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Peter Wischberg kam aus der Küche hinter den Tresen gehinkt. Sein Kinn glänzte noch von dem Fett, das kurz zuvor daran herabgetropft und von seinem vorstehenden Bauch aufgefangen worden war. Er betrachtete den Fremden, der seine Gaststube betreten hatte, mit unverhohlener Neugier, dann schlug er mit seiner Fliegenklatsche zu und erwischte zwei seiner Feinde, die am Rand des Tresens still aufeinanderhockten.
»Tag.«
Jakob Finn hatte den Schlag nicht kommen sehen und zuckte zusammen.
»Tag.«
Nachdem er den Bauernhof, ohne telefoniert zu haben, fluchtartig verlassen hatte, war dem Studenten das Schild mit der altdeutschen Schrift »Gasthof Herzensfrische« ins Auge gefallen. Er hatte noch einen Augenblick über den Sinn des großen farbigen Wandgemäldes über der Eingangstür nachgedacht, das beim letzten ockergelben Anstrich sorgsam ausgespart worden war. Es zeigte germanische Krieger, die mit Speeren bewaffnet an einem Fluß standen oder kniend Wasser daraus schöpften. Schließlich war er in die leere Gaststube getreten. Die große Zahl von Fliegen, die in dem Raum schwirrten, war das erste, was ihm aufgefallen war, wohl weil in der Gaststube ansonsten peinliche Sauberkeit herrschte und ein Geruch von Essig in der Luft lag.
Der Wirt schlug mit seiner Fliegenklatsche ein weiteres Mal ansatzlos zu, dann ließ er deren Stiel durch die Finger gleiten. Es war eine langgeübte Bewegung, und sie erinnerte an das geschmeidige Zurückgleiten eines Revolvers in seinen Holster. Vielleicht gab es unter Fliegen so etwas wie ein kollektives, sich vererbendes Bewußtsein. Generation auf Generation fanden sie sich in der Nähe Peter Wischbergs ein, um ihn todesmutig zu ärgern. Die Feindschaft hatte eine zweiunddreißigjährige Geschichte. Mit sechs Jahren hatte Peter seine erste Fliegenklatsche geschenkt bekommen, ein Gerät, von dem er sich von da an nicht mehr trennte. In der Schule brachte es ihm den Spitznamen »Fliegenpeter« und regelmäßige Maulschellen seiner Lehrerin ein. Die inzwischen pensionierte Studienrätin Emma Winkelmann hatte es gehaßt, im Unterricht durch Peters Fliegenklatsche gestört zu werden. Immer wenn der kleine Peter Wischberg während der Schulstunden zuschlug – oft tat er es unbewußt –, hatte sie ihm ebenfalls einen Schlag versetzt. Trotzdem wurde der Wirt unbeschadet aus der Schule ins Leben entlassen. Erst hier gelang es ihm, eine Frau so sehr zu reizen, daß sie ihn zum Krüppel machte. Seitdem nahm er zu.
Peter Wischberg sah den Fremden erwartungsvoll an.
»Und?«
Eben noch hatte der Wirt sich über die Pläne einer Ferienhaussiedlung am Lichter Moor gebeugt, die er mit Wilhelm Weber als Geldgeber seit Jahren bauen wollte, und so erschien es ihm, als sei der Student der Abgesandte einer nachfolgenden Schar von Erholungssuchenden. Die letzten zwei Abende hatte er mit Überlegungen verbracht, wie man den Tourismus in Herzensach ankurbeln könnte – auch ohne Unterstützung der Kreisverwaltung, die auf einem negativen Gutachten beharrte. Die Dorfbewohner hatten ebenfalls Vorbehalte und fürchteten um die Sicherheit ihres Ortes. Obwohl er mit seinen Plänen nicht vorankam, hing in den Gedanken des Wirtes aber das Werbeplakat bereits in den Reisebüros der ganzen Welt. Vielleicht sollte man dafür ein Bild Heidelinde Wulfs verwenden? (Nein, die würde nicht einwilligen. Reklame!) Dann eben doch ein Foto. Eine Luftaufnahme, die genau erkennen ließ, wie idyllisch das Dorf in die Windung der Herzensach, in Wald und Moor eingebettet war.
Der Wirt landete wieder, und die Enttäuschung stand ihm im Gesicht geschrieben, als er erfuhr, daß ein simpler Autounfall, ein Zufall, den Fremden nach Herzensach gebracht hatte. Doch er gedachte den Besuch auf andere Weise zu nutzen.
