer bei ihr nicht als verrückt? Hatte sie sich nicht abschätzig über den Bau seiner Maschine im Brunnen geäußert? Nein, der Pfarrer war für diese Aufgabe ein unsicherer Kandidat! Die Pflegeeltern eigneten sich auch nicht. Den Tischler mochte er nicht, und die Frau ... Ihre Einflußnahme würde Katharina nur daran erinnern, daß die beiden bisher über ihr Leben bestimmt hatten. Sie war einundzwanzig und die Vormundschaft erledigt. Es blieb der Gutsherr. Jan van Grunten war der einzige, dem er es zutraute, entsprechend vorsichtig zu Werke zu gehen. Er besaß die richtige Mischung aus überlieferter Autorität und Modernität.
Jakob rechnete aus, wann er im Dorf ankommen würde. Konnte er dem Gutsherrn nach Einbruch der Dunkelheit noch einen Besuch abstatten? Wie förmlich war man im Gutshaus? Er erhöhte die Geschwindigkeit und wußte, es war aussichtslos. Selbst wenn er eine halbe Stunde früher ankam, war es eigentlich zu spät für einen Besuch. Er konnte natürlich von der nächsten Raststätte aus anrufen und sich anmelden. Und was, wenn der Gutsherr Besuch hatte? Eine entsetzliche Vorstellung drängte sich ihm auf. Heidelinde Wulf mit schrillem Lachen über den Gutsherrn gebeugt. »Und jetzt zeige ich dir, wie ich es bei ihm gemacht habe.«
Jakob wurde heiß, er drehte die Scheibe herunter und setzte sich dem Fahrtwind aus. Was waren das alles für dumme Gedanken: einen Fürsprecher! Hatte er jemals so etwas nötig gehabt. Und wie altmodisch! Was mußte Katharina von ihm denken, wenn sie es erfuhr? Würde sich nicht alles gegen ihn kehren? Was war das für ein Unsinn mit dem Heiratsantrag! Katharina war eine junge Frau, die noch nicht im geringsten an so etwas dachte; sie würde sich totlachen.
Er war ein Idiot. Ein verdammter Hornochse. Ein Irrer. Was tat er da? Er benahm sich wie ein Stoffel aus dem letzten Jahrhundert. Verdammt, es würde ihm doch wohl noch möglich sein, einem Mädchen seine Liebe zu zeigen. Und wenn es ihn abwies, würde er in den Wald gehen und sich erschießen. Aus. Vorbei, du Idiot! Unvorstellbar, daß sie ihn abwies, wenn er es nur richtig machte: »Katharina, ich danke dir für deine Ohrfeige, seitdem weiß ich, daß ich in dich verliebt bin.«
Er lachte grimmig. Alles falsch. Unsinn. Vielleicht wollte er nur erneut geschlagen werden, vielleicht hatte sie etwas in ihm geweckt, das einander bedingte: Sex und Gewalt. Vielleicht waren alle Frauen und alle Männer im Dorf so veranlagt? Sprach seine Erfahrung nicht dafür? Was hatte er dann dort zu suchen? Nichts, du Idiot, aber auch gar nichts!
»Katharina, ich bin zurückgekommen, weil ich dir das Angebot machen möchte, das Dorf zu verlassen. Ich habe genug Geld, um dir zu helfen. Ich will keine Ansprüche daraus ableiten. Aber eines solltest du wissen: Ich liebe dich!«
Nicht schlecht.
Nein, so ein Quatsch: die klassische Retterrolle. Ein schöner Traum aus dem Kino. Da konnte er gleich hoffen, daß bei seiner Rückkehr die Tischlerei brannte, Flammen aus dem Haus schlugen, Katharina im Nachthemd hilfeschreiend am Fenster stand und er die aus dem ersten Stock Springende mit bloßen Armen auffing.
»Mein Retter!«
»Heirate mich.«
»Ja.«
Einige Kilometer lang trauerte Jakob dieser Lösung nach. Es war die beste, die einzige mit spontanem Happy-End.
Oder so: Der Vater mit dem Gewehr. »Du hast Schande über unsere Familie gebracht!«
»Halt!« Jakob sprang aus dem Gebüsch, stellte sich zwischen Katharina und ihren Pflegevater. »Ich – ich werde sie heiraten!« Er fing die Ohnmächtige auf.
Ach, nie schrieb das Leben Geschichten. Das Leben bestand nur aus Straßen, und in jedem Auto ein einsamer Mensch.
Langsam versank die Sonne hinter dem Horizont, und als zum ersten -Mal Weinstein auf einem Wegweiser angezeigt wurde, hatte ihn sein Realitätssinn wieder eingeholt. Zusammengesunken saß er hinter dem Steuer, kaute auf der Unterlippe und probierte neue Versionen, Katharina seine Liebe und sein Gebrechen zu gestehen. Er wußte, er würde das noch die ganze Nacht tun, nur wenige Meter von Katharina entfernt, schlaflos in seinem Bett über der Tischlerei.
Er bog von der Autobahn ab und konzentrierte sich auf die dunkle Strecke. Einmal war er schon auf dieser Straße in einen Sekundenschlaf gefallen, das sollte ihm nicht wieder passieren. Sicher erreichte er die Brücke über die Herzensach, bog um die Kurve, als die Scheinwerfer ein schwarzes Bündel am rechten Straßenrand erfaßten. Er stieg auf die Bremse, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr so weit zurück, bis die Scheinwerfer offenbarten, was er vermutet hatte. Da lag ein Mensch. Er stieg aus. Der Mann schlief, nein, er war betrunken. Jakob zog ihm die Flasche aus dem Arm. Er roch daran. Doch es war kein Alkohol. Er tauchte den Finger hinein. Es schmeckte wie Wasser. Der Mann trug die Kleidung eines Bauern. Jakob beugte sich über sein Gesicht, schnupperte, lauschte den Atemzügen des Mannes und schob dessen Augenlid hoch.
Der Mann war nicht betrunken.