»Sagen Sie.« Er quetschte seinen Bauch, indem er sich vertraulich über den Tresen beugte, und ging nicht auf das Hilfeersuchen des Fremden ein. »Als Sie das Ortsschild sahen, wie haben Sie den Namen ausgesprochen?«
Jakob Finn runzelte die Stirn. Endlich fiel ihm ein, wo er das Gesicht des Wirtes schon einmal gesehen hatte. Es glich mit seiner runden Form, den kurzen, wirren blonden Haaren und dem Ziegenbart der pausbäckigen Sonne draußen auf dem Gemälde über der Eingangstür.
»Es gab kein Ortsschild.«
»Trotzdem«, beharrte der Wirt.
»Herzensach«, sagte Jakob vorsichtig.
»Genau, genau. Herzens-ach!« jubelte der Wirt und erklärte: »Niemand käme auf die Idee, Herzen-sach zu sagen. Diese ganze Untersuchung der Kreisverwaltung ist einen Dreck wert.«
Stolz betrachtete der Wirt den Studenten, bemerkte schließlich dessen Verwirrung und bemühte sich, die zitierte Untersuchung zu erläutern, nicht ohne dabei an passenden Stellen wütend einige Fliegen zu erlegen.
Als Entscheidungshilfe für die politischen Gremien hatte die Verwaltung ein Gutachten in Auftrag gegeben, in dem drei Orte des Kreises auf ihre touristische Tauglichkeit geprüft wurden. Dabei hatte Herzensach am schlechtesten abgeschnitten. In einem Nebensatz war dann auch noch auf die mißverständliche Aussprache des Namens und den möglichen negativen Beiklang hingewiesen worden. Die meisten Herzensacher kümmerte das wenig. Der Wirt vermutete aber, daß damit nur seine Pläne torpediert werden sollten.
Jakob Finn bereitete es Mühe, sich auf den Vortrag zu konzentrieren. Einerseits ging ihm die vorhin erlebte Szene auf dem Bauernhof nicht mehr aus dem Sinn, andererseits wurde es allmählich Abend, und ein Abschleppunternehmen war noch nicht beauftragt. Der Student begann sich deutlich für die Farbe der Decke zu interessieren.
Der Wirt – gerade bei der Behauptung, daß man sich einen Sport daraus mache, Wegweiser nach Herzensach zu entfernen, um ausschließlich sein Geschäft zu schädigen – bremste seine Wut.
»Sicher, sicher, Sie wollen telefonieren. In Weinstein gibt es ein Abschleppunternehmen.« Er legte die Fliegenklatsche aus der Hand, griff unter die Theke und brachte ein Telefonbuch hervor. »Ich suche es Ihnen heraus.«
Während er mit einer Hand blätterte, schob er ihm mit der anderen den Telefonapparat zu. Dann wies er mit dem von Tinte, Obstsaft oder Stempelfarbe blauen Daumen auf eine Nummer.
Jakob wählte und bekam eine Verbindung, doch die Frauenstimme am anderen Ende ließ ihn gar nicht ausreden, sondern stellte zu einem anderen Apparat durch. Während er wartete, betrachtete er die Gaststube, ein Imitat bäuerlicher Gemütlichkeit, deren Möbel zum größten Teil aus gepreßtem Plastik bestanden. Die Einrichtung war wahrscheinlich vor noch nicht allzu langer Zeit erneuert worden. Hinter der langen, polierten Messingplatte des Tresens erhob sich als Prunkstück ein gläserner Schrank voller bunter Flaschen, über dem sich ein Messingrundbogen wölbte mit der gestanzten Inschrift: »Herzensacher Liköre – ein Begriff«. Jakob war dieser Name noch nie begegnet. Der Schrank ließ allerdings auf Heerscharen genüßlicher Likörtrinker schließen.
Ein Knacken im Hörer kündigte die Verbindung an, um gleich darauf in das Lachen eines Mannes überzugehen.
»Sie hatten einen Unfall? Was Sie nicht sagen!«
»Mein Wagen steht kurz vor Herzensach auf der Landstraße. Ich brauche einen Abschleppwagen.«
Der Mann lachte wieder. »Einen Abschleppwagen braucht er!« Er schien mit jemand anderem zu sprechen.
»Hören Sie, das ist kein Witz.«
»Sie werden lachen, es ist einer. Was meinen Sie, womit wir beschäftigt sind? Auf der Autobahn hat es einen Auffahrunfall mit rund sechzig Pkws gegeben und nebenbei einigen Toten. Wir sind die nächsten fünf oder sechs – was sage ich: acht Stunden damit beschäftigt, dort aufzuräumen. Und hören Sie, Sie brauchen gar kein anderes Unternehmen anzurufen. Die sind alle dort im Einsatz.«
Jakob versuchte herauszufinden, ab wann ihm geholfen werden könnte, doch der Mann wollte sich nicht festlegen.
Der Student unterbrach kurz das Gespräch.
»Kann ich hier übernachten?« fragte er den Wirt, und dieser nickte. Er nannte dem Abschleppunternehmen die Adresse des Gasthofs und legte auf.
Der Wirt zog sich am Treppengeländer mit beiden Händen in den ersten Stock hinauf. Zweimal jedoch mußte er mit einer Hand unter den Oberschenkel seines lahmen Beins fassen, um es auf die nächste Stufe zu befördern. Keines der sechs Fremdenzimmer im oberen Stock war belegt, und Jakob wählte eines der größeren aus. Der Einbau von Dusche und WC hatte im Eingangsbereich zwar einen schmalen Flur entstehen lassen, doch danach öffnete sich ein weiter, heller Raum zur Straße. Ausgestattet mit einem breiten Doppelbett, zwei Polstersesseln vor einem kleinen Couchtisch und einem in der Fensternische untergebrachten schmalen Schreibtisch. Lautstark stritten sich Muster und Farben der Polster und des Teppichs, doch wenigstens die Tapete versuchte mit einem warmen Ockerton für Ruhe zu sorgen. In den anderen Zimmern zogen dagegen auch die Wände mit weiteren Mustern in den Kampf um die Vorherrschaft.
Der Wirt versprach, jemand zu finden, der den Studenten zu seinem Wagen fahren würde, um seinen Koffer zu holen, und ließ ihn allein.
Jakob Finn schloß die Tür, öffnete das Fenster und legte sich auf das Bett. Die Geräusche des Dorfes drangen herein: Ein Hahn krähte, in einem Schweinestall herrschte quiekende Aufregung, das Geläut einer Herde, zwitschernde Vögel, und etwas weiter weg, aber doch deutlich, war das Klappern von Pferdehufen zu hören. Es war so perfekt, daß es aus den Lautsprechern eines Plattenspielers hätte kommen können. Nur die Biene, die sich in das Zimmer verflog, war augenscheinlich echt. Sie fand aber schnell in die Freiheit zurück. Das friedliche Bild eines weltabgewandten, verträumten Dorfes.
Warum war er nicht gleich zum Gasthof gegangen? Er versuchte sich das Ereignis auf dem Bauernhof in Erinnerung zu rufen. Es erschien ihm jetzt wie eine Szene aus einem dieser lächerlichen drittklassigen Pornofilme, die vorzugsweise auf dem Lande spielen.
Von der Dorfstraße hatte ein kurzer Sandweg zu dem Bauernhof geführt. Rechts und links zwei Stallgebäude, teilweise aus Holz, eines davon schief. Am Ende des Weges das Wohnhaus mit moosigem Reetdach und verzogenem Fachwerk. Davor ein aufgerissener lehmiger Platz mit tiefen Radspuren, in denen Wasser stand. Jakob war über die Pfützen bis vor die Tür des Wohnhauses gesprungen, als ihn ein Geräusch herumfahren ließ.
Die Szene hatte sich in Sekundenbruchteilen abgespielt. Und er fragte sich jetzt, ob alles vielleicht eine Art Traum, eine Halluzination gewesen war, zurückzuführen auf eine Fehlschaltung seiner durch den Unfall und die Erinnerung an den Flugzeugabsturz überreizten Nerven. Ein Psychologe hätte ihm sicher erklären können, warum es in seinem speziellen Fall früher oder später zu solchen Trugbildern hatte kommen müssen. Es konnte nicht Wirklichkeit sein, wenn eine Frau aus einer Scheune lief, nackt, schreiend (oder hatte sie gelacht?), mit angstvollen Augen und einem abgerissenen Strick um den Hals, als hätte man sie gerade hängen wollen. Es konnte nicht Wirklichkeit sein, daß ihr ein, Reitstiefel und lederne Schürze ausgenommen, ebenso nackter Mann folgte, der eine Peitsche schwang und ihm, dem ahnungslosen Fremden, einen Blick voll Blutdurst und Mordgedanken entgegenschickte.
Es konnte nicht Wirklichkeit gewesen sein.
Der Student sprang vom Bett auf, ging zum Fenster, atmete tief ein und beugte sich hinaus. Vor dem Haus stand ein Mann in der Kleidung eines Försters und lächelte zu ihm herauf